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Interview: Auenland und Grauenland

Stephan Grünewald über mangelnde Wertschätzung, die Aufgewühltheit der Deutschen und die „Fridays for Future“-Bewegung

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Am 11. März 2020 hat die Weltgesundheitsorganisation die Verbreitung des Coronavirus als Pandemie eingestuft. In Deutschland ist das gesellschaftliche Leben weitgehend zum Erliegen gekommen. Wie geht es den Deutschen im Augenblick?

Stephan Grünewald: Wir sind an einem Wendepunkt angelangt. Die letzten Wochen waren durch das Gefühl bestimmt, einer Bedrohung ausgesetzt zu sein, die nicht wahrnehmbar ist, die man nicht riechen, nicht schmecken, nicht fühlen kann. Das setzt Ohnmachtsgefühle frei, und das mögen die Menschen nicht. Das Hauptthema war, wie wir aus dieser Ohnmacht herauskommen können. Ein erster Schritt ist, wir waschen die Hände, wir hamstern Vorräte und beweisen dadurch unsere Handlungsfähigkeit. Das hat sich auch in den Medien und in der Politik gespiegelt. Die Politiker haben gezeigt, wir sind nicht ohnmächtig, sondern wir können aktiv Vorsorge treffen. Dadurch sind wir in eine Maßnahmenspirale gekommen, die bis zur Kontaktsperre geführt hat.

 

Hat die Coronakrise die Brüche und Spaltungen in der Gesellschaft völlig überlagert?

Stephan Grünewald: Bislang haben wir die Krise als Kollektivschicksal gesehen, und die Bevölkerung, aber auch alle Parteien haben mitgezogen. Natürlich gab es auch Verschwörungstheorien – das ist Panikmache. In letzter Konsequenz haben sich aber mehr oder weniger alle an die Einschränkungen gehalten. Jetzt treten wir in eine neue Phase ein, in der Polarisierungen zutage treten werden, die vorher in der Gesellschaft vorhanden waren.

 

Vor der Coronakrise hatte man das Gefühl, die Gesellschaft fällt immer weiter auseinander. In Ihrem neuen Buch „Wie tickt Deutschland?“ sprechen Sie von Unzufriedenheit, innerer Aufgewühltheit und Wut in der Bevölkerung. In welcher Verfassung sind die Deutschen?

Stephan Grünewald: Die Menschen möchten ein homogenes Miteinander haben, aber viele haben das Gefühl, die Eliten kämpfen nicht für Lohngleichheit und gleiche Bildungsstandards, sondern schauen etwas hochnäsig auf den gemeinen Bürger herab, der weiterhin Fleischberge auf den Grill hievt, Alkohol trinkt, Zigaretten raucht, Süßigkeiten verputzt, Diesel fährt und Fernsehen guckt. Das heißt, in dieser Gesellschaft gibt es Spaltungs- und Wertschätzungsprobleme, die in den nächsten Wochen wieder stärker werden, da die Gesellschaft jetzt realisiert: Wir sind auch angesichts der Coronakrise nicht gleich, sondern die einen profitieren von der Krise und die anderen sind komplett lahmgelegt oder stehen kurz vor dem Existenzminimum.

 

Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends hat zu einem gesellschaftlichen Klimawandel geführt. Woran kann man das beobachten?

Stephan Grünewald: Neben der Wertschätzungskrise hatten wir eine Orientierungskrise. Das letzte Jahrzehnt war durch Große Koalitionen und durch eine Bundeskanzlerin gekennzeichnet, die als „Mutter Merkel“ als oberste Wächterin des deutschen Auenlandes fungierte. Mit deutschem Auenland meine ich ein Gefühl, dass Deutschland eines der letzten Paradiese ist: Wir haben eine halbwegs intakte Gesundheitsversorgung, eine florierende Wirtschaft und niedrige Arbeitslosenzahlen. Diese Saturiertheit, in die wir als Gesellschaft geraten sind, hat dazu geführt, dass die Menschen ihre Welt aufgespalten haben; einerseits in das Auenland und andererseits in das Grauenland. Alles, was vor Corona als bedrohlich erschienen ist, wurde von uns weggeschoben ins Grauenland, beispielsweise der Terrorismus, die Flüchtlingskrise, der Klimawandel. Jetzt erleben wir zum ersten Mal, dass man das nicht trennen kann, dass das Grauenland ins Auenland einbricht.

