Die Parlamentswahlen im Mai 2016 haben in Großbritannien zu einem Ergebnis geführt, das mit Blick auf die Sitzverteilung ein stabiles und eher traditionelles Parteiensystem mit wenig Raum für populistische oder extreme Links-/Rechts-Parteien suggeriert. Dieser erste Eindruck ist allerdings zunächst dem Wahlsystem (First-past-the-post) geschuldet. Ein zweiter Blick auf die Stimmenverteilung verdeutlicht, dass die rechtspopulistische United Kingdom Independence Party (UKIP) mit einem Stimmenanteil von 12,6 Prozent beziehungsweise knapp vier Millionen Wählern ein ernstzunehmender Faktor ist, dessen Präsenz lediglich im Parlament mit nur einem Abgeordneten begrenzt ist. Bei den Europawahlen 2014 gewann die UKIP sogar 4,35 Millionen Stimmen (dank geringerer Wahlbeteiligung ein Anteil von 27,49 Prozent) und avancierte dort – wegen des dabei herrschenden Verhältniswahlrechts – mit insgesamt 24 Abgeordneten zur stärksten britischen Partei im Europäischen Parlament.
Die UKIP trat 1994 erstmals bei Wahlen zum Europäischen Parlament an und erhielt damals lediglich ein Prozent der Stimmen. Von da an verzeichnete sie einen nahezu kontinuierlichen Anstieg – über die Europawahlen 1999 (7,1 Prozent), 2004 (16,8 Prozent) und 2009 (16,5 Prozent) – bis hin zum Ergebnis 2014. Bei nationalen Wahlen hingegen waren die Ergebnisse in der Vergangenheit (2005: 2,3 Prozent und 2110: 3,1) eher bescheiden, bis dann 2015 auch auf nationaler Ebene – zumindest, was die Gesamtstimmenzahl angeht – die eingangs erwähnten Ergebnisse erzielt wurden.
Dieser kontinuierliche Aufstieg ist im Wesentlichen zwei Faktoren geschuldet: zum einen der konstanten Thematisierung der Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union (EU), die in der Argumentation von UKIP (aber auch von Teilen der Konservativen Partei) direkt und indirekt für zahlreiche Probleme des Landes verantwortlich gemacht wird, und zum anderen – mangels anderer klassischer Protestparteien in Großbritannien – ihrer Rolle als Sammelbecken für allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik, dem Establishment und „denen da oben“.
Migrations- und Globalisierungsängste
Der Stimmenzuwachs bei der Parlamentswahl 2015 gelang dadurch, dass UKIP es vermocht hat, das Thema der (unkontrollierten) Migration (in der britischen Bevölkerung seit vielen Jahren als eines der zentralen Probleme wahrgenommen) kausal mit der EU-Mitgliedschaft zu verknüpfen und somit ein zumindest als bedrohlich empfundenes Problem mit einer einfachen Schuldzuweisung und demzufolge auch einfachen Lösung (Austritt aus der EU) zu verbinden.
Die Tatsache, dass der wirtschaftliche Aufschwung des Landes an weiten Teilen der Bevölkerung vorbeigeht und somit eine Wahrnehmung von „Globalisierungsverlierern“ besteht, die von der traditionellen Labour-Partei nicht (mehr) erreicht werden, hat es UKIP zudem ermöglicht, nicht nur mit dem Migrationsthema im klassischen „Conservative-Wählermilieu“ der oberen Mittelschicht abzuschöpfen, sondern eben auch in Labour-Hochburgen bei den unteren Arbeiterklassen vorzudringen. Dazu hat allerdings auch beigetragen, dass die Liberal Democrats, die traditionell die Rolle einer klassischen Protestpartei des Mitte-Links-Spektrums eingenommen hatten, durch ihre Regierungsbeteiligung in der Koalition mit den Conservatives (2010 bis 2015) dieses Feld nahezu komplett räumen mussten und dementsprechend auch bei den Wahlen 2014 und 2015 abgestraft wurden.
Andere Protestparteien ohne signifikante Wahlchancen wie die britischen Grünen sind bis dato nicht über ein Schattendasein hinausgekommen, und die Regionalparteien haben bisher mit einer Ausnahme (Scottish National Party, SNP) über die Walisische Partei (The Party of Wales, Plaid Cymru) oder in Nordirland (Democratic Unionist Party, DuP, und andere) hinaus keine landesweite Rolle gespielt.
Die schottische SNP hingegen hat sich infolge des schottischen Unabhängigkeitsreferendums im September 2014 zur dominierenden politischen Kraft in Schottland entwickelt und 2015 bei der Parlamentswahl 56 der 59 nationalen Abgeordnetenmandate gewonnen. Sie ist damit heute nach Labour die zweitstärkste Oppositionspartei im Unterhaus, hat allerdings bei der Landtagswahl im Mai 2016 ihre absolute Mehrheit im schottischen Landesparlament knapp verloren. Trotzdem ist auch die SNP eine interessante Mischung aus regionaler Identität gepaart mit einer geschickten Instrumentalisierung der wachsenden Stimmung gegen das politische Establishment in Westminster. Dabei ist sie längst nicht mehr der politische „underdog“, sondern konnte zur allein dominierenden Regierungspartei in Schottland avancieren. Bis dato gelingt es ihr – trotz mäßiger Regierungsperformance in Schottland –, die Proteststimmung gegen die nationale Regierung in London zu lenken und für sich zu kapitalisieren.
