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Wie die etablierten Parteien sie neu erkämpfen können

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Wer über den Begriff „bürgerliche Mitte“ als Habitus oder Zustandsbeschreibung räsoniert, artikuliert stets gefühlte Zugehörigkeiten. Das gilt ebenso für die häufig synonym gebrauchte Zuordnung der politischen Mitte. Wohlfahrtsstaatlich, gesellschaftspolitisch, wahlsoziologisch fällt es schwer, klare empirische Vermessungen des Bürgerlichen vorzunehmen, wenn man es nicht mit Mittelstand oder Mittelschicht verwechselt, die je nach Bemessungsgrundlagen unterschiedlichen Größenordnungen zuzuordnen sind. Die bürgerliche Mitte scheint in der Ausprägung einer gefühlten Zuordnung heterogener, bedrohter, heute schwerer erreichbar und von Statusängsten geplagt. Von alters her trafen zwei definitorische Merkmale auf das Bürgertum zu: Es war eine Bevölkerungsgruppe, die, von Mauern geschützt, in einer Stadt lebte und besondere Privilegien genoss. Für die Soziologie und die Politik des Bürgertums sind das bis heute wichtige Kriterien: komplexe Sicherheit und mehr Kopf- als Handarbeit in einer Dienstleistungsgesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft stellte eine Gegenöffentlichkeit gegen Adel, Kirche und Handel dar. Die Gegenöffentlichkeit des Bürgerlichen zwang die Herrschenden, sich zu legitimieren. Demokratie ist ohne Bürgerlichkeit nicht lebensfähig. Doch wieviel Bürgerlichkeit steckt im Zeitgeist, wieviel Bürgerlichkeit lässt unser Parteienwettbewerb zu?

Als Kampfbegriff zur Mobilisierung in Wahlzeiten traten bürgerliche Parteien in einem sogenannten bürgerlichen Lager auf. In der Selbstbeschreibung zählten dazu immer Union und FDP. Doch was wäre dann nichtbürgerlich? Proletarische Links-Parteien, Extremisten und Populisten oder Vertreter des neuen Dienstleistungs-Prekariats? Wo blieben bei so einer Aufzählung die Parteien des Deutschen Bundestags, die vor dem Hintergrund ihrer gemeinwohlorientierten Ausrichtung, einer grundgesetzkonformen Programmatik und einer überwiegend bürgerlichen Wählerschaft im Bundestag häufig die rechnerische Mehrheit gegen die Union bildeten? In weichgespülten politischen Lagern, wie wir sie bis zum letzten Sommer 2015 kannten, ergibt die Unterscheidung von bürgerlichen und nichtbürgerlichen Parteifamilien der Mitte keinen Sinn mehr. Mit dem Aufkommen der Alternative für Deutschland (Af D), die teilweise auch auf bürgerliche Wählerschichten zugreift, müssen die Definitionen der politischen Mitte neu gefasst werden.

 

Zeichen einer Rentner-Demokratie

Die Differenzierung der bürgerlichen Mitte bleibt dennoch diffus, weil in Deutschland politisch-kulturell ohnehin die Mehrheit in die Mitte strömt. Das ist die Konsequenz einer Verhandlungsdemokratie, die im strikt machtteilenden institutionellen Setting immer die Schlichtung und den breiten Konsens anstrebt. Die gefühlt immerwährende informelle Große Koalition gilt bei den meisten Wählern als Optimum. Der Heilige Gral wird immer in der politischen Mitte gesucht, und da hält sich auch der bürgerliche Wähler gern auf. Das bürgerliche Aufbegehren hat Grenzen: Zwei Drittel der Deutschen sagen in Umfragen seit vielen Jahren konstant, dass es zur vorrangigen Aufgabe der Opposition gehört, mit der Regierung zusammenzuarbeiten.

Faktisch trägt diese bürgerliche Mitte bereits die Zeichen einer Rentner-Demokratie. Die bürgerlichen Alten bestimmen die Mitgliedschaft in den politischen Parteien. Sie wählen weitaus häufiger als die Menschen unter sechzig Jahren. Schon jetzt ist absehbar, dass bei der Bundestagswahl 2017 die Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler über 55 Jahre alt sein wird. Das Grundempfinden dieser bürgerlichen Mitte zielt für die Politik eindeutig auf soziale und innere Sicherheit, Verlässlichkeit, Status-quo-Dominanz und ein Versprechen der Planbarkeit des Lebens.

