Cemile Giousouf, geboren 1978 in Leverkusen, wurde 2008 Referentin im Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen und zog 2013 als erste muslimische Abgeordnete in den Deutschen Bundestag ein. Sie ist Integrationsbeauftragte der CDU/CSU-Fraktion.
Als Muslimin in einer C-Partei – wie geht das denn? Als ich mich für meine politische Heimat entschied, war das eine Frage, die mir oft gestellt wurde. Und zwar von beiden Seiten: sowohl in der Partei als auch von außerhalb; sowohl von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte als auch jenen ohne. Der Überraschungseffekt in meinem Kommunalwahlkreis war groß, dabei bin ich nicht die erste Muslimin in dieser Partei und schon gar nicht die Einzige. Jeder meiner muslimischen Parteikollegen hatte ganz persönliche Beweggründe, sich für die CDU zu entscheiden. Bei mir war es gerade das „C“. Das C baute mir die Brücke in die CDU, stellt sie doch für mich die beste Verbindung zwischen meiner Haltung zur Politik und meinem Glauben her.
Hier gibt es nicht nur theologisch viele Gemeinsamkeiten, sondern auch bei der Übersetzung in das alltägliche Leben. Es gibt gemeinsame Werte, wie die Achtung vor religiösen Überzeugungen, vor Freiheit, Familie, Eigenverantwortlichkeit und die Wertschätzung eines aufgeklärten Patriotismus. Es geht aber auch ganz konkret um das gewachsene, christliche Menschenbild mit seinem Respekt vor Gott, das mich für die Union einnahm, da es zwischen einem marktradikalen Individualismus einerseits und einem zwanghaften Kollektivismus andererseits eine ausgewogene, dem Menschen angemessene Mittelposition beschreibt.
Die Überschneidungen zwischen den Menschenbildern des Christentums und des Islam sind groß – und können in Zukunft noch größer werden. Denn wie alle religiösen Lehren fallen auch die Menschenbilder nicht vom Himmel, sondern entspringen der jeweiligen Offenbarung und entwickeln sich durch fortlaufende Auslegungen weiter – idealerweise im Dialog miteinander. Sich dessen bewusst zu sein und daran mitzuarbeiten, ist in allen Religionen, die sich auf den Gott Abrahams berufen, ausdrücklich eine Aufgabe aller Gläubigen, nicht nur der Religionsgelehrten. Und gerade die Christdemokratie hat bewiesen, dass gemeinsames, überkonfessionelles Engagement in einer demokratischen Partei eine eigene Wirkung auch in die Kirchen und Religionsgemeinschaften hinein entfaltet. Die „Nova am Parteienhimmel“ (Hans Maier) nahm bewusst das C in den Parteinamen auf. Zu den Kennzeichen der christlichen Gesinnung gehört auch der Schutz religiöser Minderheiten, beispielsweise in der Schule, der sich dort vor allem darin ausdrückt, den jeweiligen konfessionellen Religionsunterricht besuchen zu können. Ähnliches gilt für den Respekt vor der rituellen Beschneidung von Jungen. Die unter dem Deckmantel der Kultursensibilität aufkommenden „Sonne-Mond-und-Sterne-Feste“ (als säkulares Surrogat zum traditionellen Sankt-Martins-Fest geschaffen) werden bezeichnenderweise nicht von islamischen Eiferern – die es zweifellos gibt – eingefordert, sondern von denjenigen, die ohnehin Religion aus dem öffentlichen Leben verbannen wollen. Wir Christdemokraten unterschiedlichen Glaubens erheben unsere Stimme gemeinsam gegen solche traditionsvergessenen Spielereien.
Unverfügbare Würde und die Virginia Declaration of Rights
Schlägt man die Offenbarungsschriften von Christentum und Islam, die Bibel und den Koran, auf, so begegnen dem Leser zunächst Menschenbilder der Vergangenheit. Man trifft etwa auf die Akzeptanz von Sklaverei, die Unterordnung der Frau unter den Mann oder auch Körper und Todesstrafen, die mit unserem modernen Verständnis von Menschenwürde nicht mehr in Einklang gebracht werden können. Erfreulicherweise aber markieren diese Überlieferungen nicht den End-, sondern den Anfangspunkt der Entwicklung der monotheistischen Religionen.
