Ist es eine Frage der Toleranz, ob Lehrerinnen oder Richterinnen muslimischen Glaubens ein Kopftuch tragen können? Sind wir intolerant, wenn wir dies gesetzlich untersagen? Ist es eine Frage der Toleranz, ob wir beleidigende E-Mails in den sozialen Netzwerken akzeptieren? Sind wir intolerant, wenn wir dagegen rechtlich vorgehen oder entsprechende Gesetze verschärfen? Ist es eine Frage der Toleranz, die Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare gesetzlich zuzulassen? Ist es intolerant, dies nicht zu tun?
Diese und ähnliche Fragestellungen begegnen uns in einer ethnisch, religiös und weltanschaulich pluralistischer werdenden Gesellschaft. Diese Pluralität hat vor allem durch die Zunahme muslimischer Bürgerinnen und Bürger sowie durch die Flüchtlingsbewegung eine besondere Dynamik erhalten. Einen ersten Hinweis auf das, was mit „Toleranz“ gemeint sein könnte, finden wir im Neuen Testament im Paulus-Brief an die Kolosser (Kol 3,13): „Und ertrage einer den anderen und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den anderen“. Es folgten Toleranzedikte der römischen Kaiser, die sich vor allem auf die Anerkennung des Christentums bezogen. Im Reformationszeitalter kam es 1555 im Augsburger Religionsfrieden und 1648 im Westfälischen Frieden zur Anerkennung der Evangelischen Kirche. Gemeint war aber nicht Toleranz im Sinne eines Akzeptierens, also eines Einverstandenseins oder gar wertenden Anerkennens, sondern allenfalls im Sinne eines Erduldens. Es war ein Akt der kollektiven Erschöpfung am Ende eines langen Krieges.
Die Mitte des 17. Jahrhunderts einsetzende Aufklärung hat den Begriff der Toleranz zu einem festen Bestandteil des zunehmend säkularisierten Wertesystems gemacht. Eines ihrer Plädoyers bezog sich auf religiöse Toleranz. Gemeint war aber kein kirchenpolitisches Zugeständnis, sondern das Primat der Entpolitisierung. Religion sollte Privatangelegenheit sein. Der Staat, die Gesellschaft und der Nachbar sollten sich aus Glaubensfragen heraushalten und akzeptieren, dass der Einzelne eine andere religiöse Auffassung hat als man selbst oder gar die Mehrheit der Bevölkerung.
Jetzt erstmals markierte Toleranz den Freiheitsraum des Einzelnen. Voltaire bezeichnete die in Fanatismus und Aberglaube zum Ausdruck kommende Intoleranz als Absurdität. Mit Nathan der Weise schrieb Gotthold Ephraim Lessing einen zeitlosen „Bestseller“ zum Thema Toleranz. Schließlich bekannte sich die Katholische Kirche 1965 im Zweiten Vatikanischen Konzil mit der Erklärung Dignitatis Humanae zur Religionsfreiheit und setzte damit einen Schlusspunkt unter eine jahrhundertelange Auseinandersetzung um die mit Machtansprüchen verbundenen Glaubenswahrheiten.
Zum Toleranzbegriff
Toleranz besagt im Kern, etwas zuzulassen, obwohl man es eigentlich ablehnt. Toleranz heißt nicht, etwas zu akzeptieren oder sogar anzuerkennen. Diese Ausweitung des Toleranzbegriffs macht ihn als Maßstab für die Bewertung einer Haltung oder einer bestimmten Vorgehensweise untauglich. Wer etwas duldet, hat eigentlich eine andere Auffassung. Tolerieren setzt also voraus, dass man eine Überzeugung hat, also Wertvorstellungen, die man für richtig hält. Wer darauf verzichtet und alles in das Belieben stellt, muss seine Toleranz nicht bemühen. Es genügt, wenn er nach Eberhard Schockenhoff den „Status der empirischen Klugheitsregel“ bedenkt, also danach fragt, was wohl die klügste Lösung wäre, um eigene Interessen bestmöglich zu wahren (Permissivität).
Toleranz ist demnach das Ergebnis eines Abwägens von Kriterien, die sich nicht aus dem Toleranzbegriff selbst ergeben. So geht es bei der Kopftuchproblematik um die Abwägung des Rechts auf positive Religionsfreiheit, entsprechend religiös motivierten Traditionen, ein Kopftuch zu tragen, gegenüber dem Recht von Schülerinnen und Schülern sowie Prozessbeteiligten auf negative Religionsfreiheit, das heißt, nicht mit anderen religiösen Auffassungen konfrontiert zu werden.