Die Bundestagswahl von 2013 war ein Triumph der Sesshaftigkeit. Nicht Bürgerrechtsthemen, sondern Wohlfahrtsversprechen dominierten. Nicht wer am meisten Veränderungen versprach – rechts wie links –, wurde gewählt, sondern wer am plausibelsten machen konnte, die Bürger vor den Unbilden der Zukunft zu schützen. Bürgerliche Wähler fordern Stabilitätsgarantien und wollen durch die Politik den Status quo gesichert und wertgeschätzt sehen. Für die europäische Haushaltskonsolidierung hieß das: Krisenlotsen, die expertokratisch, überparteilich entpolitisiert entscheiden, um als Anwalt unserer Steuergelder anderen Europäern möglichst nichts zu geben. Hier scheint das Strukturkonservative des Bürgerlichen wieder durch. Nicht direkte Verteilungsfragen sind wichtig, sondern eher Ligaturen, die ein Minimum an sozialer Sicherheit und Planbarkeit der eigenen Biographie für das Familien- und Arbeitsleben garantieren. Letztlich passte dazu über viele Jahre das politische Führungspersonal der bürgerlichen Mitte ganz genau. Es kommt unaufgeregt und unprätentiös daher in Zeiten dramatischer Risikoentscheidungen. Kalkuliert unauffällig und mit erklärungsarmem Pragmatismus ausgestattet, arbeitete die Große Koalition effektiv Probleme stellvertretend für die Bürger ab, die sie gewählt hatten. Die Wähler wollten damit möglichst nicht belangt werden, sobald der Wahltag vorbei war. Weit und breit grassiert Risiko-Unlust.

 

Politische Steuerung wird schwieriger

Doch zeichnete sich das Bürgertum traditionell eben nicht nur durch schützende Mauern aus. Was ist positiv und leidenschaftlich demokratisch gewendet aus den einstigen Privilegien geworden? Was als Ausformulierung bürgerlichen Engagements dringend notwendig wäre, sind zivilisatorische Standards einer bürgerlichen Parteien-Formation beim Schutz von Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft. Hier verbirgt sich der historisch qualitative Kern des Bürgerlichen in einer Demokratie. Gemeinwohlorientiert kann sich nur die politische Formation nennen, die das vermeintlich Abweichende schützt und für die Vielfalt als Freiheitsvorteil wirbt. So kann das Bürgerliche, egal welchen Alters, sich eben nicht nur hinter Mauern verschanzen oder sie gar neo-biedermeierlich erhöhen. Moderne Bürgerlichkeit, die sich im Parteienspektrum der Mitte abbildet, sucht nach der Verbindung aus moralischem Ernst, gemeinwohlorientiertem Kaufmannsgeist, sozialstaatlichem Pragmatismus und Autonomie, die sich über anspornenden Widerspruch freut. Wer von den Parteien der Mitte, die sich immer neu formiert und viele Parteien einbezieht, kämpft für so eine Neubestimmung? Angesichts der dumpfen Siege politischer Vereinfacher gibt es für die bürgerliche Mitte richtig viel zu tun.

Das Zeitklima hat sich seit der letzten Bundestagswahl grundlegend gewandelt. Die Angst vor Entgrenzung steigt. Globalisierung hat im Moment einen schlechten Lauf. Eine Sehns- ucht nach Begrenzung, nach Grenzen, nach territorialer und normativer Übersichtlichkeit ergreift die politische Mitte. So machen wir in Deutschland seit dem Sommer 2015 vielfältige kollektive Grenzerfahrungen. Im wörtlichen Sinne kommen viele Flüchtlinge seit dieser Zeit an Grenzen, die sie in ihrer Not überwinden wollen. Ebenso macht die Politik Grenzerfahrungen: Wir kommen an Grenzen mit unserem bisherigen Politikmanagement und mit unserer Vorstellung vom Regelungsmonopol des Staates. Grenzen lösen Angst aus oder provozieren ihre Überwindung und Unruhe. Neues Gestaltungswissen könnte das Regieren in einer Einwanderungsgesellschaft verändern. Doch zunächst wird politische Steuerung schwieriger, weil das bislang kons- umierte Gesellschaftsmodell fragil wird. Es steht unter Druck – von außen durch Krieg und Krisen in der Nachbarschaft und innenpolitisch durch neue Koalitionen der Angst. Man gewinnt den Eindruck, dass die moralische Mehrheit für das moderne, liberale Gesellschaftsmodell des Westens in der Defensive ist. Alles ist verdachtsbestimmt, nichts erklärt sich mehr allein aus der Geschichte heraus. Die Regeln der durch Wahlen initiierten, repräsentativ verfassten Demokratie, die Erfahrung einer globalisierten Nation in Europa, der Schutz der Mehrheit gegenüber der Minderheit – all das existiert noch in Deutschland, aber das Selbstverständnis erodiert.