Diese Auenland-Saturiertheit führte vor der Coronakrise dazu, dass wir uns ungemein schwer damit getan haben, eine Veränderungsbereitschaft zu entwickeln. Wir waren in einem Zustand, wo wir am liebsten die Zeit angehalten und uns in einer permanenten Gegenwart verbunkert hätten. Die Verwandlungsenergie, die im Land schlummerte, wurde nicht kanalisiert, sondern tobte sich zum Teil in Übersprunghandlungen und in Hasstiraden an den Rändern aus.

 

Sie bezeichnen den Mangel an Wertschätzung als Spaltpilz des Zusammenhalts in der Gesellschaft. Ist mangelnde Wertschätzung der Hauptgrund, warum unsere Gesellschaft in einer angespannten Verfasstheit ist?

Stephan Grünewald: Die Aufgewühltheit, die ich in meinem Buch konstatiert habe, rührt nicht nur von der mangelnden Wertschätzung her, sondern auch von dieser Auenland-Saturiertheit, die dazu führt, dass die Verwandlungs- und Gestaltungsenergien so seltsam ausgebremst wurden. Die Aufgewühltheit hängt auch mit der Orientierungskrise zusammen. Wir haben den inneren Kompass verloren, wir wissen nicht mehr, was programmatisch richtig und wichtig ist. Das führt zu Verschwörungstheorien und zu Radikalisierungen als Versuch, wieder eine einfache Orientierung zurückzugewinnen.

Großen Einfluss hat die Digitalisierung mit ihren Heilsversprechen, dass wir alle über das Smartphone einen magischen Zeigefinger haben und dass alle Prozesse, die früher mühselig waren, jetzt im Handstreich ermöglicht werden können. Dadurch sinkt die Duldsamkeit für das Analoge, das immer noch kleinteilig und mühselig ist. Diese Gemengelage führt zu Unruhe und Aufgewühltheit. Die Bürger haben das Gefühl, es gibt keine gemeinsamen Anstrengungen und Visionen mehr, und ein Teil der Gesellschaft glaubt, die Welt wäre besser, wenn der andere Teil entweder gar nicht da wäre oder sein Leben komplett umstellen könnte. Die einen sagen, wenn wir jetzt die grünen Moralapostel nicht mehr hätten, dann wäre das Leben einfacher und besser, und die anderen sagen dies mit Blick auf all die Dieselfahrer und Fleischverputzer. Das heißt, wir haben einen ideellen Kampf zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus.

 

Woran wird die mangelnde Wertschätzung sichtbar?

Stephan Grünewald: In der materiellen Ebene ist diese Wertschätzungskrise konkret erfahrbar. Wenn Menschen ihr Geld zur Bank bringen – Geld repräsentiert die Lebens- und Arbeitsleistung – und es wirft keine Zinsen mehr ab, dann wird das auch als Entwertung erlebt. Wenn in den Ballungsgebieten die Menschen das Gefühl haben, der Wohnraum ist nicht finanzierbar, dann fühlen sie sich wie Vertriebene im eigenen Land. Wenn Menschen das Gefühl haben, dass es, wenn man alt wird, einen Pflegenotstand gibt, dann führt das zu Verwerfungen.

 

Wird sich die gesellschaftliche Spaltung nach der Coronakrise weiter zuspitzen, oder können die Gräben auch wieder zugeschüttet werden?

Stephan Grünewald: Ich beschreibe in meinem Buch zwei Szenarien: zum einen ein produktives Erwachen, das mit der Rückbesinnung einhergeht, dass Demokratie auch Streit und Auseinandersetzung bedeutet. Diese Auseinandersetzungsprozesse sind zwar langwierig, aber sie führen dazu, dass wir immer wieder einen Perspektivwechsel ermöglichen, der in der Lage ist, auch die andere Seite zu verstehen. So kann es zu Kompromissen und Befriedungsangeboten kommen, die für alle tragfähig sind. Das zweite Szenario wäre ein böses Erwachen mit einem zivilisatorischen Rückfall in eine totemistische Kultur, in der es wieder einen „Führerkult“ und vorgebliche Lösungen für die Ewigkeit gibt und die Menschen über das Totemtier, über den „Führer“, eine fast versessene Verbundenheit verspüren wollen.

