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Wie sich verhindern lässt, dass die Mitgliederparteien zu Wählervereinen werden

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Politische Parteien bilden das formale Bindeglied zwischen Bürgern und Staat in repräsentativen Demokratien. Diese für den demokratischen Prozess wichtige Aufgabe können sie aber nur ausreichend erfüllen, wenn sie den Bürger als Bürger begreifen und nicht nur als Wähler. Doch eben diese Reduzierung des Bürgers auf sein Wahlverhalten scheint sich tendenziell im Handeln und der Organisation politischer Parteien abzuzeichnen. Damit werden Bürger mit ihrer Bereitschaft zu politischem Engagement alleingelassen, Politikverdrossenheit wird geschürt, anstatt sie zu bekämpfen, und das Band zwischen Parteien und Bürgern droht sich aufzulösen.

Ursprünglich als formaler Mittler im System der repräsentativen Demokratie gedacht, sollen Parteien den Willen und die Interessen aller Bürger im Parlament bündeln und vertreten. Doch über die letzten Jahrzehnte hinweg haben sich Parteien zunehmend aus dieser eher passiven Rolle im Willensbildungsprozess herausgelöst und gestalten heute mehr denn je den politischen Prozess selbst. Das zeigt sich sowohl an den Inhalten wie auch an der Organisation der Parteien.

Parteien spiegeln nicht mehr nur Meinungen und Interessen der Bürger wider, sondern sie entwickeln selbst ebenfalls Alternativen und nutzen so ihr Band zu Bürgern auch aktiv. Ein relevantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang vielleicht das Betreuungsgeld, das seit August 2013 Familien angeboten wird, deren Kinder nicht in einer Kinderkrippe betreut werden. Obwohl es schon seit Jahren diskutiert wurde, hat sich diese Debatte hauptsächlich zwischen Parteien und Verbänden abgespielt. Das Betreuungsgeld scheint weniger ein vorformuliertes Bürgerinteresse umzusetzen, sondern vielmehr Ergebnis bewusster Gestaltung politischer Parteien im Sinne bestimmter Bürgergruppen zu einem auch strategisch günstigen Zeitpunkt zu sein. Dieses Beispiel zeigt, dass politische Meinungen und Inhalte nicht mehr nur vom Bürger ausgehen, sondern dass sie aktiv von Parteien mitgestaltet werden. Parteien erweitern so den Radius dessen, was politisch möglich ist, anstatt sich nur passiv mit den realistischen wie unrealistischen Wunschvorstellungen von Bürgern auseinanderzusetzen.

 

Jetzt und hier mitgestalten

Positiv an dieser Gestaltungsrolle ist, dass Politik und Politikinhalte doch mehr sind als die Zusammenfassung oder Abwägung einzelner Interessen. Durch Organisationsvermögen, Ressourcen und inhaltliche Ausrichtung haben Parteien die Möglichkeit, dieses Mehr zu schaffen. Auf der anderen Seite birgt ein verändertes Rollenverständnis von einer reinen Mittler- zu einer Gestaltungsposition das Risiko, authentische Bürgerinteressen zu vernachlässigen. Diese Tendenz bringt die Gefahr mit sich, den Bürger zunehmend nur noch durch seine Wählerrolle zu definieren. Die Konsequenz wäre ein elitäres Demokratieverständnis: Bürger seien Wähler mit der Aufgabe, sich alle vier Jahre für ein bestimmtes Programm und gegen alle anderen Wahlprogramme zu entscheiden. Erste Anzeichen für eine Hinwendung zu ähnlichen Auffassungen seitens der Parteien zeichnen sich auch in der Parteiorganisation ab, wie neueste Forschungsergebnisse zeigen. So etwa ziehen sich europäische Parteien zunehmend von der lokalen Ebene zurück. In den 2000erJahren unterhielten sie durchschnittlich etwa vierzig Prozent weniger Kreisbüros pro Gemeinde als noch in den 1960er-Jahren. Gerade in einem nachbarschaftlichen Umfeld aber wird Politik greifbar und bleibt nicht abstrakt. Das Interesse von Bürgern an möglichst unmittelbarer politischer Partizipation zeigt sich auch daran, dass die Zahl und Durchschlagskraft von Interessengruppen und sozialen Bewegungen in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen hat (Aarts und Wessels, 2005). Die Bewegung rund um Stuttgart 21 ist in diesem Zusammenhang nur das prominenteste Beispiel. Politische Parteien sehen sich häufig im Wettbewerb mit solchen einzelnen Interessengruppen.

Das ist angesichts des strukturellen Mitgliederschwunds, den die meisten Parteien zu verzeichnen haben, verständlich. Zum Beispiel zählten die beiden mitgliederstärksten deutschen Parteien, CDU und SPD, zu Hochzeiten über 750.000 (1990) beziehungsweise über 1.000.000 (1976) Mitglieder. Im Gegensatz dazu gaben beide Parteien im Jahr 2012 an, nur noch jeweils etwa 475.000 Mitglieder zu haben. Dieser Schwund an Mitgliedern ist nicht parteispezifisch, sondern er erstreckt sich über die meisten europäischen Parteien.

