Am 30. Januar 2020 rief der Direktor der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, den internationalen Gesundheitsnotstand aus. Er folgte damit der Empfehlung des Dringlichkeitsausschusses, den er nach Vorgaben der Internationalen Gesundheitsvorschriften (International Health Regulations, IHR) zum zweiten Mal binnen einer Woche zusammengerufen hatte. Zu diesem Zeitpunkt wusste man von etwa einhundert Ansteckungen weltweit mit einem neuen Virus. Über das Virus, das in Wuhan (China) im Dezember identifiziert worden war, war nur wenig bekannt. China hatte – ebenfalls im Rahmen der IHR – die WHO am 31. Dezember über ein unübliches Cluster von Lungenerkrankungen informiert. Die WHO legte einen detaillierten Zeitablauf dieser umstrittenen ersten Phase vor.1
So begann eine der schwierigsten Perioden in der Geschichte der WHO: Nur wenige Länder folgten ihrer Warnung, obwohl man 2005 nach der SARS-Pandemie die Handlungsschritte im Falle einer Pandemie gemeinsam verabschiedet hatte. Mitte März, als die europäischen Länder und auch Deutschland zu handeln begannen, war das Virus bereits um die ganze Welt gewandert und ließ sich durch die zu späten und halbherzigen Maßnahmen, die viele Länder nun ergriffen, nicht mehr eindämmen. Mittlerweile gab es weltweit über einhundert Millionen Infizierte und circa zwei Millionen Tote.2
Zudem fiel der Beginn der Pandemie mitten in die Zuspitzung des geopolitischen Konfliktes zwischen den USA und China. Die Trump-Administration postulierte eine unzulässige Abhängigkeit der WHO und ihres Generaldirektors von China und beließ es nicht bei der Verweigerung der Zusammenarbeit, sondern torpedierte sie geradezu: nicht nur in Genf und New York, sondern auch in den G7- und G20-Verhandlungen. Der Weg, eine konsequente kollektive Antwort auf diese Weltkrise zu finden, war versperrt. Schlussendlich beschloss Donald Trump den Austritt aus der WHO.3
Erschüttertes Vertrauen
Das geopolitische Kalkül der amerikanischen Regierung hatte noch andere Konsequenzen: Die Tweets des Präsidenten und die weltweiten diplomatischen Vorstöße seiner Vertreter trugen dazu bei, dass das Image der WHO in der ersten Phase der Pandemie nicht das beste war. Das Vertrauen in die Organisation war erschüttert, die Ausbreitung des Virus wurde – besonders in den westlichen Medien – einer schwachen, politisch einseitig ausgerichteten Organisation zugeschrieben. Viele der politischen Kommentatoren hatten sich noch nie mit globaler Gesundheit beschäftigt: Weder wussten sie von der eingeschränkten Handlungsfähigkeit der WHO als Mitgliederorganisation, noch war ihnen bekannt, wie begrenzt die Budgets der Organisation sind.4
Ein Jahr später und nach der Wahl eines neuen US-Präsidenten haben sich viele der Vorwürfe relativiert, wie der Zwischenbericht des Independent Panel for Pandemic Preparedness and Response (IPPR), einer unabhängigen Kommission, zeigt. Die Erklärungslast verschiebt sich zusehends. Eines der IPPR-Mitglieder, die kanadische Kinderärztin Joanne Liu, frühere Präsidentin von „Ärzte ohne Grenzen“, formuliert: „Für mich ist die größte Frage, warum die meisten Länder – mit Ausnahme einiger asiatischer Länder – in den sechs bis acht Wochen nach der Erklärung des Gesundheitsnotstandes die Hände in den Schoß gelegt haben.“ Dazu muss man wissen: Nach dem Ebola-Ausbruch 2014/15 in Westafrika war Liu war eine der schärfsten Kritikerinnen der WHO.5
Man stelle sich eine unterfinanzierte Organisation vor, die sich harten politischen Angriffen ausgesetzt sieht und die – so gut es geht – ihrer Arbeit nachgeht, ohne Gegenposition beziehen zu können. Die WHO leistet fachliche Detailarbeit, deren enormer Umfang vielen Kommentatoren nicht bewusst ist. Sie hat im vergangenen Jahr unzählige Expertentreffen abgehalten, um Empfehlungen für Fachleute zu entwickeln. Diese Empfehlungen bestimmen – unter Einbeziehung der Öffentlichkeit – das medizinische Handeln in den einzelnen Ländern. Die Netzwerke der WHO bestehen aus Tausenden von Wissenschaftlern und Experten aus der ganzen Welt. Sie werden vom Chief Scientific Advisor, einer neu geschaffenen Position, koordiniert. Sie ist neben dem Leiter des Notfallprogramms während der Pandemie eine der wichtigsten Personen in der WHO.
