Auf einer Konferenz in Sankt Petersburg schreckt Timothy Garton Ash im März 1994 plötzlich hoch. Ein Berater des Bürgermeisters der Stadt verweist darauf, dass sein Land durch den Zerfall der Sowjetunion Gebiete verloren habe, „die historisch immer zu Russland gehört haben“. Russland sei zur Schutzmacht für etwa 25 Millionen Russen geworden, die jetzt außerhalb des Mutterlandes lebten. Die internationale Gemeinschaft müsse diese Interessen Russlands als einer „großen Nation“ anerkennen.
So schildert der britische Zeithistoriker in seinem neuen Buch seine erste Begegnung mit Wladimir Putin. Damit wird deutlich, dass in diesem Mann die Idee vom russischen Imperium, die er später auf fürchterliche Weise exekutieren sollte, bereits vor seiner Karriere im Kreml verankert gewesen ist. 2014 steht er in seinem Palast vor einem ekstatischen Publikum und feiert die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim, mit der er einen Grundpfeiler der europäischen Nachkriegsordnung niedergerissen hat.
Mit aller Klarheit legt Garton Ash dar, dass der russische Präsident verantwortlich ist für die jüngste katastrophale Entwicklung in Europa. Unter Putin sei Russland zu einer „revisionistischen Großmacht“ geworden, stellt er fest. Es führe seit der Invasion am 24. Februar 2022 einen „Terrorkrieg“ gegen die Ukraine. Putins Regime habe zusehends faschistische Züge angenommen – mit kriegerischer Gewalt, Führerkult und der Ideologie von der Herrschaft eines Volkes über andere.
Garton Ash hält im aktuellen Teil seines Buches noch mehr bittere und unbequeme Wahrheiten für Europäer und US-Amerikaner parat. Nach Putins erstem Gewaltstreich gegen Georgien 2008 habe es „keine entschlossene westliche Reaktion“ gegeben, konstatiert er. Sogar auf die Annexion der Krim 2014 sei keine „Kehrtwende“ des Westens im Kurs gegenüber Moskau gefolgt. „Verhängnisvoll“ sei bereits der Beschluss des NATO-Gipfels 2008 in Bukarest gewesen, Georgien und der Ukraine zwar eine Mitgliedschaft im Bündnis in Aussicht zu stellen, jedoch keine konkreten Schritte zur Verwirklichung dieses Ziels zu nennen. Das verstärkte nach Ansicht des Historikers der Universität Oxford Putins Perzeption, dass der Westen nicht genug Rücksicht auf russische Sicherheitsinteressen nehme, aber ebenso wenig die Sicherheit der Ukraine garantiert habe.
Timothy Garton Ash erzählt in seinem großartigen Buch eine Geschichte Europas, die durch persönliche Erinnerungen veranschaulicht wird. Bei den großen Ereignissen scheint er als Reporter und Augenzeuge stets dabei gewesen zu sein. Anfang der 1980er-Jahre forscht er für seine Dissertation an der Humboldt-Universität in Ostberlin; er schreibt aber auch für britische Zeitschriften. Im August 1980 ist er gemeinsam mit anderen westlichen Journalisten auf der Lenin-Werft in Danzig, als streikende Arbeiter unter der Führung von Lech Wałęsa dem kommunistischem Regime Polens die unabhängige Gewerkschaft Solidarność abtrotzen. Zwar wird diese Organisation auf Befehl Moskaus Ende 1981 wieder verboten, jedoch hat sie das Bewusstsein der Bevölkerung bereits verändert.
Freiheit und Europa
1984, als George Orwells gleichlautender Diktaturroman für die Polen noch weitgehend Realität ist, sitzen viele von Garton Ashs Freunden dort im Gefängnis oder arbeiten im Untergrund. In Warschau stattet er einem Aktivisten, der sich mit gefälschten Ausweispapieren in einer anonymen Wohnung versteckt, einen „konspirativen Besuch“ ab. Wider die Bestimmungen der Behörden schmuggelt Garton Ash, wie er selbst schreibt, bündelweise kleine Dollarscheine zur Unterstützung der Solidarność ins Land. Er überbringt Botschaften von Exilgruppen, die er in winzigen Bleistiftbuchstaben auf die Rückseite von Reiseschecks schreibt. Und 1989, im „Jahr der Wunder“, erlebt er mit, wie in Polen und anderen Staaten des Ostblocks die Herrschaft der Kommunistischen Partei durch ein neues Modell einer friedlichen Revolution gestürzt wird. Freiheit und Europa – die beiden Hauptanliegen des Zeithistorikers – marschieren jetzt Arm in Arm. Die Hoffnung von US-Präsident George H. W. Bush – „Europe whole and free“ – ist für Garton Ash die aussagekräftigste Zusammenfassung dessen, was seine Generation auf unserem Kontinent erreichen will. Der symbolträchtige Fall der Berliner Mauer schlägt tatsächlich ein neues Kapitel der Weltgeschichte auf. Die Europäische Union, die Ost und West vereint, ist das politische Projekt, für das sich Garton Ash, der „englische Europäer“, engagieren wird.
Aber Garton Ash war nicht nur teilnehmender Beobachter, sondern auch politischer Analