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Unzureichende akademische Ausbildung als Nachteil für Wirtschaft und Gesellschaft

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Vor einigen Jahren wurde leidenschaftlich über die sogenannte Akademikerschwemme diskutiert. Die Frage, ob wir zu viele Akademiker in Deutschland ausbilden, stellt sich heute längst nicht mehr. Die damalige Auseinandersetzung ist einer differenzierteren Diskussion gewichen, in der es um ein sinnvolles Gleichgewicht von akademischer und beruflicher Ausbildung geht.

Zweifellos besteht ein hoher Bedarf an Fachkräften mit beruflicher Bildung. Bemerkenswert ist, wie anspruchsvoll diese Berufe mittlerweile geworden sind: „Hand“-Werk erfordert sehr viel technisches Know-how. Aus dem hohen Bedarf an Fachkräften mit dualer Ausbildung zu schließen, dass weniger akademische Fachkräfte gebraucht würden, wäre aber grundfalsch. Im Gegenteil: Deutschland benötigt eine Stärkung des Forschungs- und Innovationssystems. Und dazu gehören gut ausgebildete akademische Fachkräfte.

Wissensintensive Branchen haben hohe Wertschöpfungspotenziale und tragen wesentlich zum Lebensstandard in Deutschland bei. Daran sind maßgeblich akademische Fachkräfte beteiligt. 77 Prozent aller Erwerbstätigen in Forschung und Entwicklung sind Akademiker; sie gewährleisten die notwendigen Innovationsschübe in den wissensintensiven Branchen. 2021 ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit einem akademischen Abschluss um 275.000 auf 6,4 Millionen gestiegen – ein Zuwachs von vier Prozent. Fast jeder vierte Erwerbstätige verfügt über einen akademischen Abschluss. Fast drei Viertel (73 Prozent) der erwerbstätigen Akademiker üben eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus. In akademischen Berufen sind zudem Selbstständigkeit (zwölf Prozent) und Beamtenstatus (vierzehn Prozent) von Bedeutung. Akademiker spielen demnach bei Unternehmensgründungen und Selbstständigkeit sowie im öffentlichen Verwaltungssektor eine wichtige Rolle.

Einerseits wirken sich die hohen Akademikerzahlen positiv auf die Innovationsdynamik der deutschen Wirtschaft aus. Andererseits lässt sich daraus ein weiter steigender Bedarf an Akademikern ableiten, unter der Voraussetzung, dass wissensintensive Branchen auch künftig maßgeblich an der wirtschaftlichen Prosperität beteiligt sind und Akademikerinnen und Akademiker tatsächlich ausbildungsadäquat eingesetzt werden. Sechzig Prozent aller Akademikerinnen und Akademiker sind auf den Gebieten Wirtschaftswissenschaften, Lehrtätigkeiten, Ingenieurwesen, Informatik, Medizin und Pharmazie tätig. Diese Bereiche sollten für die weitere Entwicklung in Deutschland in den Blick genommen werden.

Nach derzeitigen Prognosen wird sich der Bedarf an akademischen Fachkräften aufgrund des demografisch bedingten Ersatzbedarfs und unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Strukturwandels weiter auf hohem Niveau bewegen. Die beruflichen Perspektiven für Akademikerinnen und Akademiker bleiben insgesamt gut.

 

Starker Innovationsdruck auf westliche Länder

 

Die Digitalisierung, aber auch die Transformationsprozesse für mehr Nachhaltigkeit erhöhen den Bedarf insbesondere an MINT-Berufen. Engpässe in diesem Bereich könnten zu Wohlstandsverlusten führen. Die Arbeitskräftelücke bei MINT-Akademikern beträgt circa 138.000 Stellen. Das Statistische Bundesamt prognostiziert bis 2024 einen jährlichen Ersatzbedarf – also einen Bedarf allein aufgrund des altersbedingten Ausscheidens aus dem Berufsleben – an MINT-Akademikern von 64.700, für 2025 bis 2029 von 72.100 und für 2029 bis 2034 von 77.900.

Der globale Standortwettbewerb erfordert nicht nur die Deckung des Ersatzbedarfs, sondern dass darüber hinaus noch mehr MINT-Akademiker ins Berufsleben einsteigen, sofern Deutschland in den wissensintensiven und hochtechnologischen Bereichen konkurrenzfähig bleiben will. Nicht nur die Vereinigten Staaten von Amerika oder europäische Länder sind starke Wettbewerber, sondern auch Schwellenländer, allen voran China, die längst nicht mehr nur „Imitatoren“, sondern auch „Innovatoren“ geworden sind. In zukunftsträchtigen Technologien wie der Digitalisierung ist China bereits heute Vorreiter. Auch in anderen Hightechbranchen, vor allem in der Pharma- und Biotechnologie, holt China auf. Die veränderte geopolitische Lage führt zu einem starken Innovationsdruck auf westliche Länder. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist eine weitere Akademisierung sinnvoll und notwendig.

