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Geschichtsunterricht im Integrationsland DEutschland

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Die Zahlen sprechen für sich: 2016 hatten 18,6 Millionen Menschen beziehungsweise 22,5 Prozent der Einwohner Deutschlands einen Migrationshintergrund. Hiervon sind 9,6 Millionen deutsche Staatsbürger und neun Millionen im Besitz eines ausländischen Passes (51,8 Prozent beziehungsweise 48,2 Prozent), meist aus der Türkei, Polen und Russland. Von den Kindern unter fünf Jahren hatten im Jahr 2016 in Deutschland immerhin 38,1 Prozent einen Migrationshintergrund. Regional fallen die Werte sehr unterschiedlich aus: In Bremen werden die höchsten, in Ostdeutschland die niedrigsten Quoten erreicht (vgl. Bundeszentrale für Politische Bildung: Bevölkerung mit Migrationshintergrund, www.bpb.de/wissen/NY3SWU,0,0,Bev%F6lkerung_mit_Migrationshintergrund_I.html, letzter Zugriff am 14.05.2018). Bei den Schulklassen reicht die Spannweite von ausnahmslos nichtdeutschen Lerngruppen bis zu einigen kleineren, meist dörflichen Schulen ohne Schüler mit Migrationshintergrund.

Was bedeutet das für die Politische Bildung und speziell für den Geschichtsunterricht in Deutschland? Eine sich stark verändernde Schülerschaft muss neue didaktische Überlegungen über die Voraussetzungen, Ziele und Inhalte des Schulunterrichts nach sich ziehen. Das gilt zunächst für die Sprache. Wenn ein geringerer deutscher Wortschatz vorauszusetzen ist, werden Texte mit Wörtern wie „Kemenate“ oder „füsilieren“ zu Hindernissen.

Schon für Kinder mit einem deutschen Hintergrund kann hier „die Dosis das Gift machen“ und das Geschichtsbuch mit Quellen in einer älteren Sprache zum Ratespiel werden. Vor allem aber geschieht kein Lernen ohne Interesse und Motivation für den Gegenstand und ohne Annäherung an vorhandene Vorstellungen und Begriffe. Zwar haben auch Kinder ohne Migrationshintergrund oft kein naturwüchsiges Interesse an vormoderner Geschichte seit der Steinzeit; dennoch sollte der Geschichtslehrer im Unterricht versuchen, sie immer wieder als Vorgeschichte ihrer Lebenswelt im Hier und Heute mit einer relevanten Perspektive aufzuzeigen. Dabei wird stark auf die Faszination durch „Alterität“, das Andersartige (Flusskulturen, Pyramiden, Mumien et cetera), gesetzt, doch geht es stets im Vergleich mit der heutigen Welt darum, wie vielfältig soziale Ordnungen ausfallen können, und damit um eine anthropologische Bewusstseinsweitung.

Bei zugewanderten Kindern fällt dies nicht nur aus sprachlichen Gründen erheblich schwerer, auch wenn viele Ereignisse in den Herkunftsgebieten heutiger Migranten zu lokalisieren sind. Der Trojanische Krieg am Ufer der Ägäis kann für Migranten unerwartete Bezüge enthalten, das Römische Reich umfasste auch die Provinzen Syria und Africa. Insgesamt ist aber die vorherrschende Geschichte der Deutschen vom ersten König der Ottonen bis zu modernen Staatsmännern wie Otto von Bismarck nur für den spannend, der sie für sich selbst als bedeutsam erachtet. Wer keinen Bezug zum christlichen Glauben oder zu dessen Konfessionen sieht, wird den Investiturstreit oder die konfessionelle Spaltung seit der Reformation kaum für wissenswert halten. Wenn Kinder aus anderen Kulturen in einer Klasse zusammenkommen, stehen daher die traditionellen Themen des Geschichtsunterrichts auf dem Prüfstand.

Noch schwieriger gestalten sich die Vermittlung und Festlegung von Unterrichtszielen bei historischen Gegenständen des 20. und 21. Jahrhunderts, wenn es um die zentralen Fragen von Demokratie und Diktatur geht. Manche türkische oder russische Familie empfindet starke Männer an der Spitze möglicherweise als das bessere politische Modell, was ihre Kinder zunächst durchaus zu übernehmen bereit sind. Auch die Befassung mit Themen wie Frauenemanzipation oder mit Minderheiten, etwa Juden, stößt auf Vorstellungen, die in der deutschen Gesellschaft als lange überwunden galten; Gleiches gilt ebenso für manche fundamentalistisch orientierte Position in der Religion.

Auf die skizzierte Veränderung der heutigen „Kundschaft“ des Unterrichts kann man verschiedene Reaktionen beobachten. Rainer Eppelmann, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, hat zum Beispiel zur Frage geäußert, ob die DDR-Geschichte für die Immigranten ein relevanter Teil der deutschen Geschichte sei, wenn diese doch nur für eine begrenzte Zeit und in Ostdeutschland stattgefunden habe: Wer sich in Deutschland integrieren wolle, müsse auch die Geschichte beider deutscher Staaten kennen, um die Probleme im Zusammenhang mit der Einheit zu verstehen. Demgegenüber hat der Hamburger Geschichtsdidaktiker Bodo von Borries fast bedauert, dass es nach 1990 zu einer Revitalisierung der Nationalgeschichte im Unterricht gekommen sei, während die wesentlichen Probleme eher in der Globalisierung und dem Wandel zu Migrationsgesellschaften zu suchen seien (Bodo von Borries: „Warum ist Geschichtslernen so schwierig? Neue Problemfelder der Geschichtsdidaktik“, in: Heidi Behrens / Andreas Wagner (Hrsg.): Deutsche Teilung. Repression und Alltagsleben. Erinnerungsorte der DDR-Geschichte, Leipzig 2004, S. 79 ff.). In diesen seien heterogene Schülerschaften typisch, deren Haltungen und Erfahrungen Ausgangspunkt eines „subjektorientierten“ Geschichtsunterrichts sein sollten. Eine deutsche Identität sei hier nicht mehr bei jedem zu erkennen. Andere Didaktiker betonen, dass Schülerinnen und Schüler mit eigenen Kriegs- oder Fluchterlebnissen historische Narrative anders wahrnehmen. Über eine Konfrontation mit ähnlichen Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs könnten historisches Interesse und Reflexion ihren Anfang nehmen. So sollen etwa historische Fotos von Flucht und Vertreibung zur Narration und Verarbeitung eigener Erlebnisse führen.