Auch die Öffentlichkeitsarbeit der Organisation wurde neu aufgestellt. Um die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf breiter Basis verfügbar zu machen, institutionalisierte die WHO regelmäßige Pressekonferenzen, inzwischen 120 an der Zahl. Sie sind bis heute alle online abrufbar. Die WHO etablierte eine Zusammenarbeit mit den großen Social-Media-Plattformen, um der Corona-Desinformation entgegenzutreten, und kooperierte mit Influencern und Popstars wie Lady Gaga, um ein breites Publikum zu erreichen. 38 Informationstreffen für die Mitgliedstaaten fanden im vergangenen Jahr statt. Die Webplattform OpenWHO wurde eingerichtet, um Gesundheitsarbeiter auf der ganzen Welt auf dem Laufenden zu halten. Die Zahlen sprechen für sich: 4,7 Millionen Einschreibungen für 149 Kurse, die in 44 Sprachen angeboten werden.6
Neue Formen der Zusammenarbeit
Neben vielen anderen Initiativen war und ist die Arbeit zu den COVID-19-Impfstoffen zentral. Derzeit befinden sich weltweit 52 Impfstoffkandidaten in der Entwicklung. Einige Impfstoffe werden bereits angewendet. Für die WHO stand die gerechte weltweite Verteilung der Impfstoffe, Medikamente und Diagnostika von Anfang an im Vordergrund. Eine der wichtigsten Initiativen war es, gemeinsam mit anderen globalen Gesundheitsakteuren – aus den WHO-Mitgliedstaaten, der Wissenschaft, dem Privatsektor, anderen internationalen Organisationen sowie Stiftungen – im April 2020 den Access to COVID-19 Tools (ACT) Accelerator ins Leben zu rufen.
Integraler Teil davon ist COVAX (Covid-19 Vaccines Global Access), eine Organisation, die gegründet wurde, um Impfstoffe gerecht zu verteilen: durch neue Formen der Zusammenarbeit und eine Finanzierung, die ärmeren Mitgliedsländern erlaubt, preiswertere Impfstoffe zu erwerben. Zudem organisiert COVAX die Beschaffung und die Verteilung der Impfstoffe.7
Nationale Egoismen und Pandemiebekämpfung
Trotz signifikanter Finanzierungszusagen aus den reichen Ländern inklusive der Europäischen Union – derzeit etwa zehn Milliarden US-Dollar – fehlen weitere 23 Milliarden US-Dollar. Im Pandemiefall werden Mittel für die globale Gesundheit nicht mehr in Millionen, sondern in Milliarden berechnet! Erst langsam dringt durch, dass diese Beträge verschwindend gering sind, setzt man sie zu den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie ins Verhältnis. Und doch ist es erschütternd, dass die WHO sich nicht einfach auf ihre Arbeit konzentrieren kann, sondern die Gelder für die Pandemiebekämpfung geradezu einfordern muss. Auch wird immer deutlicher: Je länger die Pandemie andauert, umso schwieriger wird es aufgrund des innenpolitischen Drucks in den Mitgliedsländern, Gelder für die weltweite Pandemiebekämpfung zur Verfügung zu stellen. Die Debatte um den Zugang zu Impfstoffen verdeutlicht dies derzeit in Europa.8
Die Hoffnung liegt jetzt auf der G7 und der G20, kann man doch nun wieder mit den multilateral positiv eingestellten USA zusammenarbeiten. So hat die G20 eine Kommission eingerichtet, in der führende Ökonomen Vorschläge erarbeiten, wie globale öffentliche Gesundheitsgüter – etwa Impfstoffe – oder die Arbeit der WHO verlässlich und ausreichend finanziert werden können. Hier kommt es auch auf die Stimme Deutschlands und der Bundeskanzlerin an – das gilt ebenfalls für den geplanten G20EUGipfel zur globalen Gesundheit im Mai 2021.9
Seit 2005 hat die WHO sechsmal einen internationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen: während des Ausbruchs von H1N1 (der sogenannten Schweinegrippe), von Polio, SARS, des Zika-Virus und zwei Mal wegen eines Ebola-Ausbruchs. Und auf jede dieser Krisen folgten Vorschläge zur Reform der WHO. Wissenschaftler, Thinktanks, Kommissionen und Mitgliedsländer unterbreiteten umfangreiche Empfehlungen, von denen die wenigsten umgesetzt wurden: weil sie die Mitgliedsländer in ihrer Handlungsfreiheit (Souveränität) beschränkt hätten oder weil höhere und regelmäßige Beitragszahlungen an die WHO notwendig gewesen wären.
