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Eloge eines Schweizer Bewunderers

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Ich bin in den 1970er-Jahren auf der Schweizer Seite des Bodensees aufgewachsen. Schon als Junge fieberte ich mit der deutschen Fußballnationalelf mit, eine für die damalige Zeit ungewöhnliche, ja zweifelhafte Wahl. Der große Nachbar war, ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg, noch immer eher gefürchtet als beliebt.

Für die gloriosen Beckenbauer-Jahre zwischen 1970 und 1976 war ich zu jung, aber pünktlich zur WM 1978 in Argentinien wurde ich ein unbedingter Anhänger der deutschen „Elf“. Es folgten an Titeln recht erfolgreiche, fußballerisch gesehen aber dürftige Jahre und Jahrzehnte. Mein Held war Paul Breitner, der Revoluzzer und geniale Antreiber im Mittelfeld. Aber die Wahrheit des deutschen Spiels jener Zeit hieß eher Jupp Derwall, Hans-Peter Briegel, Manfred Kaltz, Horst Hrubesch oder Felix Magath. Grimmige, von Ehrgeiz verzerrte Gesichter, stämmige Ungeheuer – Krieger wie aus dem Ring des Nibelungen.

Für sie wurde das Wort „Rumpelfußball“ erfunden, und niemand konnte ihnen darin das Wasser reichen. Die Deutschen wurschtelten sich durch die Turniere, am Ende lag der Ball irgendwie im Tor. 1:0 war ja auch ein Sieg. Brasilianer mochten für ihre Spiellust bewundert und geliebt werden, Holländer für ihre weltgewandte, fröhliche Kreativität, die Franzosen für ihr artistisches Flair, die Italiener für ihre bessere Art, zu leben (wenn schon nicht für das bessere Fußballspiel). Die Deutschen hingegen beeindruckten nur durch ihre preußischen Sekundärtugenden: Kampfkraft, Fleiß, eiserner Wille, Disziplin, unbedingter Glaube an den Sieg. Im Ausland nannte man sie Panzer. Es war nicht nett gemeint.

Ende der preußischen Tugenden

Ich blieb ihr Fan, trotz allem. Die Siege bescherten mir Freude, wenn auch das Spiel meist schwer zu wünschen übrig ließ. Als sich in den 1990er-Jahren, nach jahrzehntelanger Abwesenheit, die Schweizer Fußballer wieder einmal für große Turniere qualifizierten, war ich emotional nicht mehr auf Gedeih und Verderb von den Deutschen abhängig. Anfang der 1990er-Jahre studierte ich zudem in Paris, verliebte mich in Les Bleus und machte sie – fanmäßig – zu meiner Mätresse. Das traf sich gut, denn die Elf von Zinédine Zidane prägte die Jahre um das Millennium mit gleichermaßen hinreißendem wie trophäenreichem Spiel.

So überbrückte ich die letzten Jahre, während derer die deutsche Nationalelf noch dem Bild entsprach, das die Welt von Deutschland hatte. Die Wende kam mit einem blonden Sonnyboy, in einem Sommermärchen. Jürgen Klinsmann schoss ab 2004 den deutschen Fußball mit Verve in die Zukunft. Die Weltmeisterschaft im eigenen Land, in vier vom Sommer verwöhnten Wochen des Jahrs 2006, geriet zum Rausch. Die deutsche Elf gewann zwar nicht den Titel (den holten die abgezockten Italiener), aber sie war mit ihrem zuversichtlichen, offensiven, spektakulären Spiel als Dritte die Entdeckung des Turniers. Auf einmal strahlten deutsche Fußballer Freude aus statt Ehrgeiz, waren fröhlich statt verkrampft, verspielt statt zynisch.

Wie aus dem Nichts avancierte die deutsche Elf zum Champion der Herzen, weit über den Kreis ihrer deutschen Anhänger hinaus. Auch in Schweizer Kneipen tauchten von da an immer häufiger Fans mit deutschen Trikots auf: auffallend oft junge Frauen, die Schweinsteiger, Podolski oder Boateng hip und sexy fanden.

