Eines gleich vorweg: Im Kampf gegen Entgleisungen ist natürlich mehr denn je die Deutsche Bahn das Maß aller Dinge. Kluge Köpfe in der Konzernspitze, die mitunter sogar einmal Spitzenpolitiker waren oder zumindest sich selber dafür gehalten haben, haben rational nachgedacht und praxisnahe Lösungen gefunden. Die Faustformel lautet: Züge, die im Zeitlupentempo oder am besten überhaupt nicht unterwegs sind, können auch nicht entgleisen. Wer also in den Chor der Bahnkritiker einsteigen will ob immenser Zugausfälle und Verspätungen, sollte in Zeiten allgemeiner Hetzerei erst mal bedenken, welch wichtigen Beitrag die Bahn zur Entschleunigung leistet. Und da ist noch gar nicht die Rede von Ressourcenschonung. Und doch ist die Unzufriedenheit mit der Bahn quasi zum Greifen, weil manch ein Zugausfall so manch verhinderten Zugfahrer dazu animiert, dem völlig unschuldigen Schaffner am Bahnsteig an den Kragen zu gehen.
Eine nicht entgleisende Bahn ist also kein Erfolgsmodell, wenn dieses Resultat nur dem Umstand zu verdanken ist, dass sich der Zug mitsamt Insassen gar nicht erst in Bewegung setzt. Auf die Gesellschaft übertragen: Wo keiner mit keinem redet, kann es auch nicht zu Entgleisungen kommen. Ob die Gesellschaft dann aber funktioniert, steht auf einem ganz anderen Blatt. Falls dieses Beispiel zu weit hergeholt ist, hilft die ideale Überleitung, die da lautet: jetzt aber zum eigentlichen Thema.
Mich in meiner Funktion als Wortunterhalter in dieser Angelegenheit einzuspannen, ist einerseits selbstverständlich eine große Ehre. Auf den ersten Blick aber andererseits schon auch irgendwie ein Widerspruch in sich. Meine berufliche Grundkonstellation ist nämlich äußerst schlicht: Ich stehe auf der Bühne. Und die Zuhörerschaft sitzt unten. Ich rede. Der Rest schweigt. Zwischenrufe sind zwar willkommener Anlass für Improvisation. Sollten sich Zwischenrufe häufen, wäre dem Zwischenrufer solider Furor sicher. Nicht von mir, sondern seitens des Publikums, das Eintritt gezahlt hat, um mir statt einem/einer aus der Zuhörerschaft zu lauschen. Für Debatten jedweder Art ist dieses Szenario folglich ungeeignet. Hat aber den Vorteil, dass dadurch auch Entgleisungen keine Chance haben. Ich bin also beruflich gesehen eine sehr singuläre Blase. Ein Bläschen.
Umarmen, bis die Rippen krachen
Meine Sozialisation verschaffte mir dennoch eine sehr solide Grundausbildung in Sachen Debattenkultur. Ab dem vierten Lebensjahr war ich auf ehrenamtlicher Basis ständiger Beisitzer an einem niederbayerischen Stammtisch. Jeden Sonntag acht bis zehn Herren der Jahrgänge 1934 bis 1942. Es war ein sehr konsensualer Stammtisch. Ohne erkennbare Agenda ging es da hoch her. Ein sehr harmonischer Austausch von bestehenden Gewissheiten. Es herrschte eine maximal tolerante und offene Sicht auf die Statements untereinander, weil es nicht nur die Bestätigung, sondern regelrecht die Zementierung des eigenen Weltbilds war. Da durfte es auch jederzeit ruppig zugehen, weil die Ruppigkeit nie zu einer Frontbildung geführt hätte. Im übertragenen Sinne hat da jeder jeden herzlich umarmt, bis die Rippen krachten. Nicht von ungefähr besuche ich diesen Stammtisch immer noch von Zeit zu Zeit.
Daneben habe ich, um auch unter der Woche ausgelastet zu sein, einen weiteren Stammtisch, der mich sozusagen adoptiert hat. Dieser Stammtisch debattiert nicht sonntäglich, sondern knallhart jede Woche Montag bis Samstag mit Ausnahme von Feiertagen. Hitzig wird es höchstens bei der Beurteilung diverser fußballerischer Leistungen in der Bundesliga oder Champions League. Wenn sich nicht zeitnah eine übereinstimmende Meinung am Tisch hervortut, belässt man es generös bei einem „Schau ma moi, dann sengmas scho“. Hochaktuelle Versionen von Political Correctness haben da selbstredend nicht gerade Hochkonjunktur, weil ein diesbezügliches Update im eigenen Umfeld nicht vorgesehen ist oder mit großer Wahrscheinlichkeit gar für überflüssige Irritationen sorgen könnte. Eine Eskalation am Stammtisch hat aber definitiv keine Chance, weil jeder Anwesende weiß: Am nächsten Tag droht ein Wiedersehen, und an sich besteht der ganze Haufen aus Menschen, die miteinander können und wollen.
So einen Mikrokosmos auf den Makrokosmos eins zu eins zu übertragen, wäre der Wunschtraum aller, die ohne Sturzhelm und Brustpanzer den Alltag meistern wollen. Die Alternativlosigkeit, die die Bundeskanzlerin zur Ultima Ratio ihrer Regierungsarbeit gemacht hat, hat sich aber, vom Kanzleramt aus startend, auf den Weg gemacht durch alle Gruppierungen dieser Gesellschaft. Die Digitalisierung sorgt da noch für den zusätzlichen Turbo. Was eben noch ein Standpunkt war, entwickelt sich powered by Twitter und Facebook zu einer Standlawine, die keine Gefangenen macht. Wer anderer Meinung ist, dem wird sofort ordentlich eingeheizt. Wozu noch gediegene Dialektik, wenn es ein Shitstorm auch tut? Wer da noch auf Maß und Mitte setzt, steht schnell als wirrer Phlegmatiker da und wird umgeblasen. Wer nicht willens oder fähig ist, extreme Positionen zu vertreten, erntet im Chor der Marktschreier nur verständnisloses Kopfschütteln und erratisches Schulterzucken.