Auf den populistischen Zug aufgesprungen
Auch die Labour Party offenbart neuerdings eine populistische Schlagseite: Nach der Wahlniederlage 2015 und dem Rücktritt des Spitzenkandidaten und Labour-Vorsitzenden Ed Miliband war hier alles auf eine Nachfolgeentscheidung aus den Reihen der führenden Labour-Abgeordneten im Unterhaus ausgerichtet. Völlig überraschend setzte sich jedoch in der Urabstimmung bei den Mitgliedern der Außenseiter Jeremy Corbyn durch, auch hier ein klares Signal der Basis gegen das Parteiestablishment in Westminster. Eine „populistische Tendenz“ war und ist auch hier auszumachen, allerdings ist dieser parteiinterne Machtkampf bei Labour noch nicht entschieden, seine Auswirkungen sind aber bereits in den Haltungen zum EU-Referendum festzustellen.
Die Frage nach populistischen Strömungen und die Wahrnehmung eines populistischen politischen Diskurses erfuhr im Kontext des Referendums über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens am 23. Juni eine neue, besorgniserregende Qualität.
„Trumpetisierung“ der Politik
Die Argumentationslinien sowohl auf der Seite der REMAIN- als auch auf der Seite der LEAVE-Kampagne waren von großer Emotionalität, fragwürdigen Zahlenspielen und teilweise heftigen persönlichen Attacken gekennzeichnet, einige Beobachter sprachen bereits mit Anspielung auf die US-Wahlen von der „Trumpetisierung“ der britischen Politik. Auffallend war, mit welcher Leichtfertigkeit im Kontext einer so weitreichenden Entscheidung mit tiefgreifenden politischen und ökonomischen Folgen für Großbritannien und die EU Halbwahrheiten verbreitet und Ängste geschürt wurden. Diese Methoden waren bis dato eher eine Domäne der klassischen populistischen Partei UKIP, im Kontext des EU-Referendums sind aber fast alle Akteure auf diesen Zug aufgesprungen. Unabhängig von der Frage, ob diese Strategie letztlich für das Ergebnis relevant war, ist die Sorge berechtigt, inwieweit sie der Glaubwürdigkeit der gesamten politischen Debatte und Auseinandersetzung in Großbritannien geschadet hat. Zumindest ist dies zahlreichen Äußerungen von Wählern zu entnehmen, die sich von der verbalen Schlammschlacht teilweise genervt abgewendet hatten und sich in ihrer ohnehin latent vorhandenen Politikverdrossenheit bestätigt fühlten.
Der Verlauf der Debatte im EU-Referendum hat bedauerlicherweise gezeigt, dass die Chance einer ernsthaften Auseinandersetzung mit einem komplexen politischen und ökonomischen Sachverhalt verpasst wurde und einer weitgehend emotionalen, populistischen und unseriösen Debatte mit persönlichen Schuldzuweisungen sowie innerparteilichen Machtkämpfen gewichen ist. Dies dürfte im Endeffekt den traditionellen Parteien eher schaden als populistischen Parteien wie UKIP, die – so eine berechtigte Befürchtung – aus dieser Situation unabhängig vom Rücktritt ihres Vorsitzenden Nigel Farage gestärkt hervorgehen könnte. Eine solche Entwicklung hätte zudem Ausstrahlungseffekte auf andere populistische und anti-europäische Kräfte in der EU.
Offene Fragen
Die politischen Auswirkungen des Referendums, bei dem eine 52-Prozent-Mehrheit für den EU-Ausstieg stimmte, sind vielfältig und komplex. Unter anderem gilt es, ein Land, in welchem Meinungen, Personen, Institutionen und Regionen heftig aneinander gerieten und in welchem die Ermordung der Labour-Abgeordneten Jo Cox wenige Tage vor dem Referendum eine kurze Schockstarre auslöste, wieder auf ein Miteinander einzuschwören. Dabei werden die Risse, die sich auch durch die Parteien zogen, nicht leicht zu kitten sein, insbesondere, wenn sich die separatistischen Tendenzen in Schottland und Nordirland vertiefen sollten.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Mehrheit beim Referendum nicht allein einer Ablehnung der EU geschuldet ist, sondern auch auf breite Ablehnung von politischem Establishment und Politikverdrossenheit verweist. Diese Vorbehalte wurden von der LEAVE-Kampagne geschickt geschürt und im Slogan „Let’s get back control“ synthetisiert. Dem hatte die REMAIN-Kampagne nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Wie es gelingen soll, die Parteien wieder stärker mit ihren Wählern zu verbinden, oder ob UKIP als klassische Protestpartei mit Blick auf die Wahlen 2020 der wahre Profiteur sein wird – ähnlich wie die SNP nach dem Referendum 2014 in Schottland – bleibt abzuwarten.
Juristisch komplex ist die Frage, inwieweit das Parlament bei den Austrittsverhandlungen beteiligt werden muss. Dies ist politisch insofern brisant, als eine breite Drei-Viertel-Mehrheit der Abgeordneten auf der REMAIN-Seite stand und nun vor der „Gewissensfrage“ stehen würde, dem Votum des Volkes oder der eigenen Überzeugung zu folgen – zumal es sich bei dem Referendumsergebnis formal um einen rechtlich eigentlich unverbindlichen Tatbestand handelt.
Hans-Hartwig Blomeier, geboren 1961 in Gelsenkirchen, Leiter des Auslandsbüros Großbritannien der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in London.