Feiern, als ob es kein Morgen gäbe

Noch wunderlicher als jene sommerliche Metamorphose des deutschen Fußballs war, dass diese auch die deutschen Gastgeber wie durch Zauberkraft verwandelte. Verblüfft konstatierte die Welt, dass Deutschland sich kollektiv entkrampfte. Auf einmal begeisterte auf Rängen und Straßen nicht mehr nur die Leidenschaft der Iren und Niederländer, sondern auch die der Deutschen, die unversehens feierten, als ob es kein Morgen gäbe. In dem Land, in dem Patriotismus jahrzehntelang verfemt oder zum abstrakten Verfassungsbewusstsein gefroren gewesen war, brach sich auf einmal unverkrampfter Nationalstolz Bahn. Hymnen wurden gesungen, schwarz-rot-goldene Fahnen geschwenkt, so unschuldig wie selbstverständlich. Die Welt rieb sich die Augen – und freute sich mit. Der Fußball erwies, dass Deutschland aus der wirtschaftlichen und mentalen Depression, in der Helmut Kohls Ära geendet hatte, herausgefunden hatte. Es erfreute sich einer neuen Stärke, die nicht durch Wille und Disziplin, sondern durch Leichtigkeit und Entspanntheit bestach.

Dieser Moment hätte folgenlos verglühen können – stattdessen bildete er den Beginn einer Ära. Dafür sorgte nicht Klinsmann, sondern sein einstiger Assistent Joachim Löw, der diesen nach dem Sommermärchen als Trainer ablöste. Nie spielte die deutsche Elf erfolgreicher als unter ihm, fünfmal hintereinander erreichte sie bei Welt- oder Europameisterschaften wenigstens das Halbfinale. Im Unterschied zu den meisten seiner Vorgänger begeisterte die Elf nun jedoch nicht nur mit Resultaten, sondern mit modernem, einfallsreichem, mutigem Stil. Hatte sie früher aus keiner Chance ein Tor erzielt, kreierte sie nun so viele Chancen, dass es nicht weiter ins Gewicht fiel, wenn nicht jeder Schuss im Tor landete. Selbst gelegentliche Niederlagen, etwa gegen die mirakulöse Generation der Spanier, fühlten sich weniger schmerzhaft und enttäuschend an als früher. Denn wie hatten uns „Jogis Jungs“ doch unterhalten!

Der Weltmeistertitel von 2014 vollzog in diesem Sinne nicht nur die Apotheose einer begabten Generation, sondern die eines Stils. Im Mutterland der Fußballkunst, Brasilien, siegte das modernste und zugleich brasilianischste Team seiner Zeit: Deutschland 7:1 gegen Brasilien, so hieß das Wunder im Halbfinale, 1:0 gegen Lionel Messis Argentinien im Finale. Mit dem Titel war auch das historische Versäumnis behoben, dass das schönste Spiel nicht zugleich das erfolgreichste gewesen war.

Im Unterschied zu den meisten großen Mannschaften steht bei den Deutschen nicht ein Star im Zentrum, sondern das Team. Müsste ich gleichwohl eine Person herausheben, wäre es kein Spieler, sondern der Trainer.

Fluidum von Eleganz und Raffinesse

Stellt man Joachim Löw in die Reihe der deutschen Nationaltrainer, wirkt er wie das blanke Gegenteil von Helmut Schön, Berti Vogts oder Rudi Völler. Statt in ausgebeultem Trainingsanzug steht er stets elegant und lässig an der Seitenlinie, in eng geschnittenen Hemden oder Rollkragenpullovern, ein charmanter, intellektueller, moderner Mann mit entschieden metrosexueller Ausstrahlung. Er macht Werbung für Hautcreme, schlürft hingebungsvoll Espresso und geht im Kanzleramt wie selbstverständlich ein und aus. Dieser Mann macht, was ihm Spaß macht, ganz ungeniert. Die Aura, die ihn umgibt, prägt auch seinen Fußball: als Fluidum von Eleganz, Schönheit, Coolness und Raffinesse.