Die amerikanische Philosophin Susan Neiman zweifelt daran, ob Toleranz überhaupt ein Wert sei oder nicht eher ein Mittel, um mit verschiedenen Werten umzugehen. Die Schwierigkeit dieses Verständnisses liegt zweifellos darin, dass ihre Definition und deren Tauglichkeit als Wertmaßstab nicht nur von ihr selbst, sondern wesentlich von der Rechtsgüterabwägung abhängen. Sollen wir, können wir dies dulden oder nicht? Was spricht dafür, was spricht dagegen? Kaum etwas wird um der Toleranz willen toleriert. Andererseits ist die gelebte und normierte Toleranz Ausdruck des Freiheitsund Gerechtigkeitsverständnisses. Insoweit kommt dem Begriff eine zentrale Bedeutung für die Identitätsbestimmung einer Gesellschaft zu.
Toleranz als Tugend
Dabei stellt sich die Frage, wie sich die Grenzen der Toleranz zum Begriff der Intoleranz verhalten. So können zum Beispiel die Grenzen der Toleranz für einen Lehrer erreicht sein, der von einem Schüler beleidigt wird und deshalb schulrechtliche Disziplinarmaßnahmen ergreift. Dies ist aber kein Zeichen von Intoleranz. Dementsprechend zeigt das Beispiel des Kopftuchverbots, dass die gesetzliche Untersagung kein Zeichen der Intoleranz, sondern das Ergebnis eines intensiven Abwägungsprozesses rechtsstaatlich normierter Werte ist.
Neben der kulturgeschichtlichen und politischen Bedeutung hat Toleranz vor allem eine die Persönlichkeit des Einzelnen betreffende moralische und in Bezug auf seine Verhaltensweisen ethische Bedeutung. Toleranz ist eine Tugend! Nach dem Ethikverständnis von Max Weber gilt Toleranz als Tugend, die gesinnungsethisch stets als positiv zu bewerten ist („gut gemeint“). Verantwortungsethisch begründet ist sie aber nur dann, wenn das aus dem Motiv der Toleranz erwachsende Verhalten zu einer Verbesserung des Zustands oder der Verhältnisse führt („gut gemacht“). Nach Max Weber sollen sich Gesinnungs- und Verantwortungsethik die Balance halten. Bezogen auf die aktuelle Flüchtlingsthematik schließt sich hier der Kreis der zunächst propagierten Willkommenskultur bis hin zu der mehrfach von der Bundeskanzlerin wiederholten Verantwortungsethik reklamierenden Feststellung „Wir schaffen das.“ Die aktuellen terroristischen Übergriffe verlangen vor allem Verantwortung für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit.
Moralische und ethische Überzeugungen der Gesellschaft eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats entsprechen in der Regel den geltenden Gesetzen zugrunde liegenden Wertvorstellungen. Sie beeinflussen sich gegenseitig, wobei die Gesetzgebung in einer Demokratie häufig die Veränderungen bei den Wertvorstellungen der Gesellschaft erst nachzeichnet.
Toleranz im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat
Toleranz als Wert und Prinzip einer Demokratie kommt vor allem in der Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen zum Ausdruck. Nur so wird sichergestellt, dass die Herrschaft vom Volk, abgeleitet davon vom Gesetzgeber und vom Gesetz, das er verabschiedet, ausgeht.
Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat, wie wir ihn in Deutschland seit knapp siebzig Jahren kennen und leben, macht sich an mehreren Grundrechten fest, denen das Toleranzprinzip zugrunde liegt: der Unantastbarkeit der Menschenwürde sowie dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, dem Gleichheitsprinzip, der Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie der Meinungs- und Pressefreiheit. Die Diskriminierung von Frauen, Ausländern, Juden oder Moslems verstößt gegen die Rechtsordnung und stellt deshalb keine Frage der Toleranz dar. Nach Jürgen Habermas beginnt die Toleranz jenseits der Rechtsordnung. Er verkennt, dass dies zwar auf den normierten Wertekanon zutrifft, häufig aber nicht auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat verlangt zwar die selbstverpflichtende Toleranz, er lebt aber von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.
Das im Freiheitsund Gerechtigkeitsgedanken zum Ausdruck kommende Toleranzprinzip setzt also voraus, dass es der ethischen Überzeugung unserer Gesellschaft entspricht und wir bereit sind, eben diese Werte gegen Angriffe von innen und außen zu verteidigen. In der Demokratie wird aus der Tugend der Toleranz eine Rechtspflicht. Toleranz gegen Intoleranz oder gegen Gewalt gibt es nicht.
Pluralismus ist ein Gewinn. Pluralistische Gesellschaften sind widerstandsfähiger, innovativer, kreativer und können sich Veränderungen leichter anpassen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Toleranzverständnis gilt es, sich die Werte bewusst zu machen, die der geltenden Rechtsordnung zugrunde liegen und die die gesellschaftliche Wirklichkeit prägen.
