Die durch das Grundgesetz geschaffene parlamentarisch-repräsentative Demokratie bildet das Fundament unserer heutigen freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Der Parlamentarische Rat hatte aus dem Scheitern der Weimarer Republik gelernt und Konsequenzen gezogen: zum einen den strikten Primat der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, zum anderen die Konstituierung einer parteienstaatlichen Demokratie, die die parlamentarische Demokratie präpariert und zur Verfassungstreue verpflichtet ist (Artikel 21 GG).
Dieses System hat sich bis auf den heutigen Tag bewährt und Deutschland zum ersten Mal in seiner Geschichte eine stabile Demokratie beschert. Dies ändert jedoch nichts daran, dass beide verfassungsrechtlichen Grundkomponenten – Parlamentarismus einerseits und Parteienstaatlichkeit andererseits – heute vor einer ganzen Reihe neuer Herausforderungen stehen, denen man sich stellen muss, soll das Gesamtsystem von parteienstaatlicher und parlamentarischer Demokratie auch künftig funktionieren.
Eine funktionstüchtige parlamentarische und parteienstaatliche Demokratie hat nicht nur das gegebene staatlich-demokratische Herrschaftssystem zu legitimieren und zu organisieren, sie hat darüber hinaus den Prozess der politischen Willens- und Meinungsbildung in der Gesellschaft aufzunehmen, zu filtern und wirksam in die demokratische Staatswillensbildung zu integrieren. Je pluraler, je kontroverser die politischen Meinungsbildungsprozesse in der Gesellschaft werden, desto größer wird diese Aufgabe. Die politischen Parteien müssen sich immer wieder von Neuem den gesellschaftlichen Fragen öffnen, und das Parlament muss ein allseitiges Artikulationswie Integrationsforum für möglichst alle politischen Meinungen in und aus der Gesellschaft bleiben. Beides funktioniert heute nicht mehr so, wie dies sein sollte.
Meinungsstreit um die Mitte
Die politischen Parteien sind zum Teil erstarrt, sie sind allzu professionalisiert und pflegen bisweilen einen meinungsabschottenden Bürokratismus. Zu den herausragenden Stabilitätsfaktoren der grundgesetzlichen Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten gehörte die Entwicklung vor allem von CDU/CSU und SPD zu wirklichen Volksparteien. Volksparteien sind dadurch gekennzeichnet, dass sie in besonders umfassender Weise unterschiedliche politische Meinungen wie Interessen schon im vorstaatlichen Bereich aufzunehmen und zu integrieren imstande sind. Diese Fähigkeit der beiden großen Volksparteien hat deutlich nachgelassen. Am deutlichsten wird dies im Kampf der Volksparteien um die sogenannte Mitte. Die „politische Mitte“ entwickelt unbestreitbar ein hohes Maß an Stabilität und integraler Bindungskraft. Andererseits ist „Mitte“ jedoch kein schlichtes Blankett. „Politische Mitte“ bedingt stets auch Meinungsstreit, Wettbewerb und sich immer wieder erneuernde programmatische Sinnschärfung. Betrachtet man die beiden großen Volksparteien heute aus diesem Blickwinkel, so muss ein zunehmendes Verblassen in der jeweiligen Programmatik sowie eine mangelnde Artikulationsfähigkeit festgestellt werden. Programmatische Schwäche, Verwischung und Uniformierung überlagern zunehmend den notwendigen politischen Meinungsstreit. An den massiv zurückgehenden Wählerzahlen beider Volksparteien lässt sich dies ablesen. Mit gut zwanzig Prozent der Wähler nennt man sich, wie die SPD in Berlin, Wahlsieger; und wenn beide großen Volksparteien heute zusammen allenfalls noch sechzig Prozent der Wähler zu mobilisieren vermögen, so spricht dies Bände. Wo bleibt das übrige Drittel der Bevölkerung?
Beschwichtigend und nur scheinbar besorgt wird demgegenüber gerne über die „Politikverdrossenheit“ der Bürger geklagt. In Wahrheit gibt es diese gar nicht. Was es gibt, ist schlicht eine wachsende „Parteienverdrossenheit“ und ein wachsendes Misstrauen gegenüber den etablierten politischen Eliten. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass mit dem Auftreten der AfD die Wahlbeteiligung wieder angestiegen ist. Viele Bürger, die den etablierten Parteien nicht mehr trauen oder folgen wollten, suchten und fanden dort ein Ventil für ihr oppositionelles Engagement. Die etablierten Parteien müssen den Wettbewerb um diese Wählerstimmen annehmen, sie müssen verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen; und dies heißt vor allem, dass sie sich thematisch wie programmatisch öffnen müssen. Tatsächlich geschieht aber das Gegenteil. Da wird nur noch von angeblichem „Rechtspopulismus“ oder gar von „Dumpfbacken“ oder Ähnlichem gesprochen. Mit anderen Worten: Es findet eine Publikums-, um nicht zu sagen Wählerbeschimpfung statt; und dies gegenüber einer Partei mit zweistelligen Wahlergebnissen! Das ist kein legitimer demokratischer Stil. Solches Gebaren wird zu weiterer Ablehnung der etablierten Parteien führen – zum Schaden der parlamentarischen Demokratie insgesamt.
