Kinder und Jugendliche wachsen heute unter deutlich anderen Bedingungen auf als ihre Eltern und erst recht ihre Großeltern. Schon ein Blick auf die Bevölkerungspyramide zeigt, wie sich mit dem Geburtenrückgang und bei gleichzeitiger Steigerung der Lebenserwartung das Verhältnis der Generationen verschoben hat. Hatten junge Menschen unter zwanzig Jahren vor fünfzig Jahren einen Anteil von dreißig Prozent an der Gesamtbevölkerung, so sind es heute nur neunzehn Prozent. Der Anteil älterer Menschen ab 67 Jahren ist im Gegenzug von zwölf auf zwanzig Prozent gestiegen. Damit sind Kinder und Jugendliche zu einem raren und besonders kostbaren Gut geworden – nicht nur für ihre Eltern, sondern auch für die Gesellschaft, die mit einem beträchtlichen Fachkräftemangel zu kämpfen hat und die um die Rentensicherung bangt. Gleichzeitig verschieben sich die politischen Gewichte, die durch Wählerstimmen bestimmt sind.
Familien sind vielfältiger geworden und werden in ihrer Vielfalt heute stärker akzeptiert, die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind heute harmonischer und konfliktfreier als in der Vergangenheit, und das Bildungssystem bietet Kindern deutlich mehr Chancen der Bildungsförderung, während es sich zugleich um Inklusion und den Abbau von Bildungsdisparitäten je nach sozialer Herkunft bemüht.
Es gibt aber auch die Schattenseiten ungelöster und neuer Probleme. Noch ist es nicht gelungen, Kinderarmut erfolgreich zu bekämpfen. Die Integration von Kindern aus Zuwanderungsfamilien in unser Bildungssystem ist nach wie vor mit beträchtlichen Herausforderungen verbunden, und die Corona-Pandemie hat bei vielen Kindern und Jugendlichen tiefe Spuren hinterlassen. Dass Kinder eine besondere Vulnerabilität gegenüber fehlenden Entwicklungsanregungen und Stress in der Familie aufweisen, dass sie in besonderer Weise auf die Routinen des sozialen Miteinanders und Lernens in Kindertagesbetreuung und Schule angewiesen sind, ist zu spät in das allgemeine Bewusstsein gerückt.
Mehr Familienformen, bessere Erwerbsintegration
Wie der Neunte Familienbericht der Bundesregierung aufzeigt, wachsen Kinder heute in einer zunehmenden Vielfalt von Familienformen auf. Trenddaten verdeutlichen, dass es normaler geworden ist, zum Zeitpunkt der Geburt unverheiratete Eltern zu haben. Immerhin sind die Eltern bei rund jeder dritten Geburt in Deutschland heute nicht miteinander verheiratet, vor allem in Ostdeutschland, wo der Anteil nichtehelicher Geburten rund doppelt so hoch ist wie in Westdeutschland. Allerdings ist auch der Anteil der Kinder, deren Mutter schon bei der Geburt alleinerziehend ist, im Osten höher als im Westen (Erstgeborene: elf Prozent versus sieben Prozent), und auch die Instabilität von Paarbeziehungen mit Kind fällt im Osten etwas höher aus als im Westen. Mehr als jedes dritte erstgeborene Kind hat im Osten bei seinem zehnten Geburtstag getrennte Eltern (36 Prozent), während dies im Westen nur für rund jedes vierte Kind gilt (26 Prozent).
Familienformen fallen heute weitaus weniger in die Waagschale, wenn es darum geht, welche Lebensform überhaupt als Familie gelten kann. Für die Mehrheit ist Familie dort, wo auch Kinder sind. Nicht nur die klassische Kernfamilie eines gegengeschlechtlichen Paars mit leiblichen Kindern, sondern auch Stieffamilien und gleichgeschlechtliche Paare mit Kind(ern) werden von der großen Mehrheit der Bevölkerung (mehr als achtzig Prozent) als Familie gesehen. Als Trennungskind bei einem alleinerziehenden Elternteil aufzuwachsen, ist heute kaum noch stigmatisierend. Es ist jedoch nach wie vor mit deutlich erhöhten Armutsrisiken und weiteren Erschwernissen des Familienlebens verbunden. Auch wenn einige Befunde nahelegen, dass es getrennten Eltern heute häufiger gelingt, miteinander zu kooperieren, spielen offene und verdeckte Konflikte durchaus eine Rolle und belasten die Kinder (Walper/ Langmeyer, 2019).