Allerdings besteht nicht für alle Fächer ein gleich hoher Bedarf auf dem Arbeitsmarkt. Taxifahrende Akademiker sind sicherlich ein Stereotyp, das nicht verallgemeinert werden darf, aber als Warnsignal für Studieninteressierte dienen kann, nicht blauäugig ein beliebiges Studium aufzunehmen. Neben dem Interesse am jeweiligen Studienfach, das unbedingte Voraussetzung für seine erfolgreiche Absolvierung ist, kann ein Blick auf den Arbeitsmarkt hilfreich sein: Welche Fächer werden nachgefragt? Wie sind die Berufsaussichten? Wie wird sich der Arbeitsmarkt entwickeln? Welche Flexibilität ist bezüglich Arbeitsort und Tätigkeitsprofil erforderlich?

Flexibilität bezüglich des Tätigkeitsprofils wird nicht nur von Geisteswissenschaftlern, sondern auch von Naturwissenschaftlern erwartet. Interessant für Unternehmen ist dabei oft nicht das fachspezifische Know-how, etwa in Astrophysik oder in Philosophiegeschichte, sondern die im Studium erworbene Fähigkeit, sich mit Problemen zu befassen und Lösungen zu finden.

 

Akuter Lehrer- und Ärztemangel

 

Auch die MINT-Fächer darf man nicht als eine homogene Gruppe ansehen; die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind sehr unterschiedlich. Während Informatiker und Ingenieure gefragt sind, sieht es für Absolventinnen und Absolventen etwa der Geologie oder der klassischen Biologie weniger gut aus: Ausbildungsadäquate Stellen in Wirtschaft und Verwaltung sind begrenzt. Nur wer flexibel ist, findet leicht eine Stelle. Unreflektierte Werbung für MINT-Berufe, wie sie teilweise aus der Politik zu hören sind, führen Studieninteressierte und Studierende in die Irre. Interessierte sollten sich genau über die fächerspezifischen Perspektiven informieren.

Trotz dieser Einschränkungen gilt in Deutschland: MINT-Akademiker werden im Durchschnitt besser bezahlt als Nicht-Akademiker, und sie sind seltener und weniger lange arbeitslos. Das Medianbruttogehalt akademischer MINT-Berufe liegt mit 5.300 Euro (Altersgruppe 20 bis 44 Jahre) und 6.700 Euro (ab 45 Jahren) deutlich über dem Durchschnitt. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote von Akademikern beträgt 2,4 Prozent. Die studienspezifische Arbeitslosenquote für die Fächer Biologie, Biochemie und Biotechnologie liegt bei 3,3 Prozent, für Chemie bei 2,8 Prozent, für Physik bei 2,3 Prozent und für Informatik bei 1,6 Prozent – also deutlich unter der durchschnittlichen, über alle Berufe gemittelten Arbeitslosigkeit.

In den Bereichen IT, Gesundheit, Erziehung und Soziales gibt es einen großen Fachkräftemangel, der sich in Wirtschaft und Gesellschaft negativ auswirkt. Bis 2030 fehlen in den Schulen 30.000 Lehrkräfte. Der akute Lehrermangel schwächt das Bildungssystem – mit negativen Folgen für Unternehmen und Arbeitssuchende. Der akute Ärztemangel – 154.000 Ärztinnen und Ärzte scheiden in den nächsten Jahren altersbedingt aus – führt zu einer deutlich schlechteren Gesundheitlichen Versorgung, insbesondere älterer, immobiler, multimorbider Menschen. Lehrerund Ärztemangel sind Beispiele für bestehende Akademikerlücken, die sich nicht nur „abstrakt“ auf die Wirtschaft, sondern spürbar auf den Lebensalltag aller Menschen auswirken.

 

Förderung höherer Bildung

 

Über einen Zeitraum von vielen Jahren stiegen die Studierendenzahlen in Deutschland an. Mittlerweile ist der Anstieg gebremst: Die Studierendenzahlen stabilisieren sich – auf einem hohen Niveau. 2022 haben 474.900 Studierende ihr Studium begonnen; sieben Prozent weniger als vor der Corona-Pandemie 2019. Besonders deutlich ist der Rückgang der Zahl der MINT-Studierenden: Im Semester 2016/17 waren es 198.000, im Semester 2021/22 nur noch 171.000. Auch die Anzahl der Jugendlichen, die eine Allgemeine oder eine Fachhochschulreife erworben haben, war 2022 rückläufig, sodass die Befürchtung besteht, dass künftig weniger Akademiker für den Arbeitsmarkt verfügbar sein werden. Eine „Akademikerschwemme“ ist künftig also noch weniger als heute zu befürchten. Ganz im Gegenteil: Nach jetziger Prognose wird die Akademikerlücke empfindlich groß werden, mit erheblichen Nachteilen für Wirtschaft und Gesellschaft.

