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Körper im Krieg

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Russische Raketen und die zunehmende Gewalt der Großinvasion in der Ukraine verändern das Verständnis von Körper und Schönheit. Für die Ukrainerinnen und Ukrainer ist es nun breiter gefasst als jede Form von Körperlichkeit oder Ästhetik, und es wurde um persönliche Geschichten voller Wunden erweitert. Dieser Beitrag ist ein Versuch, diese Veränderungen zu reflektieren, und auch ein Versuch, die Sprache der Statistiken zu überwinden, die wegführt von den echten Menschen, deren Leben seit dem 24. Februar 2022 und bereits früher, im Jahr 2014, in ein Schlachtfeld verwandelt worden ist.

Auf dem Cover der Sommerausgabe 2023 des Playboy Ukraine sieht man den makellosen Körper des Models Iryna Bilotserkovets, nur teilweise bedeckt von einem Metallbikini, der wie die zarte Version einer Rüstung aussieht. Nicht zu erkennen ist, dass eine Titanplatte Irynas Gesicht teilweise ersetzt. Eine herzförmige Augenklappe bedeckt ihr linkes Auge. Am 26. Februar 2022, zwei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, wurde Iryna auf einer Autofahrt durch Kiew bei einem mutmaßlichen Attentat schwer verletzt und verlor ihr linkes Auge. Nach der Operation in einem Berliner Krankenhaus erinnert sie sich: „Ein Auge fehlt, überall ragen Schläuche heraus, die Haare sind von der Operation abrasiert. Überall Nähte, Narben, Wunden. Ich war Frankensteins Monster. Mein Kiefer war zersplittert wie ein Zweig.“

Ich verfolge die visuelle Darstellung der neuen Realität und der „Schönheitsmaßstäbe“, die die Ukraine während der wachsenden Gewalt des Kriegs verändern, genau. Sie sind über die Ästhetik hinausgewachsen. Unter den Bedingungen des Verteidigungskrieges gegen einen brutalen Aggressor gibt es für Ukrainer fast nichts Schöneres oder Attraktiveres als das Militär, das ihr Land und ihre Leben schützt, und nichts Schlimmeres als Passivität oder Gleichgültigkeit.

Das Playboy-Covergirl Iryna reiste an die Front, um den Soldaten die neue Ausgabe der Zeitschrift zu präsentieren; sie erzählt die Geschichte von Frauen, die bei der russischen Invasion in der Ukraine verletzt wurden. Diese Ausgabe ist käuflich nicht zu erwerben; das Redaktionsteam bezeichnet sie als „Marschflugkörper der Freundlichkeit und Schönheit [missile of kindness and beauty]“ und verteilt sie auf Militärbasen und in Krankenhäusern als Zeichen der Unterstützung.

Als ich mich nach Mode umsah, die die gesellschaftlichen Veränderungen widerspiegelt, fiel mir zuerst die Marke Indposhiv auf, die das neue „stylish“ so aufgreift, wie es der Playboy mit Iryna „verführerisch“ tat. Das in Kiew ansässige Atelier produziert Maßanzüge für „die besten Männer des Landes“ und entschied sich, die Gesichter des Kriegs als Gesichter ihrer Kollektion zu wählen: zunächst Masy Nayem, einen bekannten Anwalt, der zur Armee ging, an der Front schwer verletzt wurde und ein Auge verlor, danach Ilya Samoylenko,[1] einen der Helden des „Regiments Asow“, der das Asow-Stahlwerk in Mariupol verteidigt hatte und in russische Gefangenschaft geriet.

Eine Fotoserie der in Lwiw ansässigen Fotografin Marta Syrko feiert die neue Schönheit und zeigt Körper von Militärangehörigen, gezeichnet vom Krieg: Große Verbrennungen, Narben und fehlende Körperteile sind in ihrer Sculpture Series vereint. Dank der besonderen Beleuchtung, der Stoffe, die Marta für die Bedeckung ihrer Helden verwendet, und deren Posen sehen ihre Fotos wie gemalte Meisterwerke aus. Als sie zum ersten Mal den Louvre besichtigte, sah sie Skulpturen wie die „Venus von Milo“, denen Teile ihres Körpers fehlen. Diese Werke, die Besucher aus aller Welt anlocken, wurden ihre Inspirationsquelle. Sie beschloss, Fotos mit ukrainischen Soldaten aufzunehmen, die sich selbst als Kunstwerke präsentieren. „Ich wollte unseren Kämpfern Anerkennung zollen und denen danken, die unser Land an der Front verteidigen und verwundet mit fehlenden Körperteilen zurückkommen“, erklärt mir die Fotografin.

