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Die Schriftstellerin Ulrike Draesner ist Trägerin des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung 2024

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Um Definitionen, was deutsch sei, waren deutsche Dichter und Denker selten verlegen. Sind es der Wald und die Musik? Ist es die ‚deutsche Angst‘? Was zeigen Hymne und Flagge vom ‚Deutschsein‘? Woher kommen die Klage über die Deutschen und das Leiden an Deutschland? Und wem gehört überhaupt die deutsche Sprache: etwa „dem Volk“ (so hält es eine am 26. März 1998 vom Deutschen Bundestag beschlossene Resolution fest)? Fast könnte man meinen, die naheliegendste Antwort auf die Frage Was ist deutsch? sei diese Frage selbst.

Das zumindest legt der Germanist Dieter Borchmeyer nahe. Er hat große Ideen und kleinliche Überlegungen auf der „Suche einer Nation nach sich selbst“ 2017 gesammelt.

Schriftsteller sehen es anders. Im Gespräch über Deutschland (2024) mit dem New Yorker Philosophen und Übersetzer Michael Eskin erklärt Ulrike Draesner: „Das Deutscheste am ‚Deutschen‘ ist für mich die Sprache.“ Damit öffnet sie eine weite poetische Dimension. Sieben Romane und sieben Lyrikbände, mehrere Bände mit Erzählungen, Essays und multimediale Projekte bezeugen, wie einfallsreich Ulrike Draesner die Sprache als Spiegel und Siegel des ‚Deutschseins‘ versteht, auch und gerade über sprachliche Grenzen hinweg. So hat sie zwei Lyrikbände der amerikanischen Nobelpreisträgerin Louise Glück ins Deutsche übersetzt. Glücks Gedichte sprechen vielfach von Gewaltausübung und ihren Nachwirkungen, vor allem nach der Shoah.

 

Gewalt, Liebe und Verrat

Wie Gewalt sich über Generationen hinweg auswirkt und im kulturellen Gedächtnis Spuren hinterlässt, ist ein leitendes Thema von Ulrike Draesners Schreiben. Ihr Roman Spiele (2005) war das erste wichtige literarische Werk, das sich mit den Folgen des Olympia-Attentats 1972 in München auseinandersetzte. Spiele ist ein Medienroman im mehrfachen Sinne, der den Zusammenhang zwischen den Bildern eines globalen Terrorismus und dem Terror im Fernsehbild erschließt; der Aufklärungsprozess vollzieht sich im Erinnern an die öffentliche Katastrophe.

IMAGO / dts Nachrichtenagentur
Ulrike Draesner am 27. April 2023 auf der Buchmesse in Leipzig.

Um Gewaltverarbeitung geht es auch in Ulrike Draesners Auseinandersetzung mit dem Nibelungenlied. In dem Essayband Heimliche Helden (2013) entzaubert die Autorin, die 1992 in Mediävistik promoviert hat, das germanische Heldennarrativ und betrachtet die unheroischen Eigenschaften der Figuren: Hagens Datenmanagement, Kriemhilds Terrorismus, Brünhilds posttraumatische Belastung. Auch in ihrer Nachdichtung Nibelungen. Heimsuchung (2016) geht es um die Körpererfahrung und um das Innenleben der Figuren. Aus den Perspektiven von Kriemhilt (sic!), Sîvrit, Brünhilt und Hagen, gefolgt von einem epiloghaften Dialog von Kriemhilts „Söhnen“ über ein Nibelungen-Computerspiel, entwickelt sich eine Erzählung von Gewalt, Liebe und Liebesverrat.

Die mittelhochdeutsche Sprache wird dabei in den Dienst einer verdichteten Mehrsprachigkeit gestellt. Aus Kriemhilts Wunsch, „die werelde zu erfahren“, im Sinne der ursprünglichen Bedeutung von „werelde“ („wërlt“), die eigene Zeit zu verstehen, liest Draesner die Diagnose einer Zeitenwende. Kriemhilt erscheint ‚verstrickt‘ in traumatisierte Herrschaftsmilieus: „die frauen sitzen auf bildern und träumen das nichts.“ Wie wir ihre Selbstbefreiung verstehen können, bleibt unklar: als „Monster am Ende, Furie, starke Frau?“. Die postfeministische Lesart ist nur einer unter vielen Deutungswegen; das Nibelungenlied ist für die Übersetzerin auch Tränen-, Betrugs-, Exotik-, Liebes-, Migrationsroman – und die Geschichte der Bergung eines Sprachschatzes.