Die wichtigste Maßnahme, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, ist – wenig überraschend – mehr und bessere Bildung, und zwar beginnend mit dem Kindergarten. Die frühkindliche Bildung ist eine wichtige erste Phase, in der die Neugier der Kinder geweckt wird. Auch wenn sie keine „kleinen Forscher“ sind, um den Terminus des Förderprogramms „Haus der kleinen Forscher“ zu verwenden, so kann man doch das Interesse der Kinder fördern, ihre Lebensumwelt zu erkunden. Werden außerdem Sprache und Denken unterstützt, ist dies eine solide Grundlage für den weiteren Bildungsweg.

In der Schule sollten Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer gefördert werden. Dafür ist fachkundiger Unterricht notwendig, der nicht immer Spaß machen muss, aber das grundsätzliche Interesse an den MINT-Fächern wecken sollte. Verbunden mit realistischer Berufs- und Studienberatung, führt dies wahrscheinlich zu mehr Akademikern in den relevanten Fächern.

Mehr Bildung zu fordern, ist eine Sache; sie zu realisieren, eine andere. Die Schwächen des deutschen Bildungssystems sind hinlänglich bekannt. Ohne mehr Lehrpersonal und ohne eine Qualitätsoffensive wird Deutschland seine Bildungsziele nicht erreichen. Hinzu kommt, dass die Bildungsziele nicht ohne zeitliche Verzögerung zu erreichen sind. Deshalb benötigt Deutschland die Zuwanderung von Fachkräften, auch von akademischen Fachkräften beziehungsweise Studierenden. Ob es gelingt, das Innovations-, Wissenschafts- und Hochschulsystem entsprechend attraktiv zu gestalten, bleibt abzuwarten. Es ist jedenfalls nicht ausreichend, die notwendigen Reformen an Universitäten, Hochschulen angewandter Wissenschaften und Außeruniversitären Forschungseinrichtungen nur halbherzig anzugehen.

 

Norbert Arnold, geboren 1958 in Ellar, promovierter Biologe, befasst sich mit Wissenschaft, Ethik und Technologie, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

Literatur

Anger, Christina / Plünnecke, Axel: MINT gewinnt. Hohe Löhne in den MINT-Berufen. IW-Kurzbericht 106/2022, Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln 2022, www.iwkoeln.de/studien/christina-anger-axel-pluennecke-hohe-loehne-in-den-mint-berufen.html [letzter Zugriff: 18.04.2023].

Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2022. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal, Berlin 2022, www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2022/bildung-in-deutschland-2022 [letzter Zugriff: 18.04.2023].

Bundesagentur für Arbeit: Blickpunkt Arbeitsmarkt: Akademiker/-innen – Allgemeiner Teil, Nürnberg, 2022, https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Navigation/Statistiken/Themen-im-Fokus/ Berufe/Akademikerinnen/Allgemeiner-Teil-Nav.html [letzter Zugriff: 18.04.2023].

Bundesministerium für Bildung und Forschung: Zukunftsstrategie Forschung und Innovation. Kurzfassung, Berlin 2023, www.bmbf.de/SharedDocs/Publikationen/de/bmbf/1/730940_Zukunftsstrategie_Forschung_und_Innovation_Kurzfassung.pdf?__blob=publicationFile&v=4 [letzter Zugriff: 18.04.2023].

Deutscher Hochschulverband: Newsletter 03/2023, https://s3-eu-west-1.amazonaws.com//files.crsend.com/230000/230245/rss/media/14306354.htm [letzter Zugriff: 18.03.2023].

Plünnecke, Axel: MINT-Mangel: Fachkräftemangel bedroht deutschen Wohlstand, IW-Nachricht, 23.01.2023, www.iwkoeln.de/presse/iw-nachrichten/axel-pluennecke-fachkraeftemangel-bedroht-deutschen-wohlstand.html [letzter Zugriff: 18.04.2023].

Statista: Prognose zum jährlichen Ersatzbedarf an MINT-Akademikern¹ in Deutschland in den Jahren von 2024 bis 2034, MINT-Frühjahrsreport 2022, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/420113/umfrage/prognose-zum-jaehrlichen-ersatzbedarf-an-mint-akademikern-in-deutschland/ [letzter Zugriff: 18.04.2023].

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