Martas Bilder sind höchst ästhetisch – im Gegensatz zur Kriegsrealität. Als Marta nach den Fotoshootings die Treppe hinunterlief und mit einem Taxi nach Hause fuhr, wurde ihr bewusst, dass viele der Menschen, die sie fotografiert, weder die Treppe hinunterlaufen noch nach Hause gehen können. „Diese Erkenntnis ist bitter“, sagt sie. Mit Sculpture Series löste die Fotografin auch eine Diskussion zu Toleranz und Inklusion aus; Begriffe, deren Bedeutung unter Kriegsbedingungen stetig zunimmt. „Wir sind körperlich und seelisch verletzt und müssen damit und miteinander leben.“

Toleranz und Inklusion, in zivilisierten Gesellschaften als normal deklariert, waren selbst vor dem Krieg oftmals lediglich Theorie. Vorher hatte sie nur eine Soldatin fotografiert. Nach wie vor hört sie Kommentare, dass Narben einen Mann wie einen Helden aussehen lassen, aber bei Frauen von Nachteil sind. Marta fordert, dass sich das ändern müsse.

Heute ist es unmöglich, den Blick von verwundeten Menschen abzuwenden, einfach deshalb, weil es zu viele von ihnen gibt. Alle körperlichen Wunden sind Zeichen des Kampfs und des Überlebens. Die Zeichen des Schmerzes, den alle Ukrainerinnen und Ukrainer teilen, verursacht durch den Terror der Russen. „Wir müssen die Liebe zu einem Menschen unabhängig von seinem Körper aktivieren“, betont die Fotografin.

Wenn Sie auf Instagram die Seite von Libkos[2] besuchen, einem Fotografenduo, das den Krieg auf sehr künstlerische und gleichzeitig realistische Art festhält, und zum 11. Juli 2023 scrollen, sehen Sie ein Liebespaar, das auf einem Krankenhausbett liegt.[3] Andriy hat so gut wie keine Arme mehr. Die Hälfte seines Gesichts wurde von Ärzten mit Hautteilen rekonstruiert. Als eine Mine unter seinem Fuß explodierte, verlor Andriy beide Hände, beide Augen und ertaubte halb. Nach dem, was wir von Libkos erfahren, sang Andriy vor dem Krieg in einem Chor. Dann ging er zur Armee und wurde Leiter einer Luftaufklärungseinheit. Seit seiner Verwundung kümmert sich seine Frau Alina im Krankenhaus um ihn. Auf dem Foto ist zu sehen, wie sie seinen geschundenen Körper liebevoll umarmt.

Unter ihren Fotos finde ich einen Kommentar von Ilona;[4] sie schreibt, der verletzte Andriy sei von ihrem Mann Oleksiy vom Schlachtfeld gebracht worden. Oleksiy hatte ihr zuvor ihr von einem gutaussehenden jungen Mann berichtet und dass er sich Sorgen mache, ob dieser den Kampfeinsatz überleben würde. Er schrieb auch, dass Andriy wahrscheinlich kürzlich geheiratet habe, so wie Ilona und Oleksiy selbst. Er vermutete, dass der Vermerk über die Eheschließung relativ neu sein musste, weil er mit Bleistift in Andriys Militärausweis eingetragen worden war. Als Ilona diesen Kommentar hinterließ, war Oleksiy schon an der Front gefallen.

Die genaue Zahl der Ukrainerinnen und Ukrainer, die seit Februar 2022 und bereits seit 2014 von den Russen verwundet, gefoltert oder getötet wurden, ist nicht bekannt. Jede einzelne Zahl ist eine abrupt endende Geschichte von Liebe und Leben. „Beamte und Polizisten sprechen nicht von Personen“, erklärt Eugene Spirin, ein Freiwilliger, der in einer Leichenhalle arbeitet.

„Tote Menschen haben in den Nachrichten und Berichterstattungen keine Namen, sie sind Tote und Nummern.“ Eugene verwaltet eine digitale Gedenkstätte für die in Butscha zu Beginn der Invasion getöteten Ukrainer und erinnert an ihre Leben: „Ich erinnere mich an den Tag, als ich in einer Leichenhalle arbeitete, einen Reisepass in der Socke eines Mannes fand und sein Foto sah“, erzählt er. „Da wurde mir bewusst, dass das ein Mensch ist, nicht einfach eine Leiche.“

Unter den Opfern der Gräueltaten in Butscha war Mykola Stashchenko, geboren 1935, über dessen Leben Eugene Folgendes herausfand: Er war Taucher und hatte bei den Streitkräften der Sowjetunion gedient, wo er für die Rettung von Menschen bei U-Boot-Unglücken zuständig war. Im März 2022, als die Russen Butscha besetzten, wollte er Wasser holen und wurde tödlich in den Kopf getroffen. Mykola wurde in einem Massengrab als Nr. 38 begraben.

