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Zum 70. Jahrestag der Gründung des Staates Israel

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Nach dem jüdischen Kalender fällt der Unabhängigkeitstag Israels dieses Jahr auf den 19. April. Der Staat feiert dann seinen 70. Geburtstag. Das eigens dafür geschaffene Logo soll „Ewigkeit, kombiniert mit Innovation und Fortschritt“ symbolisieren. Das Wort „Israel“ erscheint dabei im Schreibstil der Gelehrten, wie es in der Torah auf Pergament geschrieben worden ist – als Ausdruck des unzerbrechlichen Bandes zwischen dem modernen Staat Israel und den antiken Quellen. „Mehr als in irgendeiner anderen Gesellschaft der Welt gibt es in der israelischen Gesellschaft eine tiefe Mischung zwischen Alt und Neu, zwischen Religion und Moderne, zwischen Geist und Substanz, und vielleicht ist das gerade das Geheimnis unserer Kraft“, mutmaßte Kulturministerin Miri Regev, als sie die Feierlichkeiten ankündigte. Man habe starke nationale, historische und traditionelle Qualitäten, die es dem Land erlaubten, seine Identität, Einheit und Sicherheit aufrechtzuerhalten. Entsprechend blicke man kreativ und mit unkonventionellen Denkansätzen in die Zukunft, sei es in Forschung, Medizin oder Landwirtschaft, und leiste damit einen lebenswichtigen Beitrag für die ganze Menschheit.

Die siebzig geplanten Stunden der Festlichkeiten würden alle Bürger des Landes mit einschließen, betonte Regev.

Dabei handelt es sich um eine bunte Palette, geprägt von multiplen Bruchlinien. Weltliche Juden – die immer noch die große Mehrheit stellen – führen ein anderes Leben als Strenggläubige. In Jerusalem herrscht eine andere Atmosphäre als in der Mittelmeermetropole Tel Aviv oder einer der ärmeren abgelegenen Entwicklungsstädte oder in einem muslimischen Dorf in Galiläa. Es gibt auch Gräben zwischen Linken und Rechten, zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen.

Tipp

Jerusalem vereint Widersprüche: Touristenmagnet, Wiege der drei großen Weltreligionen und geteilt in Ost und West, arm und reich, Staatsbürger und geduldete Menschen. Ein Web-Spezial von Stipendiaten der Journalisten-Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der Staatsgründung Israels, mit sechs starken persönlichen Alltagsgeschichten: projekte.jonamag.de/jerusalem.

Unterschiedlich „tickende“ Einwanderer

Als Einwanderungsland für Juden aus aller Welt war Israel von Anbeginn herausgefordert, verschiedene Gruppen aufzunehmen und zu integrieren. Seit dem 14. Mai 1948, dem Tag der Unabhängigkeit, hat die hiesige Bevölkerung zugenommen wie kaum eine andere auf der Welt. Damals zählte man rund 800.000 Einwohner, Ende 1968 waren es bereits 2.841.000. Im Jahr 2018 werden es knapp neun Millionen sein. Der Schmelztiegel aber hat in Wirklichkeit nie existiert. Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion ticken anders als solche aus Marokko, Kanada oder Argentinien. Hinzu kommen die arabischen Staatsbürger Israels und neuerdings auch Arbeitsmigranten aus Asien und Flüchtlinge aus Afrika. Es scheint angebrachter, von einer Mosaikgesellschaft zu reden, deren soziale Kohäsion permanent herausgefordert wird.

Spannungen gibt es heute verstärkt auch zwischen liberalen Israelis, die sich für einen demokratischeren Staat einsetzen, und jenen, die sich mit den jüngsten, in eine andere Richtung weisenden Entwicklungen zufriedengeben. Es gibt letztlich keinen Konsens darüber, was Zionismus bedeutet oder in seinem Namen erlaubt oder erforderlich wäre; dieser Streit dauert bis heute an. Nirgendwo sonst mag es so viele Staatsbürger geben, die sich permanent über die Verhältnisse in ihrem Land aufregen und engagiert darüber streiten, wie die Dinge anders laufen könnten oder sollten. Wie weit die Meinungen dabei auseinandergehen können, signalisiert der hohe Grad an Involviertheit und letztlich Zugehörigkeit zu einem nationalen Projekt, das immer noch ein Unterfangen „in der Mache“ ist, ein ongoing project, dessen langfristige Existenz nicht gesichert scheint.

Auch – oder besonders – an diesem Unabhängigkeitstag werden vor allem die älteren Generationen abends vor dem Fernsehbildschirm sitzen und gerührt sein angesichts dieses staatlichen Wunders und seiner Errungenschaften – anders als die Jungen. Diese Symbolik ist bei ihnen nicht mehr mit Emotionalität verbunden. Für sie ist das eigene Land längst eine Selbstverständlichkeit. Nicht wenige dieser Jungen sind integraler Bestandteil der globalisierten Welt; neben intensiver Smartphone-Nutzung gehören inzwischen auch Low-Cost-Flüge nach Europa dazu. Letztere schaffen heute eine engere Anbindung an den „alten Kontinent“, einen Sehnsuchts- und Schreckensort zugleich, der ihre Vorfahren und Familien – bestenfalls – ausgespuckt hat.