So verhält es sich auch in der jetzigen Pandemie. Mehrfach wurde vorgeschlagen, die Internationalen Gesundheitsvorschriften (IHR) anzupassen: Insbesondere die Vorschriften in Bezug auf den Personenverkehr und Grenzschließungen bedürfen dringend der Überarbeitung. Doch die Bedenken sind groß, in der derzeitigen geopolitischen Situation die Vorschriften neu zu verhandeln – man könnte mehr verlieren als gewinnen. Im Pandemiefall führt das zu Problemen für die WHO: Sie muss sich an Vorschriften halten, die eigentlich überholt sind, und die Mitgliedstaaten handeln jeder allein für sich.10
Deutschland spielt in den Reformverhandlungen eine wichtige Rolle. Es hat einen Sitz im Exekutivrat der WHO und tritt vehement für eine Erhöhung des Regulärbeitrags ein: Deutschland ist einer der wichtigsten Geldgeber der WHO. Im Rahmen der EU-Zusammenarbeit setzt es sich für eine starke WHO ein und hat gemeinsam mit Frankreich einen umfassenden WHO-Reformvorschlag eingereicht. Die Arbeitsgruppe, die die Internationalen Gesundheitsvorschriften prüft, wird vom Direktor des Robert Koch-Instituts geleitet. Die deutsche Stimme hat großes Gewicht und deshalb auch besonders viel Verantwortung. Daher wird das Verhalten Deutschlands in der Impfpolitik auch besonders genau beobachtet. Es steht viel internationale Glaubwürdigkeit auf dem Spiel.11
Starker Einsatz der Europäischen Union
Die ersten sechs Monate des Jahres 2020 waren sicher ein Annus horribilis für die WHO. Zu allem Überfluss mussten die meisten Treffen und Verhandlungen, auch die konstitutiven Treffen des Exekutivrats sowie die Weltgesundheitsversammlung, virtuell abgehalten werden. Dennoch haben sich neue Konstellationen ergeben. Insbesondere der starke Einsatz der Europäischen Union für die WHO war von entscheidender Bedeutung. Dieser Schulterschluss könnte künftig noch wichtiger werden. Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, hat ein neues internationales Pandemieabkommen angeregt.12 Am 20. Januar 2021 äußerte sich der Generaldirektor der WHO positiv über diese Initiative. Nun sind auf verschiedenen Ebenen Arbeitsgruppen eingerichtet worden, um den Vorschlag weiter auszuarbeiten. Es liegt ein Gefühl in der Luft, dass nur jetzt, während die Krise noch anhält, die Chance auf ein neues gemeinsames Vorgehen besteht. Man will, wie der Soziologe Ulrich Beck es vielleicht ausgedrückt hätte, den kosmopolitischen Moment nutzen.13
Die Kosten mangelnder Solidarität
Für die WHO steht jedoch derzeit nur ein Thema im Vordergrund: der „moralische Bankrott“ bei der globalen Impfstoffverteilung. Den reichen Ländern, so eine aktuelle Studie, wird die Rechnung vorgelegt werden: Die 23 Milliarden US-Dollar, die wegen des Impfnationalismus für ACTA fehlen, werden zu einer globalen ökonomischen Krise führen, die schlussendlich auf 4.000 Milliarden USDollar beziffert wird.14 Mangelnde globale Solidarität ist also nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch wirtschaftspolitisch unverantwortlich.15
Die Daten des Artikels beziehen sich auf Januar 2021.