Diese Entwicklung hat schwerwiegende organisatorische und finanzielle Konsequenzen für Parteien. Durch einen Mitgliederschwund gibt es weniger Freiwillige, die im Wahlkampf Plakate kleben; die Parteiorganisation erhält weniger Mitgliedsbeiträge, und sie muss ihre Kandidaten aus einer kleineren Gruppe auswählen. Da Parteien ein Quasi-Monopol auf die Auswahl von politischen Entscheidungsträgern haben, könnte sich Letzteres auch zu einem Problem entwickeln, das die Qualität von Politik negativ beeinflusst. Auch die fehlende Freiwilligenarbeit oder Einkommensquellen, die einmal von Mitgliedern bereitgestellt wurden, müssen nun ersetzt werden. Eine gewisse Krisenstimmung innerhalb der Parteien und ein wenig Neid auf den Erfolg von Interessengruppen sind durchaus verständlich.

 

Keine Lust auf „politische Vertragsbindung“?

Parteien könnten auf diese neue Situation reagieren, indem sie sich verstärkt um die Rekrutierung von Mitgliedern bemühen. Auf den ersten Blick erscheint das ein erfolgversprechendes Streben zu sein. Andere Organisationen, wie soziale Bewegungen und einzelne Interessengruppen, verzeichnen schließlich auch ein vermehrtes bürgerschaftliches Engagement. Das befördert die Hoffnung, das Problem wurzele nicht in steigender Politikverdrossenheit, und die Parteien müssten sich womöglich einfach nur ein bisschen mehr anstrengen. Doch damit unterschätzt man die Ursachen des Mitgliederschwunds. Studien in der politischen Soziologie zeigen hingegen, dass es Bürgern heute schwerfällt, sich fest einer Partei und ihrem umfassenden Programm zu verschreiben. Flexibilität und Individualität werden in vielen Lebenslagen geschätzt. Das zeigt sich allein schon daran, dass man auch im privaten Raum vor einem Produkt „mit Vertragsbindung“, wie zum Beispiel im Telekommunikationsbereich, zurückschreckt. Vor diesem Hintergrund ist es unwahrscheinlich, dass ein vermehrtes Rekrutierungsengagement unter Bürgern die Lust auf „politische Vertragsbindung“ steigert. Aus diesem Grund wäre es ein Trugschluss, wenn sich politische Parteien im ernsthaften Wettbewerb mit anderen politischen Organisationen betrachten würden. Kurzfristiges, spezifisches Engagement – wie im Falle von Stuttgart 21 – steht grundsätzlich nicht in Konkurrenz mit einer langfristig ausgerichteten, themenübergreifenden Beteiligung im Rahmen einer Parteimitgliedschaft.

Unter Umständen aber ist in den Köpfen der Bürger eine Parteimitgliedschaft mit Flexibilität und Individualität vereinbar, sofern sie nur das Gefühl haben, ernst genommen zu werden und etwas bewegen zu können. Denn das haben Interessengruppen und soziale Bewegungen vielen Parteien und ihren Strukturen voraus: Jeder Einzelne zählt, und das gemeinsame Ziel ist vorstellbar und greifbar. Jeder weiß, wofür oder wogegen er kämpft: gegen die Abholzung von Bäumen, gegen die Lagerung von weiterem Atommüll oder für die Abschaffung des Abiturs nach acht Jahren. Parteipolitisches Engagement ist nicht nur breiter gefächert, sondern daher auch weniger greifbar, weil die Themen zu abstrakt und zu weit vom Bürger entfernt sind. Aber vor allem ist das Ziel parteipolitischen Engagements nicht die unmittelbare Umsetzung einer einzelnen Idee, sondern ein Regierungsauftrag und erst mittelbar die Umsetzung politischer Inhalte. Das erste Ziel ist deshalb die Maximierung von Wählerstimmen.

Das lässt sich auch an weiteren organisatorischen Reaktionen auf den Mitgliederschwund erkennen. Parteien haben in den letzten fünfzig Jahren nicht nur auf sinkende Mitgliederzahlen reagiert, indem sie sich von der lokalen Ebene entfernt haben. Sie haben laut Studienergebnissen auch die Anzahl der angestellten Mitarbeiter systematisch erhöht, zahlen niedrigere Gehälter, haben höhere Gesamtausgaben und verlassen sich zunehmend mehr auf staatliche Parteienfinanzierung. Dieses Verhalten ist in gewisser Weise konsequent, da die Aufgaben von Parteimitgliedern ersetzt werden müssen. Ein Anstieg der Mitarbeiterzahl lässt sich durch den Wegfall von freiwilligem „Bodenpersonal“ erklären. Sinkende Mitgliederzahlen bewirken so eine Übernahme der Parteiarbeit durch externe Dienstleister. Das erzeugt höhere Kosten. Die Erhöhung staatlicher Parteienfinanzierung erscheint da als ein gutes Mittel, obwohl sie die Zusammenarbeit mit anderen Parteien im Parlament voraussetzt. Ein solcher Zusammenschluss ist leichter zu erlangen, da nahezu alle Parteien gleichermaßen vom Mitgliederschwund betroffen sind.

