Ist die Türkei mit ihrer fast ausschließlich muslimischen Bevölkerung, islamisch geprägten Gesellschaft und ihren religiös orientierten Machteliten noch ein laizistischer Staat?1 Vielen Beobachtern scheinen Staat und Gesellschaft einer fortdauernden Entsäkularisierung, gar einer Islamisierung ausgesetzt. Wie irreversibel solche Entwicklungstrends sind, lässt sich nicht eindeutig sagen. Nur so viel steht fest: Die seit 2002 allein regierende AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) hat in den letzten Jahren zunehmend islamisch motiviert agiert.
Im Gegensatz zum französischen Laizismus, der das Ergebnis langwieriger religiös-politischer Konflikte ist, nahm die türkische Säkularisierung2 ihren Ausgangspunkt in der Europäisierung ihres Rechtssystems im 19. Jahrhundert. Der durch die Adaption europäischer Gesetze erzeugte Dualismus in der osmanischen Rechtsordnung (säkulares Recht versus Scharia) endete 1930, als alle Schariagesetze durch Zivilgesetze ersetzt wurden.
Der Republikgründung (1923) folgten die Abschaffung des Kalifats und des dualen Unterrichtswesens (tevhid-i tedrisat) 1924 und ein Jahr später das Verbot islamischer Orden. 1928 wurde der Islam als Staatsreligion aus der Verfassung gestrichen, 1931 wurde die Ausbildung von Religionslehrern und 1938 der Religionsunterricht in allen Dorfschulen eingestellt, nachdem 1937 das Laizismusprinzip in der Verfassung verankert worden war. Staatspräsident Mustafa Kemal Atatürk orientierte sich bei seinen radikalen Top-down-Reformen am französischen Laizismus der Dritten Republik, und er zielte darauf, die Religion einer strikten staatlichen Kontrolle zu unterwerfen, sie weitgehend aus der Öffentlichkeit zu verbannen und auf eine private Angelegenheit zu reduzieren.
Ambivalenzen des türkischen Laizismus
Für die vollzogene Trennung zwischen Staat, Recht und Religion kannte die „Islamische Welt“ keinen Präzedenzfall. Prophet Mohammed gründete den ersten arabischen Staat auf der Grundlage des Islam, dem er als geistlicher und weltlicher Machthaber vorstand. Wenngleich die türkische Staatstradition eine Aufteilung in das Reich Gottes und das Reich des Kaisers nicht kannte, wurde kein türkischer Herrschaftsverband, weder das Seldschukische noch das Osmanische Reich, auf einer islamischen Grundlage gegründet. Erst nachträglich begann die Religion, eine Rolle im Herrschaftsgefüge zu spielen. Im Osmanischen Reich gehörte der Scheich ül-Islam als Haupt in der Hierarchie der Religionsgelehrten zugleich der Staatsbürokratie an. Die Unterordnung der Religion gegenüber dem Staat – ein Charakteristikum auch der Republik Türkei3 – führte dazu, dass der Islam hier zu einer Art Weltanschauung weiterentwickelt wurde, die auf der ideologischen Ebene mit den Bedürfnissen des Staates konform sein sollte.
Die kemalistischen Reformen privatisierten einerseits den Islam, andererseits werteten sie ihn als Bestandteil der türkischen Identität auf und betrachteten ihn – neben dem Nationalismus – als zweite Legitimationsressource. Die Politisierung des Islam „von oben“ bewirkte nach dem Übergang zum demokratischen Mehrparteiensystem eine Politisierung „von unten“.
Der türkische Premier Adnan Menderes (1950 bis 1960) steht bis heute in der Kritik, die religiösen Gefühle der Bevölkerung parteipolitisch instrumentalisiert und der Politisierung „von unten“ Vorschub geleistet zu haben. Tatsächlich bewirkte er aber die Integration des Islam in das politische System. Insofern ist es als Menderes’ Verdienst zu betrachten, dass der Islamismus als politische Kraft in der Türkei nicht als revolutionäre Untergrundbewegung entstanden ist, sondern sich aus einem demokratisch-parlamentarischen Umfeld heraus konstituiert hat. Ende der 1960er-Jahre machte Necmettin Erbakan (1926 bis 2011) von sich reden, der an der Spitze der Nationalen Heilspartei für den Schutz konservativer Moralvorstellungen eintrat, gegen die seit 1964 bestehende Assoziierung der Türkei mit der Europäischen Gemeinschaft polemisierte, den „Zionismus“ und die „israelfreundliche Politik“ der USA anprangerte.