Ilona Kickbusch, geboren 1948 in München, Gründerin des globalen Gesundheitszentrums („Global Health Centre / Centre de Santé Mondiale“), Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung, Genf (Schweiz).
1 World Health Organization: Listings of WHO’s response to COVID-19, Statement, 29.06.2020, www.who.int/news/item/29-06-2020-covidtimeline [letzter Zugriff: 02.02.2021].
2 Coronavirus-Erkrankung (COVID-19): Veränderung pro Tag, www.google.com/search?client=firefox-bd&q=worldwide+covid+figures [letzter Zugriff: 02.02.2021].
3 Elijah Wolfson: „Trump Said He Would Terminate the U. S. Relationship With the W.H.O. Here’s What That Means“, in: TIME, 04.06.2020, https://time.com/5847505/trump-withdrawal-who/ [letzter Zugriff: 02.02.2021].
4 World Health Organization: How WHO is funded, www.who.int/about/funding [letzter Zugriff: 02.02.2021].
5 The Independent Panel for Pandemic Preparedness & Proposals: An Evidence-based Quest to Protect Human Health, https://theindependentpanel.org/ [letzter Zugriff: 02.02.2021].
6 World Health Organization: Consolidated report by the Director-General, 12.05.2020, https://apps. who.int/gb/ebwha/pdf_files/WHA73/A73_4-en.pdf [letzter Zugriff: 02.02.2021].
7 World Health Organization: The Access to COVID-19 Tools (ACT) Accelerator, www.who.int/initiatives/ act-accelerator [letzter Zugriff: 02.02.2021].
8 Angela Dewan: „A fight between the EU and UK reveals the ugly truth about vaccine nationalism“, in: CNN, 30.01.2021, https://edition.cnn.com/ 2021/01/30/europe/uk-eu-astrazeneca-vaccinenationalism-gbr-intl/index.html [letzter Zugriff: 02.02.2021].
9 Banca d’Italia: The G20 establishes a High Level Independent Panel on financing the Global Commons for Pandemic Preparedness and Response, 27.01.2021, www.bancaditalia.it/media/notizia/ the-g20-establishes-a-high-level-independentpanel-on-financing-the-global-commons/ [letzter Zugriff: 02.02.2021].
10 World Health Organization: International Health Regulations, 2. Aufl., 01.01.2008, www.who.int/ publications/i/item/9789241580410 [letzter Zugriff: 02.02.2021].
11 Priti Patnaik: Interview mit Björn Kümmel, Vice Chair, WHO Executive Board, in: Health Policy Watch, 26.01.2021, https://healthpolicy-watch. news/interview-bjorn-kummel-who-executiveboard/ [letzter Zugriff: 02.02.2021].
12 Europäischer Rat: Press release by President Charles Michel on an international Treaty on Pandemics, Pressemitteilung, 03.12.2020, www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/ 2020/12/03/press-release-by-president-charlesmichel-on-an-international-treaty-on-pandemics/ [letzter Zugriff: 02.02.2021].
13 Domenica Dreyer-Plum: „Corona kosmopolitisch“, in: Die Politische Meinung, Nr. 563, Juli/August 2020, www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/ detail/-/content/corona-kosmopolitisch [letzter Zugriff: 02.02.2021].
14 Cem Çakmaklı et al.: „The Economic Case for Global Vaccinations: An Epidemiological Model with International Production Networks“, in: National Bureau of Economic Research, Januar 2021, www.nber.org/papers/w28395 [letzter Zugriff: 02.02.2021].
15 UN News: WHO chief warns against „catastrophic moral failure“ in COVID-19 vaccine access, 18.01.2021, https://news.un.org/en/story/2021/ 01/1082362 [letzter Zugriff: 02.02.2021].