Schon Jahrzehnte vor der Shoah hielt der Visionär des Staates, Theodor Herzl, die Normalisierung jüdischer Existenz für unumgänglich. Israel sollte auf Verfolgung und Minderheitendasein in aller Welt eine Antwort sein. Juden sollten als nationales Kollektiv ihr Schicksal endlich selbst in der Hand halten können, Teil einer souveränen Mehrheitsgesellschaft und nicht mehr abhängig von der Gunst oder Missgunst anderer Herrscher sein.

Sicher auch mit Kippa

Tatsächlich regelt in Israel der jüdische Kalender die Feiertage im Jahr, wird Chanukka statt Weihnachten gefeiert. Der Ruhetag ist am Schabbat statt am Sonntag. Die Schulkinder lesen den Tanach in seiner Originalsprache, in Hebräisch, und verstehen die Worte, auch wenn sie in säkularen Elternhäusern aufwachsen. Und wer will, trägt in der Öffentlichkeit eine Kippa, ohne sich fürchten zu müssen. Man könnte das „banales Judentum“ nennen, wie es die Gründerväter Israels im Sinn gehabt haben mögen ‒ in Anspielung auf den Terminus „banaler Nationalismus“, den der Sozialwissenschaftler Michael Billig 1995 geprägt hat. Dieser Begriff bezieht sich auf verbindende Symbole – beispielsweise auf Geldscheine und patriotische Lieder oder auf die Alltagssprache, wenn in den Nachrichten zum Beispiel von „unserem Wetter“, „unserem Premierminister“ oder „unserer Mannschaft“ die Rede ist.

Die Zugehörigkeit zur westlichen Welt bleibt aber ein Grundpfeiler der eigenen Identität. Man vergleicht die Eckdaten des Landes gern mit denen anderer Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der Israel seit 2010 angehört. Kulturell aber sind die Israelis sicherlich „orientalischer“ geworden. Die Rede ist dann oft von Mittelmeerkultur. Sie macht sich besonders bei der Musik und beim Essen bemerkbar. Politisch neigen Israelis mit Wurzeln im Nahen Osten eher dem rechten Spektrum zu, sie gehören zu den Stammwählern der Likud-Partei, die vielen – im Gegensatz zur historisch europäisch geprägten Arbeitspartei – als natürliche Heimat erscheint.

Es brauchte Jahrzehnte, bis die verschiedenen Einwandererkulturen mit ihren Traditionen Platz im nationalen Narrativ bekamen. Erst in den 1990er-Jahren hatte man in Israel damit begonnen, sich den eigenen Familiengeschichten in der Diaspora zuzuwenden, für die bis dahin nur spärlich Platz in der Öffentlichkeit war. Im Rahmen des Unterrichts beschäftigen sich Schüler seither ein gesamtes Jahr lang mit ihrer Herkunft. Sie befragen die Großeltern nach ihren Kindheitserfahrungen – in Bagdad, Tripoli, Warschau oder Belgrad. Fortan gingen immer mehr Israelis auch in Polen auf die Suche nach ihren Wurzeln, entdeckten Berlin als Reiseziel, erlangten aufgrund ihrer Vorfahren einen europäischen Pass.

Die Jeckes

Diese Entwicklung führte dazu, dass sich auch die Einwanderer aus Deutschland beziehungsweise ihre Nachkommen neu ihrer Herkunft zu versichern suchten.2 Dieser Trend ließ die sogenannten „Jeckes“ (aus Deutschland stammende Juden) in einem neuen Licht erscheinen. Waren die ihnen zugeschriebenen überkorrekten „deutschen“ Charaktereigenschaften lange Zeit eher mit negativen Assoziationen behaftet, so nahm diese Haltung Ende der 1990er-Jahre eine Wende. Man wusste auf einmal die Vorteile von Fleiß, Ehrlichkeit und Pünktlichkeit zu schätzen, nahm sich der Lebensläufe der Jeckes und ihrem Wirken an. Es fand eine späte Anerkennung dieses Erbes statt. Das war Teil eines allgemeineren Phänomens, wie Moshe Zimmermann und Yotam Hotam in dem Vorwort des Bandes Zweimal Heimat. Die Jeckes zwischen Mitteleuropa und Nahost notieren. Die Vergangenheit sei die „Vergangenheit der heutigen Gegenwart, in der kollektive Erinnerung und der politisch anmutende, ethnische Partikularismus eine zentrale Rolle spielen“.4 Man lebe in einer Zeit, in der verschiedene Kollektive sich „leidenschaftlich – mit Hilfe von Filmen, Büchern, Aufsätzen und politischen Vereinigungen – für vergangenes Unrecht zu entschädigen“ versuchten.

