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Über die gefährdeten geistigen Grundlagen der gesellschaftlichen Mitte

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Was prägt und was eint die Bürgerschaft eines Staates, die sich in aristotelischer Weise auf eine starke gesellschaftliche Mitte berufen möchte? Diese Frage steht seit jeher im Mittelpunkt politischer Reflexion. Die Mitte darf dabei keineswegs mit Mittelmaß und Durchschnittlichkeit verwechselt werden, auch wenn es bei ihrer Konstitution um eine gemeinsame Schnittmenge von Überzeugungen und geteilten Werten geht. Die Substanz einer demokratischen Mitte zu eruieren, bleibt eine anspruchsvolle Aufgabe. Wir sind dazu aufgefordert, herauszufinden, was unsere gemeinschaftsstiftenden Prägungen sein könnten und welches gemeinsame Wollen uns verbindet. Eine kollektiv erfahrene Geschichte kann als Identitätsressource dienen, und eine wenn möglich optimistische Vision wird die Gesellschaft künftige Herausforderungen zielgerichtet angehen lassen. Damit ist eine simple republikanische Grundvoraussetzung zur Konstituierung einer handlungsfähigen Wir-Gemeinschaft angesprochen: Zukunft braucht Herkunft – diese Formel pflegte der im letzten Jahr verstorbene Philosoph Odo Marquard zeit seines Lebens zu verwenden.

 

Reflex gegen gefühlige Politisierung

Wann immer es um eine kollektive Identität oder um Gemeinschaftsgefühle innerhalb einer Bürgerschaft geht, stellt sich schnell Unbehagen ein. Denn es ist naheliegend, auf der Grundlage eines individualistisch orientierten Liberalismus vor jeder emotionalen Vergemeinschaftung zu warnen. Die Tyrannei der Mehrheit, die undifferenzierten Leidenschaften der Massen und der opportunistisch kalkulierende Populismus erscheinen als die Kehrseite jedes forcierten Appells an demokratische Homogenität. Nach der Erfahrung des Totalitarismus, ob radikalnationalistischer oder kommunistischer Machart, bleibt man skeptisch gegenüber jeder Form von gefühliger Politisierung. Gleichwohl wissen wir, dass ein Gemeinwesen nicht allein als Organisationseinheit und rationaler Zweckverbund existieren kann.

Die liberale Demokratie scheint immer mit dem Problem befasst, wie eine Balance zwischen gefühlter Zusammengehörigkeit und rationaler Vergesellschaftung herzustellen ist. Ihr Rahmen ist – bis auf Weiteres – der Nationalstaat; der historische Referenzraum ist die Geschichte dieses Nationalstaats. Die Art und Weise, wie diese Historie verlebendigt und präsent gehalten wird, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Zum einen spielt der unmittelbare Erfahrungsraum der jüngeren Zeitgeschichte eine wichtige Rolle, zum anderen wird das historische Bewusstsein durch geschichtspolitische Erinnerungsarbeit mit geprägt.

Geschichtspolitik bleibt im liberalen Staat Gegenstand von Deutungskämpfen. Eine bestimmte Linie lässt sich nicht dekretieren. Geschichtspolitische Interpretationen sind gegenwartsinteressiert und sollen zur Stiftung eines Wertekonsenses oder einer gemeinsamen historischen Identität beitragen. Das kann wie im Falle des Nationalsozialismus durch kritische Auseinandersetzung und moralische Absetzung erfolgen. Es kann aber auch durch Vergegenwärtigung einer Erfolgsgeschichte als identitätsstiftende Erinnerung vonstattengehen: Wirtschaftswunder, Wiederaufbau, die Konsolidierung der Demokratie in der Bundesrepublik und die Wiedervereinigung etwa avancieren dann zu Ereignissen, aus denen sich in positiver Weise eine historische Identität gewinnen lässt. Wir wissen auch, dass die Ereignisse, die uns momentan beschäftigen, bald schon Gegenstand von geschichtspolitischen Bemühungen werden.