Dampf ablassende Durchschnittsbürger
Ein gewisser Überdruck baut sich auf in der Gesellschaft, weil die Regierungsarbeit der Großen Koalition sich durch ambitionierten Unterdruck auszeichnet. Bei den großen Themen wie Wohnen, Digitalisierung, Mobilität und natürlich Migration schwirren zwar irgendwelche Ideen und Leitlinien umher. Doch mündet all das nicht in spürbare und nachvollziehbare Resultate. Nur ein exemplarisches Beispiel: Die Sozialetats schwellen an, was aber nicht unbedingt zu Linderung von Not in großem Stil führt. Auf einen einfachen beziehungsweise vereinfachenden Nenner gebracht: Je mehr Geld der Staat für Arme ausgibt, umso mehr Arme gibt es. Die einen zahlen mehr, ohne dass andere mehr kriegen. Das macht den Durchschnittsbürger, der sich um seine Sicherheit jedweder Art Gedanken macht, nicht unbedingt entspannter. Wer sich dann einen Kanal sucht und findet, um sich zu artikulieren, lässt dann richtig Dampf ab. Mit der Verhältnismäßigkeit der Mittel, Gedanken und Worte ist es dann nicht mehr weit her – egal, ob im Internet oder auf dem Marktplatz.
Mittlerweile können einem sogar die Volksvertreter leidtun. Die haben auch begriffen: Wer sich Gehör verschaffen will, muss schon mit sehr schrillen Thesen ums Eck kommen. Sonst geht man ruckzuck unter im Ozean der Dauerposterei. Gerade weil alles so schnelllebig geworden ist, befindet sich auch die Politik im Dauerwahlkampf. Was der Politik umso weniger Luft lässt zum Gestalten. Was wiederum die Leute im Lande auf die kommunikativen Barrikaden treibt. In Anlehnung an die am Anfang erwähnte Deutsche Bahn ist tatsächlich allen Beteiligten des öffentlichen Diskurses ein bisschen Entschleunigung zu empfehlen.
Und so kommen wir nun zum konstruktiven, also irrationalen Teil: Wir alle dürfen uns zusammenreißen und begreifen, dass es immer andere Ansichten als unsere eigenen gibt und geben wird. Die Frage ist, wie schnell man lernt, damit umzugehen. Falls was Illegales unsere Entgleisungsphantasien beflügelt, hilft die Einsicht, dass sich darum nicht ein von Hassparolen begleiteter Baseballschläger oder eine sich unverstanden fühlende Machete kümmern sollte, sondern der Sicherheitsapparat mitsamt Justiz. Der Mensch kann glücklicherweise eine Menge Energie freisetzen und diese unglücklicherweise sehr zum Schaden anderer einsetzen. Das ist eine traurige Binsenweisheit der Geschichte. Zumal man sich so auch die eigene Gesundheit zugrunde richten kann. Also warum nicht diese Energie positiv nutzen, indem das eigene Umfeld gestärkt wird? So ziemlich jeder hat Familie, Vereine, Freunde um sich. Also eine Art Stammtisch im weitesten und breitesten Sinne. Es ist jedenfalls jedem und jeder zu wünschen, dass er und sie nicht nur digital vernetzt sind, sondern auch im echten Leben. Wer sich dort einbringt, setzt sich quasi auf das richtige Gleis.
Morgen wieder am Stammtisch
Entgleisungen werden dadurch obsolet. Und was die Debattenkultur betrifft, reicht sogar der simple kategorische Imperativ. Denn wenn ich jeden anbrülle, dessen Ansichten nicht deckungsgleich mit meinen sind, sind die Stimmbänder schnell im Eimer und in der Folge auch die Ohren. Denn getreu dem Prinzip Actio gleich Reactio wird auch der Ton der Gegenseite im Umgang mit mir ähnlich konziliant sein. Sollte der Kombattant gar nicht debattieren wollen, sondern lediglich eine Monsterschallwelle in die Welt setzen, hat die Debatte ihren Namen sowieso nicht verdient und verliert ihre Daseinsberechtigung. Da braucht sich keiner Illusionen zu machen. Es wird immer Debatten geben, wo einfach verschiedene Ansichten und Philosophien aufeinanderprallen.
Da wird keiner dem anderen recht geben können, weil er einfach mit der Welt des anderen nichts anfangen kann. Das ist subjektiv nicht immer angenehm, weil es womöglich die eigene Komfortzone tangiert, ist aber dennoch objektiv legitim. Gut, es mag schon pathetischere Schlussworte in Beiträgen über Debattenkultur gegeben haben. Diese hier sind jedenfalls realistischer Natur. Zugegebenermaßen tu ich mich da auch leicht, weil ich weiß, dass ich morgen Vormittag selber wieder erfolgreich debattiere am Stammtisch. Mit gewissem Ausgang.
Django Asül, geboren 1972 in Deggendorf, Kabarettist, Buchautor, Kolumnist, 2018 mit dem Bayerischen Verdienstorden ausgezeichnet.