Müsste ich einen von Löws Fußballern nennen, der den Kontrast zu den alten deutschen Tugenden am dramatischsten verkörpert, wäre es Mesut Özil, Kind türkischer Einwanderer aus dem Ruhrpott. Der schüchterne, schmächtige Mittelfeldspieler blickt immer etwas verschlafen, verträumt oder traurig daher und wirkt eher wie ein melancholischer Künstler als ein Sieger. Auf dem Rasen aber schüttelt er die genialen Pässe aus dem Fußgelenk, dass Gegnern und Zuschauern die Kiefer herunterklappen.

Oder Jérôme Boateng, in Berlin aufgewachsener Sohn eines Afrikaners, Innenverteidiger mit dem Körper eines Preisboxers und einem Faible für Mode, Brillen, Ohrschmuck und Design. Er ist nicht nur ein Abwehrbollwerk, sondern eine Stilikone. Als ein Politiker der „Alternative für Deutschland“ pöbelte, einen Schwarzen wie Boateng fänden die Deutschen vielleicht auf dem Fußballfeld okay, als Nachbarn aber eher weniger, solidarisierte sich über Nacht fast das ganze Land mit ihm.

Der Star ist die Mannschaft

Stilbildend sind auch die Bayern-Profis Philipp Lahm, Manuel Neuer und Thomas Müller: Lahm als langjähriger Kapitän, dessen Spielintelligenz selbst Trainergenie Pep Guardiola verblüffte. Müller als unergründlicher Raumdeuter im Sturm, der nach dem Spiel als fröhlicher Fußballphilosoph amüsiert. Neuer als geschmeidiger Riese im Tor, der zur Not auch Libero kann, wenn ihn seine stürmenden Hinterleute im Stich lassen. Schließlich Toni Kroos: ein herausragend präzises fußballerisches Uhrwerk, das Spiele strukturiert wie kaum ein anderes.

Andere Namen ließen sich nennen, aber die Aufzählung verfehlte, wie gesagt, den Kern: Der wahre Star ist „La Mannschaft“, wie sich die Elf vor der Europameisterschaft 2016 in Frankreich gleich selbst titulierte. Das deutsche Kollektiv ist unter Löw erheblich leistungsfähiger als die Summe seiner Teile, das Ensemble nicht nur eine Tatsache, sondern eine Philosophie: Teamwork ohne Eifersüchteleien, Konsens ohne Einheitsdenken, Fairplay ohne Aufhebens, Selbstbewusstsein ohne Überheblichkeit, Zuversicht ohne Naivität, lauten ihre Tugenden. Einwanderersöhne spielen in dieser Elf als Gelsenkirchener und Berliner ganz selbstverständlich neben Stuttgartern und Greifswaldern, sie ergänzen deren Instinkte und Talente.

Die deutsche Nationalelf wurde in der Ära von Angela Merkel, die vielleicht nicht ganz zufällig mit jener von Joachim Löw zusammenfällt, zum Symbol eines Deutschland, das zu einer selbstbewussten, aber entspannten Macht gereift ist. Seine Kraft liegt in der Mitte, dem Gemeinsinn und dem Maß, zugleich brilliert es mit Beweglichkeit, Kreativität und weltoffener Neugier. Während Deutschlands Volkswirtschaft zum Exportweltmeister aufstieg, wurde sein Fußball selbst zu einem imageträchtigen Ausfuhrschlager. „La Mannschaft“ hat dabei und en passant auch die Vorstellung verwandelt, was überhaupt als deutsch gelten kann. Die Metamorphose ist noch nicht beendet.

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Dominique Eigenmann, geboren 1967 in Sankt Gallen (Schweiz), Deutschland-Korrespondent des Zürcher „Tages-Anzeiger“ in Berlin.

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