So hat der Politikwissenschaftler Herfried Münkler jüngst darauf hingewiesen, dass die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge trotz aller Schwierigkeiten nicht nur als Krise begriffen werden sollte. Vielmehr haben wir es zu weiten Teilen mit einem Akt gemeinschaftlicher bürgerlicher Anstrengung zu tun, der später durchaus einmal als große republikanische Leistung erinnert werden könnte. Die mittlerweile geschmähten Worte der Bundeskanzlerin – „Wir schaffen das!“ – sind dabei nichts anderes als ein republikanischer Appell, der um solidarisches Verhalten in einer Ausnahmesituation wirbt.

Man mag an der Politik der Bundesregierung in der Flüchtlingsfrage viel auszusetzen haben – mangelnde Voraussicht, Fehler in der Koordination, Ungeschicklichkeit im Umgang mit den europäischen Partnern et cetera –, aber Merkels Satz ruft eigentlich nur eine Selbstverständlichkeit in Erinnerung: nämlich dass die Bürger eines politischen Gemeinwesens in Ausnahmesituationen zu kollektiven Anstrengungen aufgerufen sind. Es gibt unausweichliche Momente, in denen die sozialmoralische Ressource der Solidarität gefordert ist: ob bei Naturkatastrophen, wenn beispielsweise Dämme brechen, bei Bedrohungen durch terroristische oder kriegerische Gewalt oder in ökonomischen Notlagen. Solidarität kann nicht auf Dauer gestellt werden, sie ist anlassbezogen und bleibt eine flüchtige Tugend, die sich immer wieder in neuen Konstellationen zu Geltung bringt.

 

Krisen setzen Kräfte frei

Solidaritätsforderungen, Solidaritätspotenziale und normative Begründungen von Solidarität überschreiten heute sicherlich den Horizont von Ungleichheiten, der traditionell die soziologischen und politischen Überlegungen bestimmt hat. Die modernen Gesellschaften zeichnen sich durch eine neue Fluidität aus; durchlässige Grenzen, die Heterogenität der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und die Pluralität der Lebensstile komplizieren die Solidaritätsbeziehungen und machen sie vielfältiger. Dabei droht in bislang offenen Gesellschaften eine Rückkehr zu Praktiken der Abschottung, die vor allem von Populisten schon vielfach gefordert werden. Eine solche Entwicklung ist nicht unwahrscheinlich, aber aus zivilisatorischer und normativer Warte weder tolerierbar noch praktikabel, weil man damit Ressentiments schürt, hinter bereits erreichte Freiheitsgewinne zurückzufallen droht und den komplexen Aufbau der liberalen Ordnung gefährdet. Stattdessen ist es erstrebenswert, die solidarischen Möglichkeiten in pluralistischen, demokratischen Gesellschaften immer wieder neu auszuloten. Denn sobald durch gemeinschaftliches solidarisches Handeln ein Problem bewältigt worden ist, wenn man eine Krise durchschritten hat, dann gibt es allen Grund, daraus Kraft zu beziehen, indem man sich an die gemeinschaftliche Leistung erinnert.

Die Reaktion auf Merkels Ausspruch, die mit Verzögerung einsetzende harsche Kritik an einer vermeintlich naiven Willkommenskultur, zeigt zweierlei: Zum einen wird deutlich, wie sehr die Politik mit dem Gedanken bürgerlicher Pflichten und aktiver Partizipationsbereitschaft fremdelt; zum anderen, wie technokratisch unser Verständnis von Regieren immer noch bestimmt ist. Dabei hat gerade die Flüchtlingskrise seit letztem Sommer gezeigt, dass eine beeindruckende Zahl von Freiwilligen hilfsbereit, leistungsfähig und engagiert die Aufgaben anpacken will. Frustrationserfahrungen wurden nicht selten durch verfehlte zentrale Planung verursacht. Anstatt die Bürger frühzeitig einzubinden, dekretierte man beispielsweise den Standort völlig überdimensionierter Flüchtlings- unterkünfte. Ähnliche Planungsüberforderungen erschwerten die Arbeiten an Schulen und in sozialen Einrichtungen – fast immer lagen die Fehler in verspäteter Kommunikation und schließlich im überhasteten Handeln unter Druck. Dazu kommt wahrscheinlich eine deutsche Neigung, zuerst die Probleme und Ängste zu artikulieren, anstatt sich die Erfolge und Chancen vor Augen zu führen.