 

Strukturell nervös und zukunftssensibel

Die progressive Mitte, die sich aktiv an Wahlen beteiligt und die Merkel-Mitte gestärkt hat, gibt es durchaus. Aber diese Mitte ist strukturell nervös und zukunftssensibel. Sie fordert eine Rückgewinnung nationaler Souveränität, Entschlackung des europäischen Apparates und kontrollierte Zuwanderung. Ob Resilienz-Management ausreicht, um diese Grundstimmung positiv zu wenden, kann bezweifelt werden. Denn neben der technokratischen Problemlösung als Grundlage unserer politischen Ordnung, die eine Sozialstruktur des Wohlfahrtsstaats mit abnehmender Ungleichheit sichert, stehen längerfristige, größere Herausforderungen. Wie wirbt man über Wahlen für die Vorteile unserer pluralistischen Demokratie? Wie kann man in der politischen Mitte mit Komplexität und zivilisiertem Streit um beste Lösungen werben? Wie schaffen wir elementare Demokratie-Erlebnisse, um bei Wahlen für den Erhalt des sozialen und gesellschaftlichen Friedens in einer heterogenen Gesellschaft zu mobilisieren? Solche Fragen sind Identitätsmarker.

Nichts ist allerdings sozialpsychologisch schwieriger, als positive Identität zu definieren. Doch in dieser Aufgabe zeigt sich die neue demokratische Herausforderung. Freiheit von etwas – das kennzeichnet historisch unseren Demokratieweg. Aber Freiheit zu etwas ist viel schwerer zu beschreiben, aber essenziell notwendig, um sich gegen einen neuen identitären Gruppenegoismus zur Wehr zu setzen. Dieser fremdelt mit der Freiheit der Andersdenkenden und meint die Willkür der Mehrheit. Die Freiheit, helfen zu können, haben Tausende seit dem Sommer 2015 unter Beweis gestellt. Helferstolz ist daraus erwachsen. Das ist ein Ansatz, wieder dafür zu werben, sich für die Freiheit offensiv einzusetzen. Populistische Bewegungen stimmen darin überein, dass moderne Gesellschaften ihren Identitätskern verloren haben. Populisten fühlen sich kulturell überfordert, eine Solidarität mit Fremden auszuhalten.

Wie unsicher die Zeiten sein können, war vielen Bundesbürgern bis zum Sommer 2015 nicht mehr bewusst. Sicher gab es Kriege in europäischer Nähe oder extreme Turbulenzen um den Euro. Doch den konkreten Alltag der Bürger erreichten diese medial vermittelten Krisen kaum. Auch faktisch befand sich die deutsche Demokratie nicht einer Krise, wie vergleichende empirische Studien belegen. Doch durch den neuen und plötzlichen Zustrom von über einer Millionen Flüchtlingen in Deutschland stand das politische System unter erheblichem Belastungsdruck. Erstmals beherrschte Angst über Monate die öffentliche Stimmung. Viele Bürger sahen sich mit Unsicherheit konfrontiert: bei den Spitzenpolitikern, den Parteien, der öffentlichen Verwaltung. Geblieben sind erhebliche Erosionen und Verwerfungen sowohl im politischen Diskurs als auch im Parteiensystem.

Hinter der Flüchtlingspolitik als Policy auf dem Wählermarkt stellen sich grundsätzliche Fragen an die Demokratie, wie wir sie bislang in Deutschland kennen und schätzen. Der aktuelle Befund ist eindeutig: Die Wahrnehmung von Verschiedenheit und Differenz hat im politischen Bewusstsein der Bürger zugenommen. Das gilt national wie auch europaweit. Ursprünglich war das Konzept der repräsentativen Demokratie historisch eine präzise Antwort auf Verschiedenheit. Anders als im überschaubaren attischen Stadtstaat muss eine moderne Demokratie auf Größe reagieren, strukturell zu Flächenstaaten passen und mit Vielfalt umgehen können. Wenn heute mehr Differenz und Vielfalt als Problem wahrgenommen werden, dann ist dies auch ein Zeichen für die Krise der politischen Repräsentation. Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich nicht ausreichend in den Parlamenten repräsentiert. Sie zweifeln an der Legitimität der Entscheidungen. Politiker wiederum werden mit Verachtung konfrontiert, wenngleich sie sich bemühen, stellvertretend für die Zivilgesellschaft die gravierenden Probleme zu lösen. Hintergrund dieser Prozesse ist derzeit ein die Epoche prägendes Durcheinander: immense Migrationsbewegungen, instabile Weltregionen, wachsende Risiken durch radikale Gruppen und neue ideologische Antagonismen zwischen West und Ost, die längst überholt schienen. Die normative Unordnung verunsichert.