Parlamentarismus und soziale Medien
Die Mehrheit der Bürger ist nicht politikverdrossen, wie auch die neuen Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung und der sozialen Medien zeigen. Neue Artikulationsformen und -foren für die politische Meinungs- und Willensbildung haben sich dort entwickelt, durch die eine parteipolitische Öffnung und argumentativ offene Auseinandersetzung erforderlich geworden ist. Dies gilt auch für den Parlamentarismus, selbst wenn die Nutzung der sozialen Medien von vielfältigem Missbrauch, wie Gewaltverherrlichung oder Diskriminierung, mitbestimmt wird. Unser parlamentarisches System muss sich auf die sozialen Medien einstellen und diese für den Meinungsbildungsprozess nutzen. Das parlamentarische System lässt sich mit Sicherheit nicht als solches digitalisieren, von möglichen Nutzungen im Wahlrecht einmal abgesehen. Aber auch die politische Debatte braucht heute ihr soziales Medium, ihre digitale Plattform, ihre digitale Vermittlung oder Wiedergabe. So könnte über eine adäquate Nutzung der sozialen Medien auch das Parlament in vielfältiger Hinsicht ein Mehr an Bürgernähe gewinnen.
Zu den tradierten Grundmaximen der beiden großen Volksparteien CDU/CSU und SPD gehörte die Überzeugung, dass an ihren Rändern möglichst keine extrem rechts oder extrem links orientierten Gruppierungen entstehen dürften. Dieses Prinzip ist in den vergangenen Jahren vernachlässigt worden. Die SPD hat bereits das Entstehen der Grünen, angefangen mit der außerparlamentarischen Opposition, und der Linken nicht verhindert; und die CDU/CSU ist heute dabei, das Gleiche im Falle der AfD zu tun. Wieder fällt den etablierten Parteien nichts anderes ein, als von einem angeblich illegitimen „Populismus“ zu sprechen. Drückt Populismus indessen nicht nur das Empfinden vieler Bürger dafür aus, dass man im gegebenen Parteien- und Parlamentssystem eine identifikationsfähige Opposition vermisst? Vieles spricht dafür, nicht zuletzt der fast sensationell zu nennende Aufstieg der AfD zu einer Partei mit zweistelligen Wahlergebnissen.
Irrweg plebiszitäre Demokratie
Das Bild der heutigen Gesellschaft ist differenzierter, flexibler, spontaner und auch volatiler geworden. Dies zu beklagen führt jedoch nicht weiter. Im Gegenteil, es bedarf ebenso klarer wie überzeugender politischer Antworten, um möglichst viele Bürger für das etablierte Parteienspektrum wiederzugewinnen. Eine funktionstüchtige und vitale parlamentarische Demokratie verfügt über alle Voraussetzungen, um dies zu leisten. Ein Irrweg stellt demgegenüber die wieder vielfältig erhobene Forderung nach (mehr) Plebisziten dar. Die plebiszitäre Demokratie mit Volksbegehren und Volksentscheiden stellt keine Alternative zur repräsentativen Demokratie dar. Plebiszite sind nicht dazu geeignet, der politischen Komplexität gerecht zu werden. Plebiszite sind häufig nur Einfallstor für Agitation statt rationaler politischer Willensbildung. Plebiszite bedeuten in Wahrheit den Einstieg in Formen der Minderheitsstatt der allein maßgebenden Mehrheitsdemokratie, verfolgen sie in der Regel doch nur selektive (Minderheits-)Interessen. Plebiszite auf regionaler oder kommunaler Ebene mögen demgegenüber durchaus sinnvoll und sachgerecht sein. Auf der Bundesebene stellen sie keine funktionstaugliche Alternative dar. Allenfalls könnte daran gedacht werden, Formen der Volksbefragung oder der Volksinitiative in das parlamentarische Verfassungssystem aufzunehmen – zur informativen Stärkung parlamentarischer Gremien.