„Didaktik des Fremdverstehens“

Schon mit der ersten Generation der „Gastarbeiter“ und den Asylbewerbern der 1980er-Jahre kamen Kinder in die Schulen, auf deren spezielle Bedürfnisse bereits damals eine neue interkulturelle Pädagogik einzugehen versprach. Der Geschichtsdidaktiker Rolf Schörken formulierte 1980 Vorbemerkungen zum „Geschichtsunterricht in einer kleiner werdenden Welt“, wobei er sich für eine „Didaktik des Fremdverstehens“ aussprach. Eine Folge waren Unterrichtseinheiten, die sich etwa mit der Geschichte Chinas oder Lateinamerikas tiefgehender befassten, um dem euro- oder oft sogar deutschzentrierten Blick etwas entgegenzusetzen. Eine entscheidende Idee ist dabei, dass ein Lernender, der eine fremde Welt deutet, zugleich sich selbst auslegt. Viele haben das seither als eine wichtige Bereicherung des Unterrichts empfunden. Doch mit dem erweiterten Blick kam auch eine historische Fülle ins Spiel, die neue Wissensanforderungen an die Lehrerschaft stellte. Wie viel(e) partikulare Geschichte(n) kann ein Lehrer heute durch seine Ausbildung beherrschen, um den Kindern Verständnisbrücken bauen zu können? Aktuell floriert die Globalgeschichte mit vielfältigen Wechselwirkungen über die Kontinente hinweg, die mit Jürgen Osterhammel ihren Meister vorweist. Leider erzeugt sie didaktisch das Gegenteil der notwendigen Reduktion für einen jungen Verständnishorizont. Hier drohen in der Schule schnell Missverständnisse und Fehleinschätzungen, also fachlicher Dilettantismus. Hinzu kommt der heutige Trend zum Zentralabitur, das nur auf einer einheitlichen Wissensgrundlage geschrieben werden kann. Statt der Lehrkraft entscheiden nun die Kultusministerien über relevante Themen: So fiel in Nordrhein-Westfalen bei der Einführung des Zentralabiturs im Fach Geschichte die Wahl auf die osmanische Geschichte als Pflichtthema, um der Hauptminorität etwas anzubieten, wozu vorher kaum Kenntnisse und Fortbildungen verfügbar waren. Das hinterließ nicht nur gute Erfahrungen.

Aktuell wachsen wegen antisemitischer Vorfälle in einigen Schulen die Sorgen vor dem Wiederaufleben massiver Judenanfeindungen bis zum gewaltsamen Angriff – eine Katastrophe für die politische Kultur in Deutschland. Plötzlich gelten lange unumstrittene Grundlagen der bundesdeutschen Staatsraison wie die Freundschaft mit Israel nicht mehr so fraglos, wie es nach dem Holocaust sein müsste. Diese Frage stellt sich inzwischen europaweit; auf der EUROCLIO-Geschichtslehrertagung im April 2018 in Marseille machten Experten Vorschläge für eine zeitgemäße Vermittlung. So könnte nach dem französischen Holocaustforscher Bruno Boyer die arabische Beteiligung am deutschen Antisemitismus während der Rommel-Okkupation in Nordafrika einerseits ein Ansatzpunkt zum Nachdenken werden, ob der Holocaust wirklich nicht zur eigenen Geschichte gehöre.

Andererseits darf man nicht übersehen, dass sich die Heranwachsenden oft nur wenig mit der Geschichte ihrer Herkunftsländer auseinandergesetzt haben. Kinder in der zweiten und dritten Generation, die in Deutschland aufgewachsen sind, zumal in „bildungsfernen“ Familien, wissen oft wenig über die Heimat und Kultur ihrer Vorfahren. Wer als Lehrer dort auf starkes Vorwissen, etwa zur türkischen Geschichte, hofft, greift häufig ins Leere und entdeckt eher tiefe Geschichtslosigkeit. Diese Heranwachsenden befinden sich eher in einer Distanz zu beiden Kulturen, zu denen sie nicht mehr ganz oder noch nicht vollständig zu gehören scheinen.

Was ist zu tun? Ein sprachsensibler Geschichtsunterricht muss sich der Entwicklung sprachlicher und historischer Kompetenzen zugleich widmen. Der Anspruch, die deutsche Wirklichkeit lasse sich nur verstehen, wenn die deutsche Geschichte – auch mit konkretem Wissen über Ereignisse und Strukturen – bekannt sei, ist weiter zu verteidigen. Doch sind neue Themen zu suchen und bei gleicher Unterrichtszeit gegen andere auszutauschen, die Heranwachsende ansprechen und Lust zur Reflexion von Geschichte machen. Zumindest sollten etablierte Themen mit neuen Perspektiven unterrichtet werden, die den Migrationshintergrund von immer mehr Lernenden aufgreifen.

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Ulrich Bongertmann, geboren 1958 in Haltern am See, seit 2012 Bundesvorsitzender des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands.

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