Über den Beitrag der Jeckes zum Aufbau des Landes und seiner Modernisierung in vielen Bereichen ist seither viel geschrieben worden. Betont wurde ihr Einfluss im Gesundheitswesen, in Handel, Tourismus, im Kulturleben, in ästhetischen Bereichen wie etwa der Werbebranche und der Kaffeehauskultur. In ihrem Aufsatz „Was bleibt von den Jeckes?“ schreibt Anja Siegemund, Direktorin der Stiftung Synagoge Berlin: „Steinerne Zeugnisse sind die Bauten im Bauhaus-Stil in Tel Aviv, aber auch die Gebäude, die von berühmten Architekten wie Alexander Baerwald, Erich Mendelsohn, Richard Kauffmann und vielen anderen im ganzen Land errichtet wurden. Jeckische Einwanderer prägten stark Aufbau und Ausgestaltung von Organisationsstrukturen in Justizwesen und Behörden, der Hebräischen Universität und dem Technion sowie in Archiven und Bibliotheken; die Handschrift der Jeckes lässt sich da heute noch ablesen, wenngleich vermischt mit britischen und US-amerikanischen Einflüssen.“

Die Rückbesinnung auf das Wirken und die Lebensläufe der Jeckes wirkt oft wie ein Beweismittel dafür, dass sie – trotz ihres „Deutschseins“ – als Israelis durchaus dazugehörten. Tatsächlich waren viele von ihnen ein Leben lang kulturell und sprachlich ihrem Herkunftsland verbunden geblieben, schauen bis heute Günther Jauchs „Wer wird Millionär?“ im Kabelfernsehen und freuen sich, wenn sie feststellen, dass sie auch in der Ferne mit ihrer guten Allgemeinbildung so manchem deutschen Kandidaten etwas voraus haben. Diese Verbundenheit hat tiefe Wurzeln. Denn das Deutsche war für Juden immer schon von besonderer Bedeutung.6 Die deutsche Sprache und Kultur spielten etwa auch für das Selbstverständnis der Hebräischen Universität in Jerusalem seit ihrer Gründung in den 1920er-Jahren eine wichtige Rolle.7 Dan Diner bezeichnete Deutsch als die jüdische Sprache schlechthin, die erst durch den Holocaust gänzlich in Verruf geraten und im 1948 neu gegründeten Staat Israel zum Tabu

geworden war.

Braut und Bräutigam – ein Missverständnis

Es spielten dann aber gerade die Jeckes bei der Etablierung der israelisch-deutschen Beziehungen eine wichtige Rolle. Sie waren die Pioniere, die nach dem Krieg die Verbindung wieder aufnahmen. Nach 53 Jahren seit Aufnahme der diplomatischen Beziehungen ist ein enges Geflecht zwischen beiden Ländern entstanden, die Bundeskanzlerin gilt als eine gute Freundin und der Schwarzwald als beliebtes Reiseziel für israelische Touristen. Viele israelische Führungskräfte sehen Deutschland heute politisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich und technologisch als zweitwichtigsten Partner nach den USA. Es gibt über einhundert Städte- und Kreispartnerschaften, einen regen Jugendaustausch und Reisebetrieb sowie enge kulturelle und zivilgesellschaftliche Verbindungen. Niemand in Israel hätte diese Entwicklung nach der Staatsgründung 1948 für möglich gehalten, als beschlossen wurde, jedem Deutschen die Einreise und jedem Israeli die Reise nach Deutschland zu verbieten. Bis 1956 stand in jedem israelischen Pass der Vermerk: für alle Länder der Welt „mit Ausnahme Deutschlands“.

Siebzig Jahre nach der Staatsgründung hat man in Israel den Holocaust alles andere als vergessen, er ist ein unzertrennlicher Bestandteil der individuellen Familiengeschichten und prägt die kollektive Identität. Allerdings schlägt sich das heute nicht mehr in einer Ablehnung gegenüber Deutschland nieder, sondern in einer erstaunlichen Offenheit.

Das fördert aber auch idealisierte Vorstellungen zutage, die das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel bisher mit geprägt haben. So verglich ein weiser israelischer Beobachter, im Tel Aviver Biergarten vor seinem Halbliterglas sitzend, dieses Verhältnis mit einer Eheschließung: Die Braut (Israel) heiratet ihren Bräutigam in der Hoffnung, dass er sich ändert – während der Bräutigam (Deutschland) sich wünscht, dass seine Braut immer so bleibt, wie sie ist.

Viele Deutsche wünschen sich, Israel wäre immer noch das von ihnen idealisierte Land der Kibbuzzim und des Horatanzens und sind enttäuscht angesichts all des Wandels. Die Israelis wiederum hoffen auf ein gänzlich verändertes Deutschland und sehen – spätestens seit den letzten Wahlen – nun, dass doch nicht alles so ganz anders ist.

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Gisela Dachs, geboren 1963, aufgewachsen in Weiden (Oberpfalz), Publizistin, Kommunikationswissenschaftlerin und Dozentin am European Forum der Hebräischen Universität Jerusalem.

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