Wichtig bleibt, Verschiedenheiten demokratisch auszuhandeln. Dies ist über Wahlkämpfe, aber auch parlamentarische Debatten möglich. Ein Dissens, über den parlamentarisch abgestimmt wird, hat immer höhere Legitimationskraft als ein Konsens, der nie verhandelt wurde. Ausschließlich solche Debatten und Verhandlungen können die Angst vor Differenz nehmen. Demokratie ist ein doppeltes Versprechen: prozedural – durch gleiche Teilhabe am politischen Prozess – und substanziell – als Angleichung der sozialen Lebensverhältnisse. Beide Versprechen sind heute unter enormem Druck. Sie wirken stellenweise ausgehöhlt angesichts geringer Wahlbeteiligung und wachsender – auch – ökonomischer Ungleichheit.

Antworten können Beobachtungen zum Parteienmarkt liefern, der in Deutschland selten polarisiert daherkam. Desintegration entwickelt sich, wenn extreme Parteien an Zuspruch gewinnen. Noch immer gruppiert sich das Parteiensystem in Deutschland um drei wichtige große gesellschaftspolitische Konfliktlinien: um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, um kulturelle Differenzen der politischen Partizipation (libertär oder autoritär?), um das relative Gewicht von Staat und Markt.

 

„Volkgemeinschaft“ statt Weltbürgertum?

Doch seit einiger Zeit kommt eine neue, vierte wichtige gesellschaftspolitische Konfliktlinie wirkungsmächtig hinzu. Es ist das ideologische Konfliktpotenzial zwischen kosmopolitischen und kommunitarischen Werten. Gemeint ist das Spannungsfeld zwischen globalisierten Weltbürgern und nationalkonservativen Gemeinschaften. Kommunitarische Einstellungen favorisieren die Zugehörigkeit und Mitgliedschaft in nationalen und kommunalen Kontexten. Kosmopolitische Einstellungen betonen hingegen universelle Verpflichtungen. Da können dann etwa neobiedermeierliche Rückzüge und kulturelle Schutzargumente des eigenen Marktes einem internationalen Freihandelsabkommen wie TTIP entgegenstehen. Da wird die innere Globalisierung – auch als humanitäre Aufgabe, Flüchtlinge aufzunehmen – infrage gestellt. Letztlich triumphiert im nationalen Kommunitarismus die „Volksgemeinschaft“ gegenüber internationalen Verpflichtungen. Solche Bewegungen und Parteien füllen eine Repräsentationslücke, die von den etablierten Parteien nicht abgedeckt wird. Doch es wäre vereinfacht, zu sagen, hier stünden Globalisierungsgewinner gegen Globalisierungsverlierer. Die gesellschaftspolitische Konfliktlinie orientiert sich eher an den Globalisierungsverängstigten. Solche Wähler fühlen sich entfremdet im eigenen Land und mit der Beschle- unigung des Alltags überfordert.

Parteien sind extrem lernfähig. Anders als bei den Piraten gibt es im Umgang mit den Erfolgen der AfD weitaus höhere Hürden und komplexere Lernkurven, um die Erfolgsthemen der Af D zu übernehmen. Das betrifft zunächst das in Teilen rechtsradikale, antisemitische, völkische Gedankengut, was keine etablierte Partei der Mitte übernehmen wird. Es finden sich Volksverhetzung und Gewaltaufrufe, die strafrechtlich relevant sind. Hier zeigen sich die traditionellen Parteien geschlossen abwehrbereit. Lernen können die anderen Parteien jedoch vom Duktus, in Alternativen zu denken. Wieso gab und gibt es angeblich keine Alternativen zum Euro-Rettungskurs? Wieso können einige Länder der Europäischen Union Grenzen schließen und andere nicht? Wieso lassen sich nicht Lösungen anbieten, die unbegrenzte Freizügigkeit von Personen einhegen? Wieso werden Bürgermeister überhört, die mit der Ghettobildung durch Migranten überfordert sind? Auch der Brexit kam im Mainstream der etablierten Parteien nicht vor. Mit der Entscheidung der Briten setzt nun ein Umdenken durch Lerneffekte ein. Weitere Erfolge der AfD werden langfristig stagnieren. Denn erkennbar wird nicht nur, dass es immer politische Alternativen gibt, sondern auch, dass die Folgen beherrschbar sind. Denkverbote bröckeln seither.

