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Über frühkindliche Bildung von Kindern mit Mitgrationshintergrund

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Chancengerechtigkeit in der Bildung ist für ein Land wie Deutschland, das in den nächsten Jahren noch verstärkt auf Zuwanderung angewiesen sein wird, ein zentrales Thema. Das Fundament für gute Bildungschancen wird bekanntlich nicht erst in der Schule gelegt, sondern beginnt mit der frühkindlichen und vorschulischen Bildung. Hierzu gehören neben der Erziehungsaufgabe der Eltern die Krabbel- und Kindergruppen sowie Kindertagesstätten. Auch Beratungsangebote für junge Familien können einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung der frühkindlichen Entwicklung und Erziehung von Kindern leisten.

Studien belegen, dass sich Eltern mit und ohne Migrationsgeschichte gleichermaßen die Betreuung ihrer Kinder in einer Kindertagesstätte wünschen. Immerhin besuchen inzwischen rund 85 Prozent der Kinder mit Migrationsgeschichte eine Kindertagesstätte; bei den etwa fünfzehn Prozent, die dieses Angebot nicht annehmen, handelt es sich um einen vergleichsweise hohen Wert, für den es mehrere Ursachen gibt.

Es scheint mir offenkundig, dass es sich dabei meist um Kinder aus Familien handelt, die erst in jüngerer Vergangenheit nach Deutschland zugewandert sind. Ihr Erfahrungshintergrund aus den Herkunftsländern weicht deutlich vom hiesigen System der frühkindlichen Bildung ab. Unter diesen Familien spricht es sich nur allmählich herum, dass es nicht nur um die Betreuung des Kindes geht, sondern durch die frühkindliche Erziehung auch grundlegende soziale Kompetenzen und Schulvorläuferfähigkeiten erlernt werden. Viele Kindertagesstätten sind zudem mit Personal zur Sprachförderung ausgestattet, sodass die Sprachkompetenzen von Kindern, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, erweitert werden können. Das Erlernen einer zweiten Sprache zu diesem Zeitpunkt der kindlichen Entwicklung ist besonders einfach und sinnvoll, da die sensible Phase für den Spracherwerb genau in diesen Entwicklungszeitraum der Kinder fällt. Die Ansprache und Beratung neu zugewanderter Familien bezüglich eines Kitabesuchs ist deshalb besonders wichtig.

 

Bürokratische und finanzielle Hindernisse

 

Ein weiterer Aspekt, der insbesondere für Familien mit geringen Deutschkenntnissen eine kaum zu überwindende Hürde darstellt, sind die Anmeldemodalitäten für diese Bildungsangebote. So greifen einige Kommunen auf Online-Anmeldeverfahren zurück. Diese setzen allerdings voraus, dass die Interessenten über eine entsprechende technische Ausstattung sowie einen Internetzugang verfügen und darüber hinaus ausreichende Sprachkenntnisse besitzen, um ihren Bedarf online anzumelden. Als weiteres Hindernis erweist sich, dass in Kommunen mit geringen Betreuungskapazitäten eine Entfernung von bis zu fünf Kilometern zum angebotenen Kitaplatz als zumutbar gilt. Oft haben die betroffenen Familien aber weitere Kinder zu versorgen, und es müssen mehrere Institutionen angefahren werden. Wie kann es beispielsweise eine Mutter, die ein Neugeborenes, ein Kita-Kind und ein Grundschulkind betreut, schaffen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln die verschiedenen Anfahrtswege zu bewältigen? Sie wird diese Mühe insbesondere dann nicht in Kauf nehmen, wenn sie nicht weiß, was die Kindertagesstätte über die Betreuung hinaus leistet.

Hinzu kommt ein ökonomischer Aspekt: Für diese Familien ist die tägliche Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel auch finanziell aufwendig.

Insbesondere Familien, die auf eine soziale Grundsicherung angewiesen sind, werden diese Ausgaben vermeiden wollen.

Frühkindliche Bildung wird in diesen Familien oftmals nicht als Elternaufgabe erkannt oder kann aufgrund des eigenen Bildungsstandes nicht geleistet werden. Die Eltern sind je nach Herkunft teilweise nicht lateinisch alphabetisiert oder in einigen Fällen des Lesens und Schreibens nicht mächtig. Wenn dies zutrifft, lässt sich nicht erwarten, dass der betreuende Elternteil allein in der häuslichen Umgebung das Kind so fördern kann, wie dies in einer Kindertagesstätte geschehen könnte. Aus Unwissenheit über die negativen Folgen wird den Kindern oft auch ein kaum begrenzter Medienkonsum gestattet.