So verwerfen schon die biblischen – wie die koranischen – Urtexte die Vorstellungen von Menschenkasten oder Rassen unterschiedlicher Wertigkeit und stellen ihnen die Abstammung aller Menschen von gemeinsamen Vorfahren entgegen. Auch beziehen sich das Gotteswort und die Zuwendung Gottes nicht auf anonyme Kollektive, sondern auf namentlich benannte Personen. In der Bibel wird der Mensch gar als „Ebenbild“ Gottes bezeichnet und damit der Gedanke einer unantastbaren Würde grundgelegt. In seiner Ankündigung des Weltgerichtes deutet Jesus den Gottesdienst als Dienst an den Bedürftigen, Fremden, Kranken und Verfolgten. Von hier aus entfaltete sich ein Prozess, der sich über Jahrtausende in oft auch innerkirchlichen Turbulenzen und mit Rückschritten vollzog und auch heute noch keinen Abschluss gefunden hat.
„Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“, so widersprachen die Bauern und mutige Gelehrte den Ansprüchen des Adels auf besondere Privilegien. In christlich geprägten Ländern wie der Schweiz und Großbritannien entwickelten sich Verträge und demokratische Beteiligungsformen, bis schließlich die erste Menschenrechtserklärung – die Virginia Declaration of Rights von 1776 – mit enormem Einfluss auf die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Französische Revolution verkündete: „Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte, welche sie ihrer Nachkommenschaft durch keinen Vertrag rauben oder entziehen können, wenn sie eine staatliche Verbindung eingehen, und zwar den Genuss des Lebens und der Freiheit, die Mittel zum Erwerb und Besitz von Eigentum und das Erstreben und Erlangen von Glück und Sicherheit.“
Weiterentwicklung des christlichen Verständnisses
Schon der Umstand, dass nicht wenige der verschiedenen christlichen Kirchen und Bewegungen angehörenden Unterzeichner dieser Menschenrechtserklärungen noch ihrerseits Sklaven hielten und sich auch ein gleichberechtigtes Wahlrecht für Frauen noch nicht vorstellen konnten, verdeutlicht zugleich, dass es mit der Verkündung von Idealen nicht getan war – und ist. Oft kamen Impulse zur Weiterentwicklung und Verinnerlichung des christlichen Menschenbildes auch nicht zuerst aus den Institutionen der großen Kirchen, sondern aus den Reihen kleinerer Bewegungen wie der Quäker oder Baptisten. Prominente Prediger und Bürgerrechtler wie Martin Luther King jr. konnten schon durch die Berufung auf die Urtexte viele Widersprüche und Ungerechtigkeiten ihrer Zeit bloßlegen.
Die CDU und andere christlich demokratische Parteien hatten an der zeitgemäßen Auslegung des christlichen Menschenbildes einen großen und heute leider manchmal zu wenig bekannten Anteil, als sie sich nach der NS-Barbarei für die ökumenische Zusammenarbeit und die demokratische Staatsform entschieden – und damit zum Beispiel wegweisende Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils deutlich vorwegnahmen. Dass die Präambel des deutschen Grundgesetzes mit dem Bekenntnis „in Verantwortung vor Gott und dem Menschen …“ eröffnet, war wesentlich christdemokratischen Personen zu verdanken und spricht auch Muslime, Juden, Anders- und sogar Nichtglaubende an, die von der Notwendigkeit menschlicher Selbstbeschränkung wissen. Zum christlichen Menschenbild gehört das Bewusstsein, dass diejenigen, die den „Himmel auf Erden“ versprachen, immer wieder „höllische“ Systeme verursacht haben. Weil Glaubende Erlösung und Erfüllung erst von Gott erhoffen, können sie einerseits in dieser Welt Verantwortung übernehmen, zugleich aber auch gefährliche Allmachtsfantasien entlarven und zurückweisen.
Religiöse Vielfalt durch gemeinsame Verantwortung
Auf Basis ihres christlichen Menschenbildes hat die Union Jahrzehnte erfolgreicher Politik gestaltet – und ist zugleich nicht stehen geblieben. Sie übernahm Verantwortung und betrieb die Aussöhnung mit dem Judentum sowie die Bindung der jungen Bundesrepublik an die Werte der Freiheit und der Menschenrechte. Und es war die CDU, die jeweils zum ersten Mal in der deutschen Geschichte erfolgreich Frauen für das Amt der Bundeskanzlerin oder auch der Verteidigungsministerin nominierte. Auch die erste muslimische Ministerin in Deutschland, Aygül Özkan, gehörte der CDU an. Dem damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und dem damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten und späteren Bundespräsidenten Christian Wulff ist die erste Anerkennung des Islam als Teil Deutschlands zu verdanken. Während Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Aussage ausdrücklich bekräftigt hat, sollte es Musliminnen und Muslimen zu denken geben, dass ausgerechnet unter den deutschen „Linken“ die größten Vorbehalte gegen diese Aussage bestehen.