Um eine Frage der Rechtsgüterabwägung ging es 2013 bei der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, als es in einem Grundsatzurteil ablehnte, dass muslimische Schülerinnen vom Schwimmunterricht befreit werden können. Das Gericht schätzte den Bildungsauftrag insoweit für bedeutsamer ein als die Glaubensfreiheit der Schülerinnen. Das abweichende Verhalten, nämlich aus religiösen Gründen am Schwimmunterricht nicht teilnehmen zu wollen, wird nicht toleriert.
Das Urteil zeigt, dass die kulturelle Identität in Deutschland vor allem durch das Grundgesetz und die darin enthaltenen Wertvorstellungen von Persönlichkeitsrechten geprägt ist. Die zunehmende Pluralität unserer Gesellschaft, insbesondere auch durch islamischen Einfluss, führt dazu, dass wir uns mit dem eigenen Wertesystem intensiver auseinandersetzen müssen. Jeweils ist die Frage zu beantworten, ob die Menschenwürde verletzt wird und ob Freiheitsrechte, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Minderheitenschutz oder Meinungsfreiheit betroffen sein könnten und welches Rechtsgut höher zu bewerten ist. Bei vielen Fragestellungen geht es vor allem um das Toleranzprinzip der gegenseitigen Anerkennung. Wie erwähnt, ist an das von Paulus an die Kolosser gerichtete Postulat zu denken: „Und ertrage einer den anderen und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den anderen“, beziehungsweise sollte die „Goldene Regel“ der praktischen Ethik der Ausgangspunkt sein: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Dieses Prinzip der wechselseitigen Anerkennung von Freiheitsund Gleichheitsrechten macht die Tugend der Toleranz in einer Demokratie zur Rechtspflicht.
Toleranz in einer pluralistischen Gesellschaft
Die Beschäftigung mit Toleranz ist ein Spiegel, den sich jeder Einzelne, aber auch die Gesellschaft vorhalten kann und soll. In diesem Spiegel erkennen wir, dass sich unser Toleranzverständnis im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen weiterentwickelt hat, so zum Beispiel bei Fragen der Schwangerschaftsabtreibung, der Sterbehilfe oder der künstlichen Befruchtung. Den größten Einfluss auf die Auseinandersetzung mit dem veränderten Toleranzverständnis hat aber die Veränderung der Bevölkerungsstruktur. So beschreibt der Begriff „Toleranzbereich“ im naturwissenschaftlichen Zusammenhang die Schwankungsbreite, die eingehalten werden muss, um die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems zu gewährleisten. So gelte es, jeweils neu zu definieren, was die Identität der eigenen Gesellschaft ausmache. Die Identität, das heißt der Rahmen, der durch unsere Werte, Ordnung und das Recht gesetzt ist, bestimmt den Toleranzbereich.
Die Kernfrage, die sich deshalb stellt, ist: Was macht die kulturelle Identität unserer Gesellschaft aus? Diese Frage wird zum Beispiel bei der religiös motivierten Bekleidung von Frauen thematisiert. So halten wir das Tragen eines Kopftuchs aufgrund des Rechts auf negative Religionsfreiheit bei Lehrerinnen und Richterinnen für unzulässig, akzeptieren es aber – im Gegensatz zu Frankreich – als Ausdruck der positiven Religionsfreiheit bei Schülerinnen in einer staatlichen Schule. 2014 bestätigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das in Frankreich bestehende gesetzliche Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit. In welchem Umfang die deutsche Rechtsordnung eine Vollverschleierung in der Öffentlichkeit untersagt, ist weder höchstrichterlich noch innerhalb der Gesellschaft entschieden. Auch hier geht es um unser Toleranzverständnis bei der Abwägung des Rechts auf Glaubensfreiheit auf der einen Seite und des Rechts auf der anderen Seite, nicht mit anderen religiösen Auffassungen konfrontiert zu werden. Es handelt sich aber auch um ein Problem der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie um die Frage, in welchem Umfang religiöse Bekenntnisse in der Öffentlichkeit akzeptiert werden und wo die Grenze zwischen Religion und Staat liegen sollte.
Der Toleranzbegriff eignet sich in besonderem Maße, sich friedlich mit den Herausforderungen einer pluralistischen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Die Toleranz ist der Gegenentwurf zur Pauschalisierung und zu einfachen Antworten, dem Markenzeichen des Populismus.
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Gisela Meister-Scheufelen,geboren 1956 in Stuttgart, Staatssekretärin a. D., ehemalige Kanzlerin der Dualen Hochschule Baden-Württemberg.
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