Synthese von Islam und Nationalismus
Nach dem Militärputsch von 1980 wurde die Türkisch-Islamische Synthese zur offiziellen Ideologie des Staates, die den Islam und den türkischen Nationalismus miteinander verschweißt. In der Folge wurden religiöse Dienstleistungen ausgeweitet, der fakultative Religionsunterricht zum verpflichtenden Fachangebot aller Schulen erklärt und die staatliche Religionsbehörde Diyanet instrumentalisiert, das heißt zur Förderung der nationalen Solidarität und sozialen Integration genutzt. All dies erzeugte eine soziopolitische Atmosphäre, welche die Entfaltung einer islamischen Geschäftswelt sowie eine partielle Islamisierung der Öffentlichkeit begünstigte. Davon profitierte Erbakans Wohlfahrtspartei ebenso wie von den sozialen Verwerfungen einer liberalen Marktwirtschaft und den Begleiterscheinungen einer zunehmenden Konsumorientierung der Gesellschaft, sodass sie 1995 die Parlamentswahlen gewann. Die AKP, die sich von Erbakan absetzte, nutzte das Zerwürfnis der Regierungsparteien, die Missstimmung in der Bevölkerung aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise (2001) und der Korruptionsvorwürfe, um sich 2002 mit 34 Prozent der Stimmen zur stärksten politischen Kraft des Landes aufzubauen.
Hegemonie gegenüber dem kemalistischen Machtblock
Die Türkei ist seit Machtantritt der AKP einem Wandlungsprozess ausgesetzt, der schon jetzt mit deutlichen politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Machtverschiebungen einhergegangen ist. Gestützt auf eine neue, islamisch geprägte Machtelite und religiös-konservative Unternehmerschicht, konsolidierte die islamisch-konservative AKP Schritt für Schritt ihre Hegemonie gegenüber dem alten kemalistisch-laizistischen Machtblock und seinen Institutionen. Während das Militär und die Justiz, die in der Türkei als Bastionen des Kemalismus und Laizismus galten, immer mehr unter die Kontrolle der Politik gerieten, erweiterte der institutionalisierte Islam seinen Handlungs- und Betätigungsspielraum, sunnitisch-islamisch geprägte Wertvorstellungen und Leitbilder gewannen auch in der Öffentlichkeit an Bedeutung, während säkulare Prägungen mehr und mehr zurückgedrängt wurden. Der von Staatspräsident Erdoğan eingeführte Begriff „Neue Türkei“ soll diesem Wandel Nachdruck verleihen.
Die Entsäkularisierung lässt sich mit einer Vielzahl von Beispielen illustrieren:
Erstens: İmam-Hatip-Schulen. Diese Schulen nehmen im türkischen Schulsystem eine Sonderstellung ein, sie qualifizieren nicht nur für die Laufbahn des Predigers und Imams, ihre Absolventen sind mit Ausnahme von Militärakademien zu allen Studiengängen an türkischen Hochschulen zugangsberechtigt. Mit der Schulreform (1997), die die Pflichtschulbildung auf acht Jahre heraufsetzte, ging eine Marginalisierung der İmam-Hatip-Schulen einher; ihre Schülerzahl sank von über 500.000 vor der Schulreform auf 64.000 im Schuljahr 2002/2003. Die AKP-Regierung unternahm Anstrengungen, um die Bedingungen der İmam-Hatip-Schüler zu verbessern (Gesetz Nr. 5171), die zunächst am Veto des Staatspräsidenten und des Staatsrats scheiterten. Erst 2011 konnte eine Neuregelung des Hochschulzugangs durchgesetzt werden, wodurch erneut den Absolventen dieser religiösen Schulen alle Fakultäten offenstehen. Ihre Besucherzahl stieg im Schuljahr 2013 bis 2014 auf knapp über 450.000 an – eine Entwicklung, die säkulare Kreise als Islamisierung des Bildungswesens vehement kritisieren.
