Operation Marriage – unter diesem Codewort wurden vor siebzig Jahren der nördliche Teil der preußischen Rheinprovinz und die preußische Provinz Westfalen zu dem neuen Land Nordrhein-Westfalen zusammengefasst. War es der besondere britische Humor, der zu diesem Code für die Gründung Nordrhein-Westfalens führte?
In jedem Fall „verheirateten“ die Briten zwei sehr unterschiedliche Territorien. Dahinter stand die Absicht der britischen Besatzungsbehörden, dem industriell geprägten Ruhrgebiet mit seinen stark von der Arbeiterbewegung geprägten Strukturen den mäßigenden Einfluss der konservativen ländlichen Regionen Westfalens gegenüberzustellen, in denen die Landwirtschaft den wesentlichen Wirtschaftszweig darstellte. Die britische Besatzungsmacht wollte einen Ausgleich der Temperamente und politischen Überzeugungen, aber auch der Wirtschaftssektoren.
Auch im achten Jahrzehnt seines Bestehens gehört es zur Landesidentität Nordrhein-Westfalens, die Gegensätzlichkeit seiner Landesteile herauszustellen und die Unterschiede zwischen dem Ruhrgebiet und den ländlichen Räumen des Landes zu betonen. Aber stimmt das eigentlich heute noch?
Norbert Blüm, 1987 bis 1999 Landesvorsitzender der CDU Nordrhein-Westfalen und 1990 Spitzenkandidat bei den Landtagswahlen, hat anlässlich des 70. Landesgeburtstags darüber berichtet, wie er vor Jahren mit seiner Frau von Bonn nach Dortmund gewandert sei. Die Blüms wanderten „in der Annahme, es gäbe bestenfalls nur Aus- und Umwege um Schornsteine und graue Industrieanlagen. Stattdessen sind wir ununterbrochen durch Grün gelaufen. Die Ruhr selbst ist ein Fluss, neben dem die schöne blaue Donau eine graue Wasserstraße ist. Nordrhein-Westfalen hat so viel Grün in der Landschaft, sodass sein Grün-Bedarf anderswo schon gedeckt ist.“
Falsche Klischees
Wenn aber das von Norbert Blüm durchwanderte Ruhrgebiet schon seit Jahren durchgrünt ist, stimmen dann noch die Klischees über das industriell geprägte Ruhrgebiet und die es umgebenden ländlichen Räume Nordrhein-Westfalens? Und wie muss die Politik darauf reagieren? Welche Politik brauchen die Menschen in den ländlichen Räumen, im Münsterland, in der Eifel, in Südwestfalen und Ostwestfalen-Lippe und am Niederrhein – gerade in einem Industrieland wie Nordrhein-Westfalen?
Einige Schlaglichter beleuchten, warum die ländlichen Räume in Nordrhein-Westfalen anders sind, als es die gängigen Klischees vermuten lassen: In Nordrhein-Westfalen leben die meisten Menschen – rund sechzig Prozent – außerhalb von Großstädten. Südwestfalen liegt bei dem Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auf Platz 1. Nirgendwo sonst ist der Anteil der Bruttowertschöpfung im produzierenden Gewerbe in NRW höher. Die Region mit den Kreisen Olpe, Siegen-Wittgenstein, Soest, dem Hochsauerlandkreis und dem Märkischen Kreis ist die drittstärkste Wirtschaftsregion in ganz Deutschland. Ostwestfalen-Lippe ist ein bedeutender Standort der Möbelindustrie und zudem Sitz großer Unternehmen wie Dr. Oetker, Miele und Bertelsmann. Und der Niederrhein ist stark im Maschinenbau sowie ein bedeutender Chemie- und Logistikstandort.
Auch die Zahl der Schulen, Krankenhäuser und Sportvereine – also das, was zu einem attraktiven Lebensumfeld unbedingt dazugehört – überwiegt im ländlichen Raum. Kein Wunder also, dass mehr Rheinländer, Westfalen und Lipper in ländlichen Räumen leben als im Ruhrgebiet zwischen Hamm und Duisburg.