Armut von Kindern und Jugendlichen ist immer Familienarmut. Wo die Eltern weniger als sechzig Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens erwirtschaften, besteht ein Armutsrisiko. Laut Mikrozensus war 2018 jede/jeder fünfte Minderjährige von einem Armutsrisiko betroffen, und unter den jungen Erwachsenen zwischen achtzehn und 24 Jahren war es sogar jede/ jeder vierte, während das Armutsrisiko der Seniorinnen und Senioren bei nur 14,7 Prozent lag. Unter Alleinerziehenden mussten sogar 41,5 Prozent mit einem Einkommen unterhalb der Armutsrisikoschwelle auskommen, verglichen mit rund zehn Prozent der Paare mit einem oder zwei Kindern.
Da Armut eng an die Erwerbssituation der Familie gekoppelt ist, kommt der Erwerbsintegration von Eltern eine zentrale Bedeutung zu. Aber auch die Frage gleichberechtigter Aufgabenteilung von Müttern und Vätern ist tangiert: Kinder wachsen heute weitaus häufiger mit einer erwerbstätigen Mutter auf, als dies noch vor 25 Jahren der Fall war, und ihre Väter betreuen sie häufiger während der Elternzeit. Bundesweit vierzig Prozent der Väter nehmen Elterngeld in Anspruch, wenn auch zumeist nur für wenige Monate, während neunzig Prozent der Mütter zehn bis zwölf Monate das Elterngeld nutzen. Mit dem Ausbau der Kindertagesbetreuung auch für Kleinkinder konnte 2019 rund die Hälfte der 20- bis 49-jährigen Mütter mit ein oder zwei Kindern unter sechs Jahren im Haushalt eine Erwerbstätigkeit realisieren. Allerdings ist die Mehrheit erwerbstätiger Mütter mit jüngeren Kindern (bis 12 Jahre) teilzeitbeschäftigt, mit 69 Prozent in Deutschland deutlich häufiger als im Durchschnitt der Europäischen Union (34 Prozent, jeweils 2020).
„Erwärmung“ des Familienklimas
Gleichzeitig zeigt sich ein weiterer Trend, der im Neunten Familienbericht ausführlich diskutiert wird: Trotz steigender Erwerbsbeteiligung von Müttern und trotz des Ausbaus von Betreuungsangeboten für Kinder vor und neben der Schule sind die zeitlichen Investitionen von Eltern in die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder gestiegen, und zwar nicht nur aufseiten der Väter, sondern auch seitens der Mütter. Dies reflektiert eine Intensivierung von Elternschaft, die eng mit dem Leitbild kindzentrierter Erziehung und steigenden Ansprüchen an die Förderung von Kindern auch in der Familie verbunden ist. Bedürfnisse und Wünsche von Kindern stehen stärker im Vordergrund des Familienlebens als bei früheren Generationen; es wird mehr verhandelt als angeordnet, und Kinder erfahren insbesondere die Familie als den Kontext, in dem ihre Stimme gehört wird.
Dies hat wesentlich zu einer „Erwärmung“ des Familienklimas beigetragen. Entsprechend hoch fällt auch die Zufriedenheit mit dem Familienleben aus, nicht nur unter Erwachsenen, die 2017 zu 94 Prozent mit ihrem Familienleben zufrieden waren – Deutschland lag damit über dem Durchschnitt der Europäischen Union (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2017, S. 36 f.) –, sondern auch unter Jugendlichen, wie die Shell Jugendstudie regelmäßig ausweist (Wolfert/Quenzel, 2019). Allerdings stellte die Corona-Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen eine große Herausforderung für Familien und nicht zuletzt für Kinder und Jugendliche dar.