 

Ohne Hypermoral der Gutmenschen

Das gilt vor allem für moralische Höhenflüge. Wer das in großen Teilen antipluralistische Programm der AfD kritisierte, tat dies bislang immer im Gestus des Besserwissers. Populistische Parteien geben sich nicht nur anti-elitär: „Wir gegen oben!“ Sie sind auch antipluralistisch, weil sie das „Wir“ immer nur auf sich selbst beziehen. Ihr „Wir“ behauptet demnach, für den „wahren Volkswillen“ zu stehen. Doch auch liberale Demokraten, die das offene Gesellschaftsmodell verteidigen, verfallen ebenso oft in moralisch abgrenzende Kategorien, die herablassend auf protestbereite Wähler wirken. Wer politische Alternativen nicht denkt, stärkt die AfD. Dass sich alle Alternativen nur im Kontext des Grundgesetzes und damit der Menschwürde bewegen sollten, begrenzt normativ den Gedankenraum, aber sicher nicht die politische Lernkurve. Im Moment ist spürbar, wie sich das neue Denken in Alternativen, ohne Hypermoral der Gutmenschen, ausbreitet. Die etablierten Parteien übernehmen keineswegs das antipluralistische Fre- und-Feind-Denken der AfD, aber die etablierten Parteien prüfen ihre Standpunkte, sie suchen den politischen Streit. Zumindest entwickeln sich die Debatten in den Landtagen in diese Richtung.

Die AfD stellt Identitätsfragen auch an die politische Mitte. Demokratien müssen in Parlamenten aushandeln, wer zum Subjekt der Demokratie dazugehört und wer nicht. Jahrzehntelang hat sich Deutschland als Einwanderungsgesellschaft ohne Einwanderungsgesetz dieser Diskussion entzogen; das rächt sich jetzt. Die AfD agiert nicht nur auf den Wellen einer antielitären Wut und nutzt nicht nur einen antipluralistischen Impuls, sie definiert auch, wer drinnen und wer draußen sein sollte, wer dazugehört und wer nicht. Die AfD vertritt bisher die Interessen der Globalisierungsverängstigten. Die etablierten Parteien der Mitte stehen in der Gefahr, auch diesen Konflikt fatalerweise zu moralisieren: Die Guten sind immer die Europäer, die Schlechten sind diejenigen, welche Halt im Nationalen suchen. Aber diese Arroganz der moralisierten Mitte, die Heimatverbundenheit teils als rückständig kritisiert, verliert Stück für Stück an Wirkungsmacht. Das spricht nicht gegen gute Gründe einer europäischen Vergemeinschaftung. Doch die etablierten Parteien versuchen, verlorengegangenes Terrain zurückzuerobern und nationale Kompetenzfelder mit den Themen sozialer sowie innerer Sicherheit zu besetzen. Das sind angemessene Antworten auf einen Beschleunigungsschub. Die europäische Integration wird seit dem Brexit deutlicher politisiert. So könnte es den etablierten Parteien gelingen, Wählern eine Heimat abseits des Protests zu bieten.

Offene Gesellschaften sind liberal. Das setzt aber politisierte Alternativen immer voraus, über die laut gestritten werden muss – auch über unplausible Argumente. Jeder öffentlich ausgetragene Konflikt schwächt die AfD, wenn Alternativen zwischen Inländern und Inländern diskutiert werden. Die AfD verliert an Zustimmung, nicht durch die Anbiederung der anderen Parteien, die Angst-Mitte verstehen zu wollen, sondern nur durch Abrüsten des moralischen Hochmuts. Populistische Volksbelauscher überrascht man mit argumentativer Augenhöhe, neugierigem Zuhören und mutiger Zuversicht. Diese Erfolgsfalle kann Populisten unter die Fünf-Prozent-Hürde bringen. Die Bundestagswahl 2017 ist insofern mehr als nur ein Parteienwettbewerb. Im Schatten von Terror, Krieg und Krisen nimmt Ideologie zu und Pragmatismus ab. Unterschiede zwischen Demokratien und autoritären Regimen werden sichtbarer. Wähler sehen sich konfrontiert mit elementaren Demokratiefragen – gerade in der politischen Mitte. Das könnte mobilisieren.
 

Karl-Rudolf Korte, geboren 1958 in Hagen, Direktor der NRW School of Governance, Institut für Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen.


Weiterführende Literatur

Bieber, Christoph / Blätte, Andreas / Korte, Karl-Rudolf / Switek, Niko (Hrsg.): Regieren in der Einwanderungsgesellschaft. Impulse zur Integrationsdebatte aus Sicht der Regierungsforschung, Springer VS Verlag, Wiesbaden, erscheint im Herbst 2016.

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