 

Was ist das wahrscheinlichere Szenario?

Stephan Grünewald: Die Coronakrise kann dazu führen, dass wir in eine produktive Rückbesinnung kommen. Im Moment erleben wir einen Zuwachs des Vertrauens in die Politiker, die bereit sind, auch unbequeme Maßnahmen zu treffen. Wir spüren auch Solidarität und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. Eine Krise kann auch immer dazu führen, dass sich eine Gesellschaft wieder auf das besinnt, was ihr wichtig ist, und dass ein neues Gemeinschaftsgefühl entsteht. Im Moment sind wir in einer kippeligen Phase. Es könnten auch Stimmen laut werden, die die Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 für vollkommen unangemessen halten, sodass letztendlich zwei Lager entstehen, die auch parteipolitisch besetzt werden. Die einen sagen, das ist alles komplett übertrieben, lasst uns jetzt auf Herdenimmunität machen und hoffen, dass das möglichst schnell durchgestanden ist. Und die anderen, die die Maßnahmen für angemessen erachten, sind bereit, das erst einmal gemeinsam durchzustehen.

 

Wie kann man den Spaltungstendenzen in der Gesellschaft entgegenwirken?

Stephan Grünewald: Gemeinschaft entsteht, wenn es gemeinsame Projekte gibt, sprich Visionen, wo alle das Gefühl haben, das verbindet uns und da kann jeder auch persönlich seinen Beitrag leisten. Aber auch gemeinsame Bedrohungen, wie wir sie jetzt erleben, können so eine Kraft haben. Wenn das wegfällt, wenn wir in dieser permanenten Gegenwart sind, wenn es keine gemeinsamen politischen Überzeugungen mehr gibt, sondern großkoalitionäre Orientierungslosigkeit, dann driftet die Gesellschaft in Polarisierungen und Radikalisierungen ab, und das verschärft die Wertschätzungskrise.

 

Zu den großen gesellschaftlichen Debatten gehört der Klimawandel. Die „Fridays for Future“­Bewegung spielt eine wichtige Rolle, und sie hat auch zwischen den Generationen polarisiert. Was motiviert sie dazu?

Stephan Grünewald: Wir haben hierzu letztes Jahr Tiefeninterviews durchgeführt und Studien erstellt. Ein Generationenkonflikt lässt sich nicht erkennen. Die jungen Leute sind komplett anders drauf als die 68er-Bewegung. Die 68er hatten das Gefühl, in einer bornierten und betonierten Welt zu leben – mit Eltern, die autoritär sind. Man wollte eine andere Welt und den Bruch mit dem Alten.

Jetzt haben wir eine Jugend, die findet ihre Eltern ganz nett, annehmbar und tolerant. Diese Jugendlichen wollen die Welt, so wie sie ist, erhalten. Es geht im Grunde darum, einen Wandel zu verhindern – sowohl den Klimawandel als auch einen gesellschaftlichen Wandel, weil die meisten Jugendlichen das Auenland auch als paradiesisch erleben. Die Jugendlichen sind in einer Bereitstellungskultur, die ihnen ungeheuer viele Möglichkeiten eröffnet, wo sie eine große Wahl jenseits der prekären Verhältnisse an Versorgtheit erleben. Der einzige Kritikpunkt ist, dass man das Gefühl hat, die erwachsene Welt hat einen anderen zeitlichen Horizont im Blick, und die guckt nicht über ihre Lebenslaufzeit hinaus. Da sagt die junge Generation, wir starten einen Weckruf dergestalt, dass wir die Alten darauf aufmerksam machen, da ist etwas im Argen. Aber das führt nicht zu einer Fundamentalkritik, sondern die jungen Leute sagen, wir trauen den Alten zu, die haben die Kompetenz, die haben das Know-how und auch die Macht, an diesen Zuständen etwas zu ändern.

 

Ist die „Fridays for Future“­Bewegung also generationenübergreifend?