 

Vermittler des Staates, nicht der Bürger?

Diese Entwicklung macht deutlich, wie wichtig die persönliche Arbeit von Parteimitgliedern für die Organisation von Parteien ist. Es wird deutlich, dass sich Parteien zunehmend auf den Wahltag ausrichten und weniger auf die deutlich längere Zeitspanne zwischen Wahlen. Außerdem zeigen diese Ergebnisse, dass Parteien in den letzten Jahrzehnten näher an den Staat gerückt sind. Sie sind nicht mehr nur Vermittler zwischen Bürgern und Staat oder zwischen Bürgern untereinander. Vielmehr scheinen sich Parteien durch dieses organisatorische Reaktionsverhalten auf den Mitgliederschwund von der zivilgesellschaftlichen Ebene zurückzuziehen. Parteien laufen damit Gefahr, zu Vermittlern des Staats gegenüber Bürgern zu werden und nicht mehr andersherum, wie es zu Zeiten ihrer Entstehung gewesen ist. Die Mitgliederpartei droht zum Wählerverein zu werden.

Diese Entwicklungen werfen Fragen darüber auf, welchen Beitrag Parteien am politischen Prozess haben sollten. Sollen sie versuchen, die Wünsche von Bürgern zu realisieren, oder sollen sie politische Debatten mitgestalten? In welchem Verhältnis sollen oder dürfen Parteien zum Staat stehen? Die Studienergebnisse offenbaren, wie stark Parteien finanziell auf den Staat angewiesen sind: Durchschnittlich 41 Prozent der Einnahmen von europäischen Parteiorganisationen kamen in den 2000er-Jahren von staatlicher Seite und nur noch siebzehn Prozent von Mitgliedern (Kölln, 2014).

Angesichts dieser Zahlen und der vorausgegangenen Entwicklung könnte es dazu kommen, dass sich Parteien in ihrer neuen Rolle als Wählerverein einrichten. Parteistrategisch mag das kurzfristig erfolgversprechend sein. Langfristig gefährdet es allerdings die Verbindung zwischen Parteien und Bürgern. Ein parteipolitisches Verhalten, das sich auf den Wahltag konzentriert, lässt potenziell politisch engagierte Bürger allein. Politikverdrossenheit wird geschürt, und die Legitimität politischer Ergebnisse ist in Gefahr. Dabei zeigt doch der Anstieg von Interessengruppen und sozialen Bewegungen, wie politisiert Bürger heutzutage sind und welches Potenzial in ihnen steckt. Anstatt sich von der lokalen Ebene zu entfernen und nur noch alle vier Jahre mit einer Wahlkampagne, bunten Plakaten und der Spendenbüchse vorbeizuschauen, sollten sich Parteien vermehrt wieder in Gemeinden engagieren. Hier sind Bürger gesellschaftlich besonders aktiv und können sich leicht mit inhaltlich klar definierten Zielen identifizieren. Ein Wählerverein, der hauptsächlich in der Hauptstadt für nationale Medien in Erscheinung tritt, befördert grundsätzlich ein elitäres Politikverständnis. Dagegen wäre eine Öffnung der Mitgliederpartei demokratisch wünschenswert und auch langfristig eine bessere parteipolitische Strategie, um bürgernahe und damit populäre Politik zu betreiben.

 

Ann-Kristin Kölln, geboren 1986 in Buchholz, Altstipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung, arbeitet als COFAS Marie Curie Fellow und Postdoktorandin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Göteborg in Schweden. Sie ist außerdem Fellow bei d|part, einem Think-Tank für politische Partizipation.
 

Literatur

Aarts, Kees / Wessels, Bernhard: “Electoral Turnout”, in: Jacques Thomassen (Hrsg.): The European Voter: A Comparative Study of Modern Democracies, Oxford University Press, Oxford 2005, S. 64–83.

Kölln, Ann-Kristin: Party decline and response: The effects of membership decline on party organisations in Western Europe, 1960–2010, University of Twente, Enschede 2014.

Kölln, Ann-Kristin (im Erscheinen a): “Party membership in Europe: Testing party-level explanations of decline”, in: Party Politics, online first.

Kölln, Ann-Kristin (im Erscheinen b): “The value of political parties to representative democracy”, in: European Political Science Review, online first.