Zweitens: Ehebruch-Gesetz. Das türkische Strafgesetz aus dem Jahr 1926 stellte den Ehebruch für beide Geschlechter unter Strafe (Paragrafen 440, 441). In einem Urteil von 1996 erklärte das türkische Verfassungsgericht das Ehebruchgesetz als unvereinbar mit der Geschlechtergleichheit. Nach der Regierungsbildung unternahm die AKP Anstrengungen, den Ehebruch erneut unter Strafe zu stellen. Erst als die Europäische Union, die türkische Opposition, der westlich-säkulare Unternehmerverband TÜSİAD (Türk Sanayicileri ve İşadamları Derneği, Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute) und liberale Intellektuelle den Vorstoß als Privilegierung islamischer Lebensstile kritisierten, zog die AKP-Regierung den Gesetzesentwurf zurück, das neue türkische Strafrecht erschien ohne einen Paragrafen zum Ehebruch (26. September 2004).
Drittens: Aufhebung des Kopftuch-Verbots. Bis 2007 unternahmen konservativ-liberale Regierungen erfolglos mehrere Gesetzesinitiativen, um das Kopftuchverbot für Studentinnen aufzuheben. 2007 wurde mit einer Anordnung des Hochschulrates das Kopftuchverbot an Universitäten außer Kraft gesetzt. Durch die Änderung der Kleiderverordnung im Rahmen eines „Demokratisierungspakets“ (1. Oktober 2013) wurde das Kopftuchverbot auch für Beamtinnen und Rechtsanwälte aufgehoben, davon ausgenommen sind die Streitund Polizeikräfte sowie Staatsanwälte.
Viertens: Bevorteilung religiös-konservativer Lebensstile. Die AKP-Regierung wird kritisiert, traditionelle beziehungsweise religiöse Lebensstile zu begünstigen. Studien belegen, dass in Provinzstädten der konservative Konformitätsdruck auf säkular orientierte Menschen, Christen, Juden und Aleviten besonders einschüchternd wirkt. Eine vollständige freie Religionsausübung für Christen ist bisher nicht gewährleistet.4 Regelungen wie etwa die Einschränkung des Alkoholausschanks, Vorstöße der Regierung, die Abtreibung zu verbieten, sowie die Ankündigung, eine religiöse Jugend heranziehen zu wollen, nähren den Verdacht einer bewussten Islamisierung. Zuletzt ist die türkische Religionsbehörde Diyanet,5 die auch in Deutschland vertreten ist, mit ihren Rechtsgutachten in Kritik geraten; in diesen ermahnte die Behörde etwa verlobte Paare und Frauen, öffentlich nicht die Hände zu halten oder kein Augenbrauen-Shaping zu betreiben.6
Neo-Osmanismus
Die AKP-Führung betont die religiöse Identität des Landes und hebt etwa gegenüber den muslimischen Ethnien und Nationen auf dem Balkan, im Kaukasus und im Nahen Osten das „gemeinsame historische und kulturelle Erbe“ hervor, das die Türkei mit ihnen verbinden soll. Diese als „Neo-Osmanismus“ etikettierte Haltung kommt exemplarisch in jener Rede Erdoğans zum Ausdruck, die er nach den Parlamentswahlen am 12. Juni 2011 gehalten hat. Darin stellte er den Wahlerfolg der AKP als einen „Sieg der Muslime“ dar und sandte Grüße an Länder und Städte, die einst dem Osmanischen Reich angehörten.
Der Annäherungskurs an arabische Staaten sowie die Unterstützung der Hamas in Palästina, der Muslimbrüder in Ägypten und dschihadistischer Formationen in Syrien war nicht allein auf die Erschließung neuer Absatzmärkte gerichtet. Er wird von einem religiös-kulturalistischen Diskurs flankiert, der explizit anti-westliche Züge trägt. In den programmatischen Schriften der Entscheidungsträger herrscht eine Fundamentalkritik an der westlichen Moderne und der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Westen vor.