Kindertagesstätten und Schulen als „soziales Biotop“
Die Lebenswelten von Kindern werden nicht nur durch die Familie bestimmt, sondern zunehmend von den Betreuungseinrichtungen, in denen sie heute in jüngerem Alter und über längere Zeiten des Tages hinweg betreut werden. Der Kindergartenbesuch gehört schon seit Längerem zur Normalbiographie von Kindern in ganz Deutschland. Bereits 2006 lag die Teilhabequote für drei- bis fünfjährige Kinder an der Kindertagesbetreuung in Ostdeutschland bei 92 Prozent und in Westdeutschland bei 87 Prozent; sie stieg bis 2019 auf 94 beziehungsweise 93 Prozent (Deutscher Bundestag, 2021, S. 331). Für jüngere Kinder bestand demgegenüber noch beträchtlicher ungedeckter Betreuungsbedarf. Mit dem frühzeitig angestoßenen Ausbau des Angebots stieg auch die Inanspruchnahme. Zwischen 2006 und 2019 hat sich die Zahl der Kinder im Alter unter drei Jahren, die an Kindertagesbetreuung teilhatten, fast verdreifacht, wobei die Betreuungsquoten im Osten nach wie vor deutlich höher ausfallen (2018: 52 Prozent versus 29 Prozent). In beiden Regionen eilen allerdings die steigenden Betreuungsbedarfe von Eltern den ebenfalls steigenden Betreuungsquoten voraus.
Die Kindertagesbetreuung ist auf weit mehr als nur Betreuung ausgerichtet. Sie hat den Auftrag, die kindliche Entwicklung zu fördern, die Erziehung und Bildung in der Familie zu unterstützen und zu ergänzen und die Erwerbsbeteiligung der Eltern zu ermöglichen. Vor allem versteht sie sich als Teil des Bildungssystems und steht vor der Aufgabe, frühe Bildungschancen zu nutzen und die ausgeprägten Bildungsdisparitäten je nach sozialer Herkunft abzubauen. Die Sprachförderung wurde insbesondere in Kitas mit hohem Anteil von Kindern aus Zuwanderungsfamilien ausgeweitet. Die Qualifizierung von Fachkräften wurde mit der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogischer Fachkräfte (WiFF) vorangebracht. Allerdings beherrscht derzeit der Fachkräftemangel die Diskussion um Qualität in der frühen Bildung.
Auch Schulen stehen vor analogen Problemen. Die Heterogenität der Schülerschaft erschwert selbst in unserem gegliederten Schulsystem das Unterrichten und Lernen. Zunehmend wird deutlich, wie wichtig es ist, Schule nicht nur als Lernort, sondern als „soziales Biotop“ zu verstehen, in dem vielfältige Bedürfnisse und Problemlagen der Kinder zum Tragen kommen, Beziehungen und Interaktionen gefördert und gelenkt, aber auch Potenziale der Kinder besser aufgegriffen und gefördert werden müssen. Lehrkräfte können dies nicht allein schultern und sind auf die Kooperation in multiprofessionellen Teams angewiesen, die Schulsozialarbeit, IT-Expertise, Gesundheitsfachkräfte und Schulpsychologie umfassen.
„Härtetest“ Corona-Pandemie – was Kinder jetzt brauchen
Die Kita- und Schulschließungen sowie Kontaktbeschränkungen während der Corona-Pandemie haben Eltern und Kinder einem „Härtetest“ unterzogen. Gab es zu Beginn der Pandemie eher gespaltene Reaktionen, wobei ein kleinerer Teil der Eltern und Kinder durchaus Vorteile der Entschleunigung erlebte, so standen im weiteren Pandemieverlauf die Belastungen im Vordergrund.
Ängste und Depressivität nahmen unter Kindern und Jugendlichen zu und betrafen mindestens jedes vierte Kind (Ravens-Sieberer et al., 2022). Jeweils rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen empfand eine Verschlechterung der Freundschaftsbeziehungen und Einsamkeitsgefühle, die ihrerseits Schrittmacher für die Zunahme psychischer Belastungen waren. Rund die Hälfte der Kinder und Jugendlichen berichtete noch im Herbst 2021 über psychosomatische Beschwerden. Als besonders belastend erlebten diejenigen Kinder und Jugendlichen die Pandemie, die in beengten Wohnungen lebten, einen Migrationshintergrund hatten, deren Eltern eine niedrige Bildung aufwiesen oder unter einer psychischen Erkrankung litten.