 

Suche nach Selbsterkenntnis

 

Der Roman Kanalschwimmer (2019), den Ulrike Draesner in ihrer ersten Frankfurter Poetikvorlesung als Novelle ausgelegt hat, fand große Aufmerksamkeit bei der Kritik. Es geht um Charles, 62 Jahre, Biochemiker, Langstreckenschwimmer. Was ihn dazu treibt, den Ärmelkanal zu durchschwimmen, ist weniger sportlicher Ehrgeiz als vielmehr die Suche nach Selbsterkenntnis, nach Tröstung und absurder Verzauberung: ein radikales Schwimmen zu sich selbst. Seine Frau Maude hat ihn nach jahrzehntelanger Ehe verlassen und ist mit seinem Jugendfreund Silas zusammengezogen. Im Naturgeschichtsmuseum in Oxford, unter Walskeletten, festigt sich sein Entschluss: als „Fisch Charles“, „Eisenmann“ seine traumatischen Verlusterinnerungen wegzukraulen.

Ulrike Draesner erzählt von diesem Extremschwimmen im Kontext der Vermüllung und Überschiffung der Meere. Der Kanalschwimmer muss mit der Verwirbelung von Gezeitenströmungen, Winden und Wellen rechnen, dem oft nebligen Wetter, der kühlen Wassertemperatur, dem dichten Schiffsverkehr und schwimmenden Wellblechen. Wenn der Pilot des Begleitbootes den Schwimmer für zu erschöpft hält, muss er ihn aus dem Wasser holen. Die Novelle bietet mehrere Enden der Abenteuergeschichte an: Charles geht mitten in der Nacht unter oder wird im letzten Moment gerettet oder erreicht die französische Küste. Im Wechsel von der euphorisierten, zeitverschobenen Innensicht des Schwimmers zu der Vernunftperspektive seines ‚Piloten‘ öffnet sich die Novelle auf das Geheimnis des Meers, das „als Furcht, als Fremdheit, als unzukömmliches und wildes Abenteuer“ erscheint, wie Thomas Mann in seinem Essay Lübeck als geistige Lebensform (1926) geschrieben hat.

 

Erinnerungslast der „Nebelkinder“

 

Der Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt (2014) eröffnet eine weiträumige Trilogie von Gewalt- und Migrationsgeschichte. Erzählt wird ein deutsch-schlesisches Generationenepos. Die Kriegsflüchtlinge sind mit ihren Kriegskindern und Kriegsenkeln durch traumatische Ereignisse verbunden, die verschwiegen werden, aber in Haltungen und Gefühlen, in Geboten und Tabus weiterwirken, als „intrapsychische Gruft“ (Nicole Sütterlin) oder „kollektive Krypta“ (Ralf Simon). Die moderne Forschung hat dafür den Begriff der „Nebelkinder“ gefunden. Gemeint ist damit, dass die Kriegsenkel eine Erinnerungslast erben, weil diese von den Eltern so verschwiegen wird, dass aus jeder Heimat-Suche eine Heimsuchung wird. Auch hier spielt die Sprache des Romans eine entscheidende Rolle. Sie legt Denkspuren und fordert das Selbstverständnis einer Einwanderungsgesellschaft durch Wortneubildungen wie „Ankommstland“ und „unwieder-gutbar“ heraus. Das macht den Roman zur Erinnerungskunst.

Im Mittelpunkt des zweiten Romans der Trilogie Schwitters (2020) steht der Schriftsteller und bildende Künstler Kurt Schwitters. Auch sein Leben stand im Zeichen von Flucht und Vertreibung. Schwitters war 49 Jahre alt, als er 1937 vor den Nationalsozialisten, die seine dadaistische Kunst als „entartet“ ächteten und ihn arbeitslos machten, nach Oslo floh, mit seinem Sohn Ernst, aber ohne seine Frau Helma.

Erzählt wird Schwitters aus der Perspektive des Künstlers selbst, außerdem aus Helmas und aus Ernsts Sicht. Deshalb ist Ulrike Draesners Roman mehr als nur eine Künstlerbiographie. Hinter dem Künstlerexil steckt eine moderne Migrationsgeschichte, an der die Muttersprache teilhat: Schwitters schrieb bis zu seinem Tod nicht mehr auf Deutsch, das Englische wurde sein Ausdrucksmedium. Dieses Doppelleben zwischen den Sprachen wird in der Struktur des Romans abgebildet, der in die Kapitel „Das deutsche Leben (Ausgang)“, „Das englische Leben“ und „Das Nachleben (Eingang)“ gegliedert ist. Diesen rückwärtigen Einstieg in eine Biographie, der verhindert, dass der Biograph nur „als eine Art Auftischservice“ fungiert, erklärt das dem Roman vorangestellte Motto von Kurt Schwitters: „Man muss daher nicht den Eingang, sondern den Ausgang eines Kinos betreten, wenn man gratis hineinkommen will, stellt sich mit dem Gesicht nach außen, den anderen schönen Körperteil natürlich nach innen, und geht mit negativer Geschwindigkeit hinaus.“