Stephan Grünewald: Die Idealvorstellung ist nicht der Bruch der Generationen, sondern dass man freitags mit den Eltern, Großeltern und Lehrern sozusagen händchenhaltend für den Klimawandel auf die Straße geht. Wenn man dann mit Erwachsenen spricht, sagen die: Ja, wir sind froh, dass es jetzt eine junge Generation gibt, die sich wieder ein bisschen politisiert. Und wir glauben, wenn die irgendwann Verantwortung tragen, werden sie schon etwas ändern. Das heißt, wir haben keinen Konflikt, sondern wir haben eine Betroffenheitssymbiose, wo die Jungen darauf bauen, dass die Älteren auf den Weckruf reagieren, und die Älteren darauf bauen, dass die Jugend reagiert, wenn sie etwas reifer und etablierter geworden ist.

 

Trotzdem hat man den Eindruck, dass der Umgang miteinander manchmal sehr konfrontativ ist.

Stephan Grünewald: Ja, aber das ist keine Generationenfrage, sondern es ist eine Frage der politischen Haltung. Das entspinnt sich an ähnlichen Linien, die auch in der Flüchtlingskrise zu Wertschätzungsproblemen und zu Spaltungstendenzen geführt haben. Ein Politiker hat das auf die Formel gebracht, dass manche Bürger mehr Angst vor dem Monatsende als vor dem Ende der Welt haben. Für jeden, der drei Jobs hat, der in prekären Verhältnissen lebt, der jetzt in der Coronakrise vor dem Existenzkollaps steht, ist der Klimawandel eher ein fernes oder abstraktes Problem, während es für andere eine ernst zu nehmende und fundamentale Herausforderung ist. Das ist aber keine Sache, die man an den Generationen festmachen kann. Wir finden auch unter den Jugendlichen Leute, die „Fridays for Future“ für Humbug halten und lieber eine Party machen oder arbeiten gehen.

 

Wie wird es mit der Bewegung weiter­ gehen? Ist es denkbar, dass „Fridays for Future“ nach der Coronakrise nicht mehr existiert?

Stephan Grünewald: Die Coronakrise wird das überlagern. Wir machen in dieser Krise auch die Erfahrung, dass „heilige Kühe“ und Selbstverständlichkeiten, die bisher als unverzichtbar galten, in Rekordzeit geschlachtet werden. Hinsichtlich der Maßnahmen gegen den Klimawandel galt: Wir können diesen nur verhindern, wenn wir uns auf einen Wandel einlassen und anders mit unseren Ressourcen umgehen. Das machen wir jetzt seit Wochen.

Die Frage ist, wie sich die Gesellschaft nach der Coronakrise aufstellt. Bei einem Wirtschaftskollaps sind den Menschen finanzielle Sorgen näher als die Klimafrage. Es kann sein, dass wir aus der Krise etwas mitnehmen, dass wir die Erfahrung gemacht haben, wir sind verzichtsfähig, und weniger kann durchaus mehr sein. Es kann aber auch sein, dass wir in eine Situation hineinschlingern, wo es für viele in den nächsten Jahren darum geht, das alltägliche Überleben zu sichern. Und dann spielt der Klimawandel erst einmal keine Rolle.

 

Halten Sie es für möglich, dass sich die „Fridays for Future“­Bewegung radikalisiert?

Stephan Grünewald: Es gibt drei Szenarien, was diese Bewegung angeht: Das erste ist, sie verstetigt sich, und steter Tropfen höhlt den Stein. Das zweite ist, sie merkt, sie kommt nur aus der Betroffenheitssymbiose heraus, indem sie sich radikalisiert. Dadurch kündigt sie aber auch diesen händchenhaltenden generationsübergreifenden Konsens auf. Und das dritte Szenario, das schon vor der Coronakrise ansatzweise spürbar war, ist, dass die Bewegung langsam diffundiert. Teile der Bewegung scheinen sich zu erschöpfen, andere sich zu radikalisieren.

 

Stephan Grünewald, geboren 1960 in Mönchengladbach, Psychologe, Buchautor, Gründer und Geschäftsführer des „rheingold institut“ (Markt- und Medienforschung), Köln.

Im Jahr 2019 erschien sein Buch „Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft“ (Kiepenheuer & Witsch).

 

Das Gespräch führte Ralf Thomas Baus telefonisch am 24. März 2020.

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