Manche Ukrainer erhalten noch nicht einmal eine Nummer und können nicht begraben werden. Als sie von den am härtesten umkämpften Stellen an der Front vor den Angriffen flüchteten, fotografierten Vlada and Kostya Liberov („Libkos“) weiße Leichensäcke.[5] Diese bleiben in den Gräben und unterirdischen Militärzelten liegen, sie können nicht von der Front weggebracht werden, weil die Russen diese oft verminen. Die ukrainischen Militärangehörigen schlafen und essen neben den Leichensäcken mit den sterblichen Überresten ihrer Kameraden. Ihre Namen oder ihre Lebensgeschichten bleiben oftmals unbekannt.

Im März 2022 wartete ich am Bahnhof in Dnipro in der Menschenmenge, die versuchte, von dort wegzukommen. Genau dann und dort spürte ich den Krieg besonders. In dem Strom von Menschen aus Charkiw und von Einheimischen war es unmöglich, einen Bahnsteig zu erreichen oder sich überhaupt zu bewegen. Menschen schrien, schubsten sich in Waggons hinein oder heraus, hatten Kinder an der Hand oder Haustiere dabei. Man braucht bis zu zwanzig Zugstunden von Dnipro bis an die Westgrenze der Ukraine, und die Züge nahmen so viele Menschen mit, wie in einem Waggon stehen konnten. Alles, was ich damals denken konnte, war: „Was, wenn uns die nächste russische Rakete hier erwischt?“

Ich habe es an jenem Tag nicht in den Zug geschafft und wollte die letzte Straßenbahn vor der Sperrstunde nach Hause nehmen. Dort sah ich eine Frau, die ihre weiße Katze in einem kleinen Plastikkäfig trug. Wir lächelten uns an, durch das gleiche Schicksal vereint. Es war dunkel und sehr kalt. Dieses schreckliche Wetter, wenn es gleichzeitig regnet und schneit und der Wind es unmöglich macht, dem zu entfliehen. Obwohl noch zwanzig Minuten bis zur Sperrstunde, war ein Großteil der Straßenbeleuchtung bereits ausgeschaltet. Die Frau schlug vor, sich ein Taxi zu teilen, statt auf die nächste Bahn zu warten. Während der Fahrer das Auto auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigte, sagte ich ihr, ich könne nicht zu diesen Frauen mit Kindern gehen und könne mir nicht vorstellen, stundenlang auf den Stufen eines Zuges zu stehen. „Sie sollten gehen“, sagte die Frau und drückte dabei meine Hand, um mir zu vermitteln, wie ernst sie es meinte. „Sie werden uns wieder und wieder bombardieren.“ „Aber wir sind doch Menschen“, schrie ich gegen die Absurdität dieses Terrors an, der mich seit dem 24. Februar nicht mehr richtig schlafen oder essen ließ. Und wir brachen beide hilflos in Tränen aus. Seit Beginn des Krieges sind eineinhalb Jahre vergangen, und jeden Tag möchte ich die gleichen Worte herausschreien.

Aleksandra Marchenko, geboren in Dnipro (Ukraine), Journalistin und Strategin für öffentliche Kommunikation, arbeitete für die „BBC Ukraine“ und die „Deutsche Welle“. Seit Februar 2022 schreibt und spricht sie für ausländische Medien über die Ukraine und Ukrainer.

Übersetzung aus dem Englischen: Monika Eingrieber, Sulzburg

 

[1] Indposhiv Bespoke, www.youtube.com/watch?v=ACaixa1SxB0 [letzter Zugriff: 10.08.2023].
[2] Libkos (Konstantin und Vlada Liberov), www.instagram.com/libkos/ [letzter Zugriff: 10.08.2023].
[3] @libkos, www.instagram.com/p/CujhUlHobfg/?img_index=1 [letzter Zugriff: 10.08.2023].
[4] @ilona.vesnyana, www.instagram.com/ilona.vesnyana/?igshid=NTc4MTIwNjQ2YQ%3D%3D [letzter Zugriff: 10.08.2023].
[5] @libkos, www.instagram.com/p/CuSdKdBoag9/?img_index=6 [letzter Zugriff: 10.08.2023].

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