 

Die sanfte Utopie des Wohlfahrtsstaates

Gerade weil es zum Wesen der Demokratie gehört, dass Opposition und Kritik den Diskurs dominieren und man stets den Eindruck haben kann, sich in einer Krise zu befinden, bleibt es die Aufgabe der politischen Bildung, die positiven, motivierenden und kreativen Aspekte der demokratischen Lebensform ins rechte Licht zu rücken. Natürlich werden an die Demokratie dauernd Ansprüche gerichtet und Defizite moniert: Ihre Bevölkerung sei zu heterogen, das soziale Gefälle sei zu groß, es fehle an Gemeinsinn, die Steuerlast sei zu hoch, Ressourcen würden verschwendet. Insofern ist der demokratische Staat permanent damit beschäftigt, hohen Erwartungen hinterherzuarbeiten.

Möglicherweise leiden wir weiterhin an den Spätfolgen eines Machbarkeitsdenkens, das die sanfte Utopie des umsorgenden Wohlfahrtsstaates aus den Jahren des Nachkriegsbooms prägte. Wenn uns auch der Glaube an eine sozialliberal nivellierte Mittelstandsgesellschaft verloren ging, so hat doch eine mentale Disposition überdauert. Interessanterweise hat sich eine wesentliche Argumentationsfigur gehalten, diejenige des Sachzwangs. War es früher eine Idee keynesianischer Regulierung, so scheinen heute die Strukturerfordernisse einer Globalisierung unter neoliberalen Vorzeichen keine Alternativen zu lassen. Es hätte aber mit einem merkwürdig beschränkten Begriff von Politik zu tun, wenn man nur noch die Melodien einer global governance spielte und das politische Handeln einzig am Kriterium der Marktförmigkeit ausrichtete.

Bereits Ordoliberale wie Walter Eucken oder Wilhelm Röpke wussten, dass die Ökonomie auf sozialmoralischen Vorbedingungen beruht, auf die der Markt selbst zwar angewiesen ist, die er aber nicht erzeugen kann. In diesem Sinne ist es unerlässlich, den Blick auf die unmittelbare Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger und auf die demokratische Lebensform zu richten. Uns wird in Erinnerung gerufen, dass das Gemeinwesen eben zuallererst aus seiner Bürgerschaft besteht, und die Bürgerinnen und Bürger benötigen Räume und Möglichkeiten, um sich zu entfalten und ihre politische und soziale Lebenswelt selbst zu gestalten. Der liberale Staat hat dabei insbesondere die Aufgabe, Pluralität und Vielfalt zu schützen sowie gemeinsame Regeln als Handlungsgrundlage zu entwickeln.

 

Bildung – Indikator für die Verfassung der Mitte

Im Lichte eines republikanischen Politikentwurfs, der immer versucht, liberale Werte mit demokratischen Zielen zu vereinbaren, geht es um die Balance von Freiheit und Gleichheit. Sie wird nicht einfach hergestellt, sondern die Praxis des gemeinsamen Handelns, der bürgerlichen Vereinbarung, des Strebens nach Verbesserung ist selbst schon ein Zweck.

Insofern werden zwei zentrale Problemfelder immer wichtiger: die Gestaltung der städtischen Öffentlichkeit und der kommunalen Lebenswelt einerseits, das weite Feld der Bildung andererseits. An beide Gebiete lassen sich die Maßstäbe demokratischer Gleichheit anlegen, weil sich im öffentlichen Raum und in den Bildungsinstitutionen die Bürger nicht nur als Gleiche begegnen, sondern idealerweise unabhängig von Herkunft und ökonomischem Hintergrund gleiche Chancen erhalten sollten. Dort zeigt sich die Verfassung der politischen Mitte. In Zeiten großer politischer Umbrüche, die vor allem an europapolitischen, ökonomischen und globalen Herausforderung gemessen werden, läuft man Gefahr, den Humus des Politischen, die unmittelbaren Betätigungsfelder der Bürgerinnen und Bürger, aus den Augen zu verlieren.