Der Parlamentarismus steht vor neuen Herausforderungen und der Notwendigkeit einer erneuerten und erweiterten Selbstvergewisserung. Dem Parlament steht als Träger der Legislative der Primat politischer Gestaltung und staatlicher Willensbildung zu. Dieser Primat muss behauptet und wahrgenommen werden. Das Parlament setzt sich zwar – mit Recht – aus den Fraktionen der politischen Parteien zusammen und kann nur über deren Organisationskraft funktionieren. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Parlament die eigene Rolle und die eigene Dominanz in Selbstverständnis wie politischer Artikulation behaupten muss.
Wachsende Schwierigkeiten gibt es vor allem im Verhältnis zur Regierung beziehungsweise Exekutive. Ein Hauptproblem liegt in den Balanceverschiebungen zwischen Legislative einerseits und Exekutive andererseits. Aufgrund der supranationalen Entwicklungen der europäischen Rechtsetzung werden die nationalen Gesetzgebungen zunehmend überspielt oder sogar verdrängt. Der Expansionismus der Brüsseler Bürokratien verdrängt die Regelungshoheiten der nationalen Parlamente immer stärker und verweist diese nur allzu oft auf bloße Vollzugsfunktionen. Hierin liegt nicht nur ein zentrales Krisensymptom im Prozess der europäischen Einigung, sondern auch eine wachsende Gefahr für die parlamentarischen Demokratien der Mitgliedsstaaten, die in Wahrheit die eigentlichen Träger und Vermittler aller nicht nur nationalen, sondern auch supranationalen Hoheitsbefugnisse sind. Man denke nur an die laufenden Maßnahmen zur Überwindung der Eurokrise.
Es sind die Regierungen, die Kommission und die Europäische Zentralbank, die zum Teil ohne ein parlamentarisch-demokratisches Mandat über Milliardentransfers entscheiden. Von parlamentarischer Haushaltshoheit kann kaum noch die Rede sein.
Parlament und Exekutive
Ein anderes Problem liegt innerhalb des nationalen Parlamentssystems selbst. Ein Parlament darf sich niemals als verlängerter Arm der Exekutive verstehen. Insbesondere in Zeiten Großer Koalitionen mit breiten parlamentarischen Mehrheiten wächst die Gefahr, sich nur noch als verlängerter Arm der Regierung zu verstehen. Diese Tendenzen schaden nicht nur dem Parlamentarismus, sondern sie gefährden das Gesamtsystem der verfassungsrechtlich vorgegebenen Gewaltenteilung und ihres Bekenntnisses zum legislatorischen Primat des Parlaments.
Ein funktionstüchtiges Parlament muss des Weiteren immer bereit und offen für alle politischen Meinungs- und Willensbildungsprozesse in der Gesellschaft sein. Die parlamentarische Debatte muss ein stetiges und ebenso integrales wie kritisches Spiegelbild der Gesellschaft sein, sie muss den Stil der politischen Auseinandersetzung bestimmen. Auch dies hat der Deutsche Bundestag mitunter vergessen. Man denke nur daran, dass eines der zentralen Themen der aktuellen Politik, die Flüchtlingskrise und die damit im Zusammenhang stehenden Sorgen und Ängste in der Bevölkerung, im Deutschen Bundestag bis auf den heutigen Tag kein einziges Mal in wirklich grundlegender und problemoffener Weise diskutiert worden ist. Der Bundestag hat wichtige Entscheidungen seit 2015 in einseitiger Weise der Exekutive überlassen, obwohl vermutlich kein anderes Thema vonseiten der Bevölkerung eine parlamentarisch-verantwortliche und umfassende Diskussion gefordert hätte. Fragen nach der Nation, nach der eigenen Heimat und der eigenen nationalen Identität gehören in den Bundestag. Der demgegenüber immer wieder angeführte Verweis auf die „Globalisierung“ enthebt von dieser Pflicht nicht – ganz zu schweigen von den zwei- bis dreistelligen Milliardenbeträgen, die für die Aufnahme Hunderttausender von Flüchtlingen aufzuwenden sind.
Alles in allem hat sich die parlamentarisch-repräsentative und parteienstaatliche Demokratie des Grundgesetzes insgesamt außerordentlich bewährt. Dies gilt auch für das über Jahrzehnte stabile demokratische Bewusstsein in unserem Lande. Aber kritische Symptome und einzelne Alarmsignale haben sich in den letzten Jahren gehäuft. Auf diese Tendenzen und Symptome müssen bald die richtigen Antworten gegeben werden.
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Rupert Scholz, geboren 1937 in Berlin, Professor emeritus an der Juristischen Fakultät der Universität München, Of Counsel in der Rechtsanwaltskanzlei Gleiss Lutz.