„Neue“ türkische Diasporapolitik
Eine ähnliche religiöse Orientierung kommt auch in der neuen türkischen Diasporapolitik zum Vorschein. Diese birgt – aufgrund der ihr impliziten konservativen Sozialmoral – die Gefahr, die kulturellen Fragmentierungen innerhalb der türkischstämmigen Diaspora in Deutschland zu verfestigen. Die „neue“ türkische Diasporapolitik und die sie begleitende Rhetorik sind weniger geeignet, die türkischstämmige Diaspora in Deutschland in ihrer kulturellen, religiös-konfessionellen und ethnischen Vielfalt anzusprechen.
Die Verfestigung islamisch-konservativer Wertvorstellungen innerhalb der türkischen Gesellschaft und der türkischen Eliten ist unverkennbar. Die Entsäkularisierung, die bereits in den 1950er-Jahren einsetzte, intensiviert und äußert sich ab 2002 in einer Vielzahl von Gesetzen, Maßnahmen und Diskursen. Gleichwohl lässt sich die aktuelle Situation auch als Chance begreifen, das „republikanische Modell“ des Laizismus zu überdenken. Die Türkei braucht einen liberal pluralistischen Laizismus, der die moralische Gleichheit aller Bürger und die Gewissensfreiheit achtet. Es wäre im Sinne einer konstruktiven Weiterentwicklung sinnvoll, an dem normativen Kern des bisherigen Laizismus – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – festzuhalten und ihn um ein weiteres Ziel zu ergänzen: das Bemühen um möglichst vernehmliche Beziehungen zwischen Anhängern verschiedener Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen, die auch in einem säkularen System eine ethisch stabilisierende Rolle spielen können.
Yaşar Aydın, geboren 1971 in Artvin (Türkei), Sozialwissenschaftler, Lehrbeauftragter an der HafenCity Universität in Hamburg. Neben Fachbeiträgen zu Türkei und Migration schreibt er Kommentare für türkische („Hürriyet Daily News“) und deutsche Zeitungen („Der Freitag“).
1 Artikel 2 der türkischen Verfassung von 1982 definiert die Republik Türkei als einen „demokratischen, laizistischen und sozialen Rechtsstaat“.
2 Säkularisierung bezieht sich auf den europäischen Prozess der schrittweisen Verselbstständigung der Individuen, des Staates und weiterer gesellschaftlicher Bereiche gegenüber der Religion sowie der Loslösung der Werte und Normen von religiösen Glaubensinhalten.
3 Ein Urteil des Verfassungsgerichts von 1971 bestätigte die Kontrolle der Religion durch den Staat.
4 Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union lösten in der Türkei kontroverse Diskussionen sowie anti-europäische und anti-amerikanistische Diskurse aus. Zeitgleich entstand eine säkular-nationalistische Populärkultur, bestehend aus nationalistischen Historien- und Science-Fiction-Romanen sowie aus Sachbüchern über vermeintliche Verschwörungen westlicher Mächte gegen die Türkei. In ultra-nationalistischen Medien wurde exzessiv über angebliche missionarische Umtriebe Griechenlands berichtet. In dieser aufgeheizten Atmosphäre wurden in Trabzon an der Schwarzmeerregion ein italienischer Priester (Don Santoro, 5. Februar 2006) tödlich verletzt, der prominente türkisch-armenische Journalist Hrant Dink nach einer Anklage wegen Beleidigung des Türkentums (19. Januar 2007) sowie drei christliche Mitarbeiter des Zirve-Verlags in Malatya (18. April 2007) ermordet.
5 Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten („Diyanet İşleri Başkanlığı“) ist direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt, der auch den Amtsinhaber des Präsidiums vorschlägt. Es hat den Charakter einer Staatskirche, deren Aufgabe es ist, die Bevölkerung über religiöse Fragen aufzuklären, die Moscheen und seit 1971 auch die Korankurse zu verwalten. In Deutschland koordiniert die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. („Diyanet İşleri Türk İslam Birliği“, DİTİB) als bundesweiter Dachverband die religiösen, sozialen und kulturellen Tätigkeiten der angeschlossenen Moscheegemeinden. Sie untersteht der Leitung, Kontrolle und Aufsicht der Diyanet in der Türkei.
6 Vgl. Lars Wienand: „Türkische Religionsbehörde warnt Verlobte vor Händchenhalten“, in: Berliner Morgenpost, 04.01.2016, und „Pinzetten-Fatwa empört Türkinnen: Augenbrauen-Shaping soll Sünde sein“, n-tv, 04.02.2016.