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Von Vereinnahmung, Egotrips und Mitmenschlichkeit

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Das Wir-Gefühl ist etwas durchaus Ambivalentes. „Wir sind die neue Zeit“, sangen die Nazis, das „Wir“ der sogenannten „Volksgemeinschaft“ appellierte an vermeintlich höchste Werte, allerdings mit niedrigsten Absichten und entsetzlichen Konsequenzen. Auch in Sekten kann das Wir Gefühl im Sinne von „Wir hier drinnen“ gegen „Die da draußen“ pervertiert werden. Es ist nicht immer gut, wenn irgendwelche Leute „wir“ sagen. Gegen allzu viel „Wir“ wurde in jüngster Zeit ein neoliberales „Ich“ gestellt – nicht ohne Erfolg, wie man nicht nur in den von braunen und roten Diktaturen einst geistig verwüsteten östlichen Teilen unseres Landes beobachten kann. Der Glücksratgebertsunami der vergangenen Jahre ist ein Symptom für diese Krise, denn da wird das Glück als Egotrip propagiert: Wie optimiere ich meine Glücksgefühle, meine Erfolgschancen, meine Interessen? Doch all diese Bücher sind letztlich Anleitungen zum Unglücklichsein, denn in ihnen beschreibt ein jeweils selbst ernannter Glücksguru, wie er persönlich glücklich wurde, und lässt dann den Leser traurig zurück, da der nun mal leider nicht der Autor ist. Für das eigene Wohlfühlglück geht es mit diesen hochtrabenden Wegweisern in die Sackgasse.

Dagegen sagt der Philosoph Robert Spaemann mit knapper Nüchternheit, es sei doch sehr die Frage, ob wir uns wirklich am wohlsten fühlen, wenn es uns um nichts anderes geht als ums Wohlfühlen. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Tatsächlich ist das Dorf, in dem ich lebe, glücklicher, seit wir Flüchtlinge haben. Es gibt dort mehr ehrenamtliche Helfer als Asylsuchende. Manch einer, der sonst nur für sich allein gelebt hat, organisiert jetzt Deutschkurse, betreut Familien oder spendet Kleidung. Wer Menschen in Not hilft, erlebt das als unmittelbar sinnvoll. Und das macht glücklich.

 

Im „Ich“ bleibt man allein

Das Projekt der Maximierung bloß ichbezogener Glücksgefühle hat ein erreichbares, aber sinnloses Ziel. Wer wollte sich schon ständig unter Heroin setzen oder sein Glückszentrum im Gehirn permanent durch eine Elektrode reizen lassen? Aber es gibt, sagt der Philosoph Karl Jaspers, Grenzsituationen menschlicher Existenz, die unvermeidlich sind: Leiden, Schuld, Kampf und Tod. Nur wenn man zeigen könnte, wie man in diesen unvermeidlichen Situationen glücklich sein kann, dann könnte man tatsächlich unvermeidlich glücklich werden. Gerade in wieder bleiernen Zeiten ist psychologisch klar: Wer immer befürchten müsste, in allfälligen Krisensituationen ins Nichts zu fallen, der könnte auch im Heute schon nicht wirklich glücklich sein. Wie wenig von dem bleibt, was im gesunden Leben wichtig schien, aber wie viel mehr das, was bleibt, Substanz hat, das kann man in unseren Tagen an der Wandlung Guido Westerwelles zu einem Menschen erleben, dem man existenzielle Betroffenheit abnimmt. Der Auschwitz-Überlebende Yehuda Bacon hat gesagt: „Das Leiden kann einen Sinn haben, wenn es uns so tief erschüttert, dass wir erkennen, dass der andere, jeder andere, ist so wie ich selbst.“ Nur wer einen Sinn im Leben sieht, kann wirklich glücklich sein.

 

Das „Du“ steht am Anfang des Menschseins

Deswegen sind christliche Überzeugungen nicht irgendwelche privaten Kapriolen, sondern sie geben Menschen eine Sensibilität, durch die sie die Not der anderen Menschen mitfühlend wahrnehmen können, um dann ganz unegoistisch zu handeln. Wer glaubt, ist nie allein, hat Papst Benedikt XVI. gesagt. Das stimmt. Das heißt aber nicht nur, dass es das Christentum nie bloß individuell gibt, weil wir uns nicht selbst zum Glauben bringen, sondern durch das „Wir“ der Kirche durch 2.000 Jahre hindurch zum Glauben gebracht werden. Das heißt auch, dass man kein Christ ist, wenn man nur für sich lebt und nicht die Menschen an den Rändern beachtet, auf die Papst Franziskus unermüdlich hinweist, die anderen, für die ich Christ bin. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat uns darauf hingewiesen, dass für das kleine Kind das Du, das Du der Mutter, das erste Erlebnis ist und erst dann langsam klar wird, dass da ein Ich ist, das dieses Du erlebt.

Für Christen gibt es Menschlichkeit nie ohne Mitmenschlichkeit und deswegen das Ich nie ohne das Wir.


Manfred Lütz, geboren 1954 in Bonn, Psychiater, Theologe und Bestsellerautor.


Literatur

Manfred Lütz: Wie Sie unvermeidlich glücklich werden. Eine Psychologie des Gelingens, Gütersloh 2015.

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