 

Belasteter Schulstart

 

Diese Umstände bringen dann zum Schulstart in mehrfacher Hinsicht erhebliche Nachteile mit sich: Es fehlen wichtige soziale Kompetenzen. Das Kind muss zunächst die Trennung meist von der Mutter verkraften, weil es bisher nicht daran gewöhnt ist, stundenweise oder auch einen ganzen Tag getrennt von ihr zu sein. Auch wenn es bis zu diesem Zeitpunkt Kontakt mit anderen Kindern hatte, wird es sich in der Schule von einem Tag auf den anderen in einer verhältnismäßig großen Gruppe von Kindern zurechtfinden müssen. Kinder, die vor der Einschulung eine Kindertagesstätte besuchten, haben bereits gelernt, kleinere Konflikte auszutragen, sich in Spielsituationen zu einigen und Kompromisse einzugehen. Sie haben an unterschiedlichen Angeboten teilgenommen und können sich für eine Weile auf ein bestimmtes Thema einlassen. Die Vorschulgruppe hat sie spielerisch darauf vorbereitet, was in der Schule auf sie zukommen wird, und den größer werdenden Wissensdurst unterstützt. Auch der Umgang mit Kleber, Stift und Schere wird zu einer Herausforderung, wenn das Kind zuvor noch nie gebastelt oder gemalt hat. Besonders nachteilig ist es aber, dass diese Kinder häufig wenig oder kein Deutsch sprechen.

Dem steht gegenüber, dass die Schulen von dem Vorhandensein der genannten Kompetenzen beim Schulstart ausgehen. Die neuen Anforderungen bedeuten für die unvorbereiteten Kinder enormen Stress. Insbesondere die Aufgabe, sich möglichst schnell eine neue Sprache aneignen zu müssen, ist kaum zu bewältigen. Auch die Erfahrung, wenig zu verstehen und sich nicht mitteilen zu können, birgt Frustrationsgefahren. Auf diese Weise ist der Schulstart mehrfach stark belastet und für diese Kinder womöglich negativ belegt. Die geringen Sprachkenntnisse führen dazu, dass zunächst der Spracherwerb im Fokus steht, während der eigentliche Lernstoff zurückgestellt werden muss. Dies führt häufig dazu, dass die Kinder ein drittes Jahr in der Schuleingangsphase verbleiben müssen und womöglich dennoch Lücken im grundlegenden Wissen aufweisen. Oft können diese zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr geschlossen werden, da die Unterrichtsinhalte dann bereits als bekannt vorausgesetzt werden. Die Schulen sind größtenteils auf diesen erhöhten Förderbedarf weder konzeptionell noch personell vorbereitet, sodass sich auch für das Lehrpersonal eine außerordentlich herausfordernde Situation ergibt.

 

Spätfolgen und unterstützende Gegenmaßnahmen

 

Insofern führen die individuellen Startnachteile für Kinder aus zugewanderten Familien zu einer Problematik für das System Schule insgesamt. Den erhöhten und veränderten Anforderungen an die Schulen steht ein Fachkräftemangel gegenüber, der sich in den nächsten Jahren verschärfen wird. Gleichzeitig werden die Schulen durch die beschriebenen Umstände teilweise gelähmt, weil Kinder aufgrund von Sprachdefiziten länger in der Grundschule verbleiben müssen und sie die vierjährige Grundschulzeit und auch die folgenden Schuljahre nicht optimal nutzen können. Dadurch ergeben sich ungleiche Bildungschancen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in geringer qualifizierte Bildungsabschlüsse münden und damit auch gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Konsequenzen haben. Auf diese Weise trägt die Situation einer fehlenden frühkindlichen Bildung letztlich mit zu dem sich verschärfenden Fachkräftemangel auf dem deutschen Arbeitsmarkt bei, weil eine qualifizierte Ausbildung oder ein Studium nur mit einem entsprechenden Schulabschluss möglich ist.