Politik für die ländlichen Räume bedeutet daher zunächst einmal, Vorurteile hinter sich zu lassen und die Vielfalt dieser Regionen zu verstehen.
Es bedeutet, zu erkennen, dass die ländlichen Regionen eine ganze Reihe von Funktionen erfüllen: Sie sind Erholungs-, Freizeit- und Naturräume, ihre Städte und Dörfer sind Wohnorte und Heimat für viele Menschen, sie bieten Bildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze in vielen Branchen – in der Land- und Forstwirtschaft ebenso wie im Dienstleistungssektor und in Handwerk und Industrie.
Mangelnde Infrastruktur
Entsprechend breit gefächert muss daher auch die Politik für die ländlichen Räume sein. Ländliche Regionen benötigen eine mindestens ebenso leistungsfähige Infrastruktur wie die Ballungsgebiete. Weil innovative und auf Digitalisierung setzende Unternehmen eben nicht nur in den Großstädten an Rhein und Ruhr ihren Sitz haben, sondern auch im Sauer- und im Siegerland, muss auch dort der Zugang zu schnellem Internet lückenlos gewährleistet sein. Leider ist dies in Nordrhein-Westfalen nicht der Fall. Hier fehlt es in neunzig Prozent aller Gewerbegebiete an einem Breitbandanschluss. Auch von den Privathaushalten im ländlichen Raum verfügen nur vierzig Prozent über schnelles Internet. In großen und mittleren Städten wie Köln, Bonn, Düsseldorf, Aachen oder Bochum ist die Breitbandversorgung mit über neunzig Prozent demgegenüber besonders gut.
Ebenso braucht der ländliche Raum gut ausgebaute Verkehrswege. Marode Straßen und Brücken gefährden Produktionsstandorte von Weltmarktführern wie dem Biogas-Anlagenbauer Envitec oder dem Nutzfahrzeughersteller Schmitz-Cargobull im Münsterland, weil diese Unternehmen ihre Produkte nur mit größerem Aufwand und zu höheren Kosten zu den Kunden und zu den Häfen transportieren können.
Darüber hinaus brauchen die Bewohner ländlicher Räume selbstverständlich eine gute Bildungspolitik, die ein umfassendes Bildungsangebot auch jenseits der großen Ballungszentren ermöglicht, eine gute medizinischen Versorgung in der Fläche, Wertschätzung und Förderung des kulturellen Lebens, ein attraktives öffentliches Nahverkehrsnetz und vieles mehr. Gute Politik für ländliche Räume ist daher eine Aufgabe für alle Ressorts der Landespolitik.
Milch, Zuckersirup und Energie
Der ländliche Raum ist auch immer noch der Teil des Landes, in dem die Land- und Forstwirtschaft die Identität und Mentalität der Menschen bestimmt und vielen Familien das Einkommen sichert. Hier werden Lebensmittel für Deutschland und internationale Märkte erzeugt. Die Landwirtschaft hat den Weltmarkt fest im Blick. Schon lange gehen diese Erzeugnisse über die Grenzen Deutschlands und Europas hinaus. Ob Milch vom Niederrhein oder Zuckersirup aus der Eifel: Diese Erzeugnisse, die in den ländlichen Regionen des Landes produziert werden, sind deutschlandweit und auch auf den Weltmärkten erfolgreich.
Holz aus dem Sauerland und Raps aus dem Münsterland gehören zu den Energieträgern der Zukunft. Zugleich wird in den ländlichen Standorten Sonne und Wind „geerntet“. Biogas, Solar- und Windenergie ermöglichen eine ressourcenschonende Energiegewinnung im Energieland Nummer 1: In keinem anderen Bundesland wird so viel Energie erzeugt und verbraucht. Erneuerbare Energien tragen zudem dazu bei, die Strukturen, insbesondere die der landwirtschaftlichen Betriebe, zu diversifizieren und sie so von Preisschwankungen auf den globalen Märkten für landwirtschaftlich erzeugte Produkte unabhängiger zu machen.