Durch Kita- und Schulschließungen war die Bildungsteilhabe der Kinder stark eingeschränkt. Kita-Kinder mussten teilweise mehrfach die Eingewöhnung vollziehen und waren – wie die Corona-KiTa-Studie zeigt – vor allem in denjenigen Kitas von Gruppenschließungen betroffen, in denen ein hoher Anteil sozial benachteiligter Kinder betreut wurde. Damit haben sich für diese Kinder ohnehin bestehende Bildungsnachteile potenziert. Auch im Schulkontext waren vor allem Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und/oder geringen sozioökonomischen Ressourcen der Eltern mit ungünstigen häuslichen Lernbedingungen konfrontiert und von größeren Lernrückständen betroffen.
In vielen Bereichen haben sich die Entwicklungsbedingungen für Kinder verbessert und tragen in stärkerem Maße den Bedürfnissen von Kindern Rechnung. Die Selbstbestimmungstheorie stellt hierbei den Dreiklang von Verbundenheit, Autonomie und Kompetenz in den Vordergrund. Für das Wohlergehen von Kindern ist es erstens wichtig, Zugehörigkeit zu erfahren und in positive Beziehungen eingebunden zu sein, nicht nur in der Familie, sondern auch in Kita und Schule. Kinder brauchen zweitens Autonomiespielräume, in denen sie ihre eigenen Interessen verfolgen und sich als selbstbestimmt erfahren können. Und Kinder brauchen drittens Erfolgserlebnisse und die Erfahrung, eine Schwierigkeit gemeistert zu haben.
In allen Bereichen mussten Kinder in den vergangenen drei Jahren deutliche Einschnitte hinnehmen. Wie sehr sie auf alltägliche Beziehungen und Interaktionen mit Gleichaltrigen angewiesen sind, wie sehr ihr Wohlergehen und ihre psychische Gesundheit unter den Kontaktbeschränkungen, den geringen Handlungsspielräumen und den erschwerten Lernbedingungen gelitten haben, hat die Corona-Pandemie deutlich gezeigt. Die Mehrheit der Jugendlichen hat sich von Politik weder gesehen noch gehört gefühlt.
Kinder brauchen Rechte, die allen bewusst sind, die Eltern für ihre Kinder einfordern können und auf die Institutionen ihr Handeln ausrichten. Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte der nachwachsenden Generation sichtbar im Grundgesetz zu verankern, ist ein überfälliger Schritt.
Sabine Walper, geboren 1956 in Düsseldorf, seit 2001 Professur für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Jugendforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ab 2012 Forschungsdirektorin und seit 2021 Vorstandsvorsitzende und Direktorin des Deutschen Jugendinstituts (DJI) e.V., München.
Literatur
Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Familie heute. Daten. Fakten. Trends. Familienreport 2020, BMFSFJ Referat für Öffentlichkeitsarbeit, Berlin, März 2021 (2. Aufl.)
Deutscher Bundestag: Neunter Familienbericht. Eltern sein in Deutschland – Ansprüche, Anforderungen und Angebote bei wachsender Vielfalt, mit Stellungnahme der Bundesregierung, 19. Wahlperiode, Drucksache 19/27200, Berlin, 03.03.2021.
Ravens-Sieberer, Ulrike / Kaman, Anne / Devine, Janine / Löffler, Constanze / Reiß, Franziskia / Napp, Ann-Kathrin et al.: „Seelische Gesundheit und Gesundheitsverhalten von Kindern und Eltern während der COVID-19-Pandemie. Ergebnisse der COPSY-Längsschnittstudie [The mental health and health-related behavior of children and parents during the COVID-19 pandemic: findings of the longitudinal COPSY study]“, in: Deutsches Ärzteblatt International, Nr. 25/2022, https://doi. org/10.3238/arztebl.m2022, S. 173 [letzter Zugriff: 23.01.2023].
Walper, Sabine / Langmeyer, Alexandra N.: „Belastungs- und Unterstützungsfaktoren für die Entwicklung von Kindern in Trennungsfamilien“, in: Volbert, Renate / Huber, Anne / Jacob, André / Kannegießer, Anja (Hrsg.): Empirische Grundlagen der familienrechtlichen Begutachtung: Familienpsychologische Gutachten fundiert vorbereiten. Hogrefe Verlag, Göttingen 2019, S. 13–50.
Wolfert, Sabine / Quenzel, Gudrun: „Vielfalt jugendlicher Lebenswelten: Familie, Partnerschaft, Religion und Freundschaft“, in: Shell Deutschland Holding (Hrsg.): Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort, 18. Shell Jugendstudie, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2019, S. 133–161.