Demokratische Politik erschöpft sich nicht im Abstimmungsverhalten der Bürgerschaft, sie benötigt Entfaltungsmöglichkeiten und Gestaltungsräume. Die Pflege öffentlicher Einrichtungen und Plätze, die menschenfre- undliche Gestaltung der wachsenden Städte, die Förderung bezahlbarer Wohnungen – dies alles ist kein Luxus, sondern verfolgt ein egalitäres Ziel. Dadurch wird Partizipation gefördert, es werden Begegnungen möglich gemacht, es werden die Grundlagen für gesellschaftliche Integration geschaffen. Es muss ein Ziel demokratischer Politik bleiben, die Gesellschaft durch die Gestaltung des öffentlichen Raumes im wahrsten Sinne offen zu halten. Denn eine lebendige politische Öffentlichkeit ist der beste Nährboden für eine breite und aktive politische Mitte. Phänomene, die andere westliche Gesellschaften bereits zu dominieren beginnen – die Abschottung der Reichen in gated communities, die Ghettoisierung abgehängter Viertel –, sind eine Warnung. Sie destabilisieren die Demokratie.

Darüber hinaus bleibt die Bildungspolitik, das heißt die Verbesserung der Bildungschancen für alle, der zentrale Hebel zur Pflege einer Kultur der Demokratie. Bildung ist zwar das Mittel zur beruflichen Qualifizierung, aber sie darf sich nicht allein dem Diktat einer Optimierung der individuellen Arbeitsmarktchancen beugen. Sie dient selbstverständlich auch der Einübung in demokratische Lebensformen, sie leistet die Vermittlung der Werte, die uns wichtig sind, sie trägt zur Integration der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen bei, schärft unsere Sinne für Pluralität, Toleranz und Kooperation. Diese Aufgaben wachsen in einer zunehmend multiethnischen Gesellschaft.

 

Wankelmütige Schulpolitik

Deshalb wirkt es bisweilen grotesk, wenn mittlerweile eine bürokratisch ersonnene Bildungsreform die nächste jagt, um die Kinder schon vor Vollendung ihres 18. Lebensjahres an die Universität zu bringen, während der Lehrerberuf weiterhin an Status und Attraktivität verliert, obwohl die Erzieher und Lehrer heute viel mehr leisten müssen als noch vor zwei Jahrzehnten. Dass der Schlüssel für gelungene Erziehungs- und Bildungsarbeit in einer vernünftigen Ausstattung des Personals und in einem besseren Betreuungsschlüssel liegt, ist zwar allgemein bekannt. Die Wankelmütigkeit einer Politik, die sich zwischen Modernisierungsdruck und vermuteten Qualifizierungszwängen für den Arbeitsmarkt bewegt, lässt jedoch vermuten, dass die Aufgabe bei Weitem noch nicht verstanden worden ist.

Ein großer deutscher Liberaler, der Soziologe Ralf Dahrendorf, bezeichnete vor etwa fünfzig Jahren Bildung als Bürgerrecht und prägte zur gleichen Zeit den Begriff der „Lebenschancen“. Diese zu gewährleisten, den Menschen unabhängig von ihrer Herkunft gleichen Zugang zu den öffentlichen Gütern, zur Bildung und zur demokratischen Teilhabe zu verschaffen, ist das zentrale Anliegen einer Politik für die Mitte. Denn in der Begegnung als Gleiche wächst die Solidaritätskompetenz des Einzelnen. Dass dies nachhaltig positive Wirkungen für das demokratische Bewusstsein und die erfolgreiche Erwerbstätigkeit der Bürgerinnen und Bürger zeitigt, versteht sich eigentlich von selbst. Diese Zielformulierung mag banal klingen. Aber es scheint notwendig, im kurzatmigen politischen Betrieb daran zu erinnern, wie wichtig diese Grundvoraussetzungen für die demokratische Lebensform als einigendes Band sind.

 

Jens Hacke, geboren 1973 in Bonn, Politikwissenschaftler und Buchautor, lebt in Hamburg.

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