 

Die „Verwandelten“

 

Der letzte Band der Romantrilogie von Ulrike Draesner, Die Verwandelten, gibt dem Krieg ein weibliches Gesicht. Erzählt wird eine Geschichte von starken Frauen, die sich inmitten der Schrecken des 20. Jahrhunderts ständig neu erfinden müssen. Deshalb werden sie zu „Verwandelten“: durch Gewalt veränderte Menschen mit neuen Körpern, Familien, Identitäten. Sie wissen genau, wer sie gewesen waren, aber im Unterschied zu den vergewaltigten Frauen in Ovids Metamorphosen schenkt ihnen Ulrike Draesner eine eigene Sprache.

Der Roman hat reale Vorbilder. Ulrike Draesner hat in ihrem kurzen Nachwort bekundet, dass sie die Geschichte einer polnischen Frau verdankt und akribisch in Polen recherchiert, ihre Figuren jedoch erfunden und wie einen Schutzmantel um die realen Personen gelegt hat. Es sind Frauen aus drei Generationen, von denen wir in diesem Roman lesen. In der mittleren Generation sind es Alissa und Reni, Kinder des polnischen Theaterschauspielers Marolf und Töchter verschiedener Mütter: Renis Mutter ist Marolfs Frau und Alissas Mutter dessen Hausangestellte, die das Mädchen 1943 in ein Lebensbornheim in Bayern bringt. Von dort aus wird Alissa von einem deutschen Ehepaar adoptiert, in Gerhild umgetauft und systematisch daran gehindert, nach ihrer wahren Mutter und ihrem Zuhause zu suchen.

Das nationalsozialistische Rassenzüchtungsinstitut, die Zwangsmigration von Renis Familie und die gewaltsame Abbindung von Alissas Erinnerung sind die dunklen Punkte im Rückspiegel der Geschichten, in den Draesner ihre Figuren blicken lässt. Hell und fabelfroh erzählt sind dagegen die Wiedererkennungsmomente des Romans: Reni und Alissa begegnen sich in Breslau als Halbschwestern, ihre Töchter Doro und Kinga in Hamburg als Halbcousinen.

Auf dieser Erzählebene, in unserer Gegenwart, beginnt der Roman. Doro und Kinga treffen sich bei einem Vortrag als Nebelkinder. Sie gehen auf eine deutsch-polnische Erinnerungsreise, zurück zu den blinden Flecken ihrer gemeinsamen Familiengeschichte, in die Tabuzonen ihrer Herkunft.

Doch Ulrike Draesner schreibt nicht, um Familiengeheimnisse zu lüften. Sie erzählt Geschichten von leisen Explosionen und von erstaunlichen inneren Kräften, vom Mut im Leben und von der Wut angesichts des Todes durch Krieg und Vertreibung. So geht Erinnerung im Roman ihren Weg: nicht linear und nicht logisch, sondern zackig und brennend. Reni, um nur ein Beispiel zu nennen, hat im Lazarett deutsche Kriegsverletzte versorgt und wurde mit deren heilloser Ideologie konfrontiert, sie hat ihren deutschen Namen nach dem Krieg zu „Walla“ polnifiziert, einen Kiosk geführt, zwei Ehemänner und vier Kinder durchgebracht, „ungeheuergestählt“, wie es an einer Stelle im Roman heißt: ein wahrlicher „Durcheinandermensch“.

 

Deutschplus?!

 

Stark an Ulrike Draesners Sprachbewusstsein ist die Freiheit der künstlerischen Schöpfung und der Wille zur Verantwortung der Deutschen in der Welt. In dem Gespräch über Deutschland ist die Rede von einer „critical Germanness“. Das ist für sie jedoch kein kritisches, sondern ein kundiges „Deutschsein, das erlaubt, Geschichten zu erzählen, statt Etiketten zu verteilen“, „ein Deutsch mit Zusätzen, mit Geschichte, mit Verantwortung, Anerkennung von Differenz – und mit Humor statt Reinheitsgebot“, auch und besonders sprachlich.

 

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Literaturreferent der Konrad-Adenauer-Stiftung, außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Universität zu Köln.

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