Um eine solche Entwicklung frühzeitig zu vermeiden, bedarf es unterschiedlicher Handlungsansätze. Eine Strategie sollte die Unterstützung der Familien sein. Mit niedrigschwelligen und wohnortnahen Beratungsangeboten könnte man junge Familien über bestehende Angebote informieren und bei der Anmeldung für einen Kitaplatz unterstützen. Nach meiner Erfahrung ist ein kultursensibles Vorgehen notwendig, da Eltern oft kulturspezifische Vorbehalte haben, die es ernst zu nehmen gilt. Auch erfolgt diese Beratung idealerweise in der Muttersprache, weil insbesondere die in jüngerer Vergangenheit eingewanderten Familien noch mit Sprachbarrieren zu kämpfen haben. Ein solches Angebot schafft Vertrauen und kann helfen, Vorbehalte abzubauen. Über Krabbel- und Kindergruppen, in denen sich die Eltern untereinander über Erziehungsfragen austauschen, könnten der Kontakt und das Beratungsangebot erfolgen. In verschiedenen Kommunen ist das Konzept der „Stadtteilmütter“ sehr gut angenommen worden. Bei diesen handelt es sich um geschultes Personal, das einen Migrationshintergrund mitbringt, Familien zu den unterschiedlichsten Themen muttersprachlich beraten kann und sie gegebenenfalls an andere Beratungsstellen weitervermittelt. Die Finanzierung dieser Stellen steht jedoch immer wieder zur Diskussion.

Die Bereitstellung von Kitaplätzen ist ein wichtiger Aspekt. 2023 werden laut Bertelsmann Stiftung deutschlandweit 384.000 Betreuungsplätze fehlen. Darüber hinaus fehlen fast 100.000 Fachkräfte. Es kann deshalb nicht jedem Kind ein Kitaplatz angeboten werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine verpflichtende Zeit in Kindertagesstätten von ein oder zwei Jahren derzeit nicht umsetzen. Grundsätzlich aber könnte eine Kitapflicht, analog zur Schulpflicht, bereits einige Nachteile für die betroffenen Kinder abmildern.

Bei der Debatte um die Verlängerung des ursprünglich Ende 2022 auslaufenden Bundesförderprogramms „Sprach-Kitas“ bis Mitte 2023 stand der Einsatz der Sprachförderkräfte in Kindertagesstätten zur Diskussion. In Kommunen mit einem hohen Migrationsanteil in der Altersklasse der bis Sechsjährigen kann das Bestandspersonal diese wegbrechenden Kapazitäten nicht auffangen. Statt über Einsparmöglichkeiten zu diskutieren, sollte über eine bessere personelle Ausstattung nachgedacht werden. Welch wertvolle Arbeit die Kindertagesstätten leisten, hat die Corona-Pandemie deutlich vor Augen geführt. Aus dem Abschlussbericht der „Corona-Kita-Studie“, in der das Deutsche Jugendinstitut und das Robert Koch-Institut die Auswirkungen von Infektionen und Corona-Maßnahmen auf die Kindertagesbetreuung, Kinder und Familien untersucht haben, geht hervor, dass Kinder im Kindergartenalter – und hier insbesondere Kinder aus Haushalten mit einem geringen sozioökonomischen Status – während der Pandemie unter den Folgen der Eindämmungsmaßnahmen sehr gelitten haben. Auch an den aktuellen Schulleistungen zeigt sich eine deutliche Verschlechterung. Familien mit Migrationshintergrund sind davon überdurchschnittlich betroffen.

Aufgrund der verstärkten Flüchtlingsbewegung vor allem von Menschen aus der Ukraine, aber auch aus anderen Ländern stehen die Grundschulen erneut vor der Situation, Kinder aufzunehmen, die über keine Deutschkenntnisse verfügen. Nicht alle Schulen sind mit personellen Kapazitäten ausgestattet, um Auffangklassen für diese Kinder einzurichten, um zunächst den Spracherwerb in den Fokus zu rücken. Eine Flucht ist eine Notlage und als solche nicht planbar. Deshalb muss die Situation für die geflüchteten Kinder als gegeben hingenommen werden, und es ist eine gesellschaftliche und institutionelle Aufgabe, diese Menschen so gut wie möglich zu versorgen. Das ohnehin bereits überlastete System Schule sollte jedoch nicht noch zusätzlich dadurch geschwächt werden, dass weitere Kinder ohne Sprachkenntnisse eingeschult werden, obwohl sie schon seit mehreren Jahren in Deutschland leben.

Steffi Atze

Musa Deli, geboren 1982 in Köln, Sozialpsychologe, Buchautor, Leiter Gesundheitszentrum für Migrantinnen und Migranten, PariSozial gemeinnützige GmbH, Köln.

 

Literaturempfehlung

Deli, Musa: Zusammenwachsen. Die Herausforderungen der Integration, Hoffmann & Campe, Hamburg, August 2022.

 

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