Die Fähigkeit zum Umgang mit religiöser Vielfalt – die religionspolitische Kompetenz – hat ihre Wurzeln auch im christlichen Menschenbild. Hier bestätigt sich eine Erfahrung, die nahezu jede Muslimin, jeder Muslim in unserem Land bereits gemacht hat: Mit Christen und Juden, für die ihre religiöse Identität eine große Bedeutung hat, gelingen Dialog und Zusammenarbeit am besten. Das C grenzt Nichtchristen nicht aus, sondern lädt sie ein, Übereinstimmungen zu entdecken und nicht nur in der Theorie, sondern in der gemeinsamen Übernahme von Verantwortung zu erleben und zu vertiefen.
Wert menschlichen Lebens im Islam
Auch im Islam finden wir die Anerkennung des Menschen als Geschöpf Gottes, die gemeinsame Abstammung und die Zurückweisung von Kasten- oder Rassensystemen. Die Pilgerfahrt nach Mekka bezieht sich nicht nur auf die gemeinsamen Stammväter Adam und Abraham, sondern auch die zentralen Rituale gehen maßgeblich auf das erste Buch Mose zurück. Nach Maria, der Mutter Jesu, ist sogar eine eigene Sure benannt, die von der jungfräulichen Geburt des „al-masih“ (des Messias!) berichtet. Der Koran bezeichnet bereits Adam – und damit den Menschen an sich – als „chalifa“, als Statthalter und Nachfolger Gottes auf Erden. Es wird – in naher Entsprechung zu jüdischen Überlieferungen – berichtet, dass es zum Konflikt zwischen Gott und einigen Engeln und Dschinnen (unsichtbare, aus Feuer geschaffene Wesen) kam, als Letztere sich weigerten, sich auf Gottes Anordnung vor dem Menschen (!) niederzuwerfen. Dass der menschlichen Gattung trotz der Herkunft aus „niederer“ Materie die Verehrung durch die höheren Wesen zustehe, gilt auch in islamischen Kontexten als Ausweis einer besonderen Auszeichnung und Würde.
Weithin bekannt ist, dass in Sure 5:32 der Wert des menschlichen Lebens deutlich hervorgehoben wird: „Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne dass es einen Mord beging oder auf der Erde Unheil stiftete, so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält.“
Nicht nur die vergleichende Religionswissenschaft verweist hierbei auf Entsprechungen im jüdischen Talmud – der weiteren Auslegung des biblischen Textes –, sondern auch der Koran selbst tut das, indem er den benannten Vers mit dem Vorsatz einleitet, dies habe Gott „den Kindern Israels vorgeschrieben“. Ganz abgesehen von der so unterstrichenen Verbundenheit wird hier – und zwar ausdrücklich mit Bezug auf das Menschenbild – auch ein Tor in die Zukunft aufgestoßen: Nicht nur der jeweilige Urtext, sondern auch die fortlaufende Auslegung haben ihre Gültigkeit. So können beispielsweise die koranischen Aufforderungen zur gegenseitigen Beratung als frühe Formen partizipativer Beteiligung und die Rechte der Frauen als ein für die damalige Zeit fortschrittlicher und also bleibender Auftrag zur Weiterentwicklung verstanden werden.
Erbittertes innerislamisches Ringen
Doch – wie lange Zeit in der christlichen Welt – blieben auch die Potenziale des islamischen Menschenbildes oft unerschlossen, setzten immer wieder Gegenbewegungen und Rückschläge ein. So wurden die ersten Kalifen als Nachfolger des Propheten noch gewählt, bevor sich schließlich wieder bis in die jüngste Zeit vielerorts dynastische Systeme durchsetzten. Phasen der auch kulturellen und wissenschaftlich-technologischen Blüte wechselten mit solchen der Stagnation und Intoleranz.