Eine kluge Landwirtschaftspolitik muss die Rahmenbedingungen so setzen, dass die landwirtschaftliche Erzeugung den Landwirten ein Einkommen sichert und Erzeugungsformen ermöglicht, die ein hohes Maß an Tierschutz gewährleisten, nachhaltig sind, die Umwelt schützen und die Kulturlandschaft bewahren. Nicht zuletzt sind Landwirte Unternehmer. Sie können nur dann erfolgreich sein, wenn man ihnen die dafür erforderliche unternehmerische Freiheit zugesteht. Auch die Agrarpolitik muss daher immer wieder auf unnötige Regulierungen und bürokratische Vorschriften durchforstet werden, die unternehmerisches Handeln übermäßig einschränken.
Land- und Forstwirtschaft in Bedrängnis
Gerade in Nordrhein-Westfalen wird die Kernbranche des ländlichen Raums, die Land- und Forstwirtschaft, regierungsseitig fortlaufend in Bedrängnis gebracht. Misstrauen und Kontrolle wurden zum obersten Maßstab erhoben, statt auf Anreize und Lösungen auf wissenschaftlicher Grundlage zu setzen. Wer den Landwirten immer mehr und immer striktere Auflagen macht, wer wachsende Teile der Flächen einer landwirtschaftlichen Nutzung entzieht, um Ausgleichsund Naturflächen zu schaffen, wer die freie Verfügungsgewalt des bäuerlichen Eigentums immer weiter beschneidet, der legt die Axt an diesen Berufsstand und beschleunigt eine Entwicklung weg von familiengeführten Höfen hin zu branchenfernen Investoren ohne Verwurzelung in der Region.
Verschwinden aber die bäuerlichen Betriebe mit überschaubaren Strukturen, fließen die Erlöse aus der Landwirtschaft aus der Region ab. Dann ist niemand mehr da, der freiwillig mehr für den Umweltschutz tut als vorgeschrieben, der die jahrhundertealte Kulturlandschaft erhält und der sich für Kultur und Brauchtum engagiert. Ohne Landwirtschaft wäre – ohne nostalgisch klingen zu wollen oder die Realitäten zu idealisieren – der ländliche Raum nicht mehr das, wofür Millionen Menschen ihn schätzen, und Nordrhein-Westfalen wäre ein anderes Land.
Hoher Nutzungsdruck
Der ländliche Raum ist im Industrieland Nordrhein-Westfalen vielleicht stärker beansprucht als in anderen Bundesländern. Der Nutzungsdruck ist bei achtzehn Millionen Einwohnern höher, die Vorstellungen, was sich dort realisieren lässt, sind vielfältiger. Sogar als Lebensraum für Wildtiere wie Wolf und Wisent soll er dienen – in einer der am dichtesten besiedelten Regionen Europas!
Alles wird wohl nicht gehen. Dennoch ist es in den letzten siebzig Jahren immer wieder gelungen, die Ansprüche in der Balance zu halten und den Ausgleich der Interessen zu schaffen. Und das muss auch der Auftrag für die Zukunft sein: die Überlebensfähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe zu sichern, die Zukunftsfähigkeit der ansässigen Unternehmen und Arbeitsplätze zu erhalten, die Lebensqualität für die Menschen zu bewahren, den Kulturraum zu pflegen und die Natur zu schützen. Dafür lohnt es, zu kämpfen. Sieben Jahrzehnte nach Gründung des Industrielandes Nordrhein-Westfalen steht fest: Ohne die ländlichen Räume würden Nordrhein-Westfalens schönste Seiten fehlen.
Christina Schulze Föcking, geboren 1976 in Emsdetten, Stellvertretende Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen, Landesvorsitzende des Agrarausschusses der CDU.