Syrien war bis 2011 ein erfolgreiches Beispiel der türkischen Zero Problems with Neighbours-Politik, des außenpolitischen „Rationals“ der seit 2002 regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP). Diese setzte auf eine Annäherung der Türkei an seine Nachbarn im Nahen Osten, um eine türkische Führungsrolle in der Region zu forcieren. In diesem Zusammenhang sind die guten Beziehungen zum Assad-Regime während des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts zu verstehen.
Es war der Arabische Frühling, der zu einer Zäsur der türkischen Syrienpolitik führte. Ankara befürwortete eine Strategie des Regimewechsels in Syrien. Hierzu unterstützte die Türkei früh den Aufbau der Freien Syrischen Armee (FSA) und förderte die Gründung einer türkeifreundlichen „syrischen Exilregierung“ in Istanbul.
Nach fünf Jahren Bürgerkrieg ohne Regimewechsel im südlichen Nachbarland sieht sich die türkische Regierung allerdings vor vier strategische Entwicklungen gestellt, die ihr Gewicht entscheidend schwächen:
Erstens hat die militärische Schwäche der FSA und anderer Rebellengruppen – insbesondere nach der russischen Intervention aufseiten Assads im September 2015 – den Einfluss Ankaras marginalisiert. Die zeitgleich mit den Friedensverhandlungen in Genf Anfang Februar 2016 gestartete Offensive der Assad-Truppen hat das Gleichgewicht deutlich zugunsten des Regimes verschoben.
Angesichts der militärischen Schwäche der Rebellen hat Ankara das Einströmen radikal-islamistischer Kämpfer in Syrien lange toleriert. Mehr als 30.000 ausländische Kämpfer sind seit Beginn des Konflikts in Syrien eingesickert, ein Großteil über die türkisch-syrische Grenze. Während die türkische Regierung insbesondere islamistische Oppositionsgruppen – allen voran die Al-Nusra-Front – im Kampf gegen das Assad-Regime stärken wollte, haben diese Kämpfer wesentlich zum Aufstieg des Islamischen Staates (IS) beigetragen. Eine Reihe von Anschlägen in der Türkei, die dem IS zugeschrieben werden, hat Ankara mittlerweile die eigene Verwundbarkeit vor Augen geführt.
Durch das Erstarken der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel, YPG), die gute Beziehungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistan, PKK) unterhalten und heute weite Teile des syrischen Nordostens kontrollieren, hat der Syrienkonflikt eine gefährliche innenpolitische Sprengkraft für die Türkei erhalten. Mit der Passivität, die Ankara bei der Belagerung der kurdischen Stadt Kobane durch den IS 2014 gezeigt hat, wurde deutlich, dass in der Verhinderung eines autonomen kurdischen Herrschaftsgebiets mittlerweile die oberste Priorität der türkischen Syrienpolitik liegt. Dies hat zum Abbruch des Friedensprozesses zwischen Ankara und der PKK und zu einer neuen Eskalation der Gewalt in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei beigetragen.
Das Zaudern im Kampf gegen den IS, das auf eine Schwächung des syrischen Regimes und der syrischen Kurden abzielte, hat schließlich zu Irritationen bei den NATO-Partnern der Türkei geführt. Noch dazu sind die Beziehungen Ankaras zu Washington dadurch belastet, dass die US-Regierung die YPG unterstützt und mittlerweile einen Verbleib von Teilen des Assad-Regimes nicht mehr ausschließt. Der türkische Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs im November 2015 hat darüber hinaus zu einer Krise in den türkisch-russischen Beziehungen geführt. Auch das Verhältnis zu Teheran droht sich mit dem Vormarsch der Regimetruppen weiter zu verschlechtern. Als strategische Partner in Syrien bleiben Ankara somit nur Katar und Saudi-Arabien. Ende Dezember 2015 haben sich Ankara und Riad nach Jahren der regionalen Rivalität auf eine verstärkte militärische Kooperation geeinigt.
Ankaras Syrienpolitik steht an einem Scheideweg. Wiederholte Alleingänge haben Ankara innenund außenpolitisch deutlich geschwächt. Für die türkische Regierung kommt es darauf an, einen Weg aus ihrer drohenden Isolierung zu finden. In der Kurdenfrage ist wenig Bewegung zu erwarten. Durch die Bereitstellung der Luftwaffenbasis Incirlik für Einsätze der internationalen Koalition und die Ankündigung einer besseren Grenzüberwachung scheint Ankara einen ersten Schritt auf seine NATO-Partner zugemacht zu haben. Abzuwarten bleibt, wie die türkische Regierung auf den angekündigten Abzug des russischen Militärs und die saudi-arabische Bereitschaft zum Einsatz von Bodentruppen in Syrien reagieren wird.
Nils Wörmer, geboren 1978 in Duisburg, Leiter des Auslandsbüros Syrien/Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Beirut (Libanon).