Auch unter den nationalistischen und sozialistischen Regimen des 20. Jahrhunderts wurde in den meisten islamisch geprägten Ländern die islamische Gelehrsamkeit eher in den Bereich der Traditionspflege verbannt und blieb zu den Herausforderungen und Brüchen von Modernisierung und Globalisierung zu oft sprachlos oder einseitig ablehnend. In den westlichen Einwanderungsländern spielte der Islam lange Jahre nur in der Religionspraxis eine Rolle und fand seinen Ausdruck in den religiösen Bauten und den religiösen Unterweisungen innerhalb dieser Gotteshäuser. Die Deutsche Islam Konferenz, der bekenntnisorientierte Islamunterricht an deutschen Schulen und die Etablierung islamischer Theologie an Hochschulen wurden maßgeblich von christdemokratischen Bildungsministerinnen vorangetrieben; sie haben damit muslimisches Leben in Deutschland unterstützt und ihm einen angemessenen Platz geschaffen. Die Tatsache, dass diese Maßnahmen durch Christdemokraten in die Wege geleitet und durchgeführt wurden, ist ein weiterer Beleg für das tiefe Verständnis für religiöse Belange in der C-Partei – auch dann, wenn es nicht die eigenen sind.
Erst in jüngster Zeit können in den westlichen Ländern – und hier spielt Deutschland eine Vorreiterrolle – mehr und mehr muslimische Frauen und Männer Fragen des islamischen Gottes- und Menschenbildes neu und offen beraten. Auch streitbare und mutige Thesen, etwa zur umfassenden Barmherzigkeit Gottes oder zur unterschiedlichen Zeitgebundenheit mekkanischer und medinensischer Verse im Koran, werden heute von muslimischen Gelehrten veröffentlicht und von einer zunehmend selbstbewussten, muslimischen Öffentlichkeit aufgegriffen und diskutiert. Während religiöse Fundamentalisten zwar die neuesten Medien nutzen, aber die damit verbundenen Ideenwelten von Freiheit und Austausch ablehnen, wächst in Deutschland eine neue Generation von Lehrenden und Studierenden heran, die auch theologisch aktiv Brücken zwischen den Traditionen des Islam und Grund- und Menschenrechten der Verfassung bauen. Dass Gerichte in Saudi-Arabien empörende Prügelstrafen sowie eine harte Haft- und Geldstrafe gegen den liberalen Blogger Raif Badawi verhängten oder dass sich islamische Extremisten in Nigeria als „Boko Haram“ (übersetzt: „Westliche Bildung sei verboten“) titulieren, zeigt, wie erbittert innerislamisch um das Gottes- und Menschenbild gerungen wird. Hier gilt es, eher noch deutlicher für die gemeinsamen Werte der monotheistischen Religionen und der westlichen Wertegemeinschaft einzutreten und autoritären Regimen sowie Terrorgruppen nicht länger religiöse Deutungshoheiten zu überlassen.
Zwar halte ich die theologischen Diskurse in der islamischen Welt für sehr wichtig, glaube jedoch nicht, dass wir als Demokratinnen und Demokraten auf deren Ergebnisse warten sollten. So wie es richtig war, dass sich die frühen Christdemokratinnen und Christdemokraten an die Spitze der entstehenden ökumenischen Bewegung stellten, indem sie die demokratische und pragmatische Zusammenarbeit einfach vorlebten, so können und sollen auch wir uns als Christen, Muslime, Juden, Anders- und Nichtglaubende gemeinsam engagieren.
Gemeinsam pragmatisch vorangehen
Dazu gehört die Anerkennung der friedlichen Mehrheiten, die im Alltag als Kolleginnen und Nachbarn, als Freunde und Partner zusammenleben, ebenso wie die gemeinsame Abwehr von Extremismus und Verschwörungstheorien – auch dann, wenn die Belange der anderen betroffen sind. Wo immer diese Zusammenarbeit und Solidarität gelingt, gewinnt nicht nur die Gesellschaft als Ganzes, sondern werden auch belebende Impulse in die Religionsgemeinschaften und Kirchen hinein entsandt. Das moderne christliche Menschenbild hat nach Phasen furchtbarer Verirrungen aus dem Dialog mit dem Judentum neue Kraft und Tiefe gewonnen. Als deutsche Muslimin sehe ich vergleichbare Chancen der Zusammenarbeit für meine Religion. In gegenseitiger Wertschätzung, vor allem aber in täglicher Zusammenarbeit können wir auch mit unseren Menschenbildern aneinander und miteinander wachsen. Es gilt die zeitlose Einschätzung von Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. beim Friedensgebet in Assisi 1986: „Mit den anderen glaubenden Menschen sind wir mitpilgernde Schwestern und Brüder; wir alle befinden uns auf dem Weg zu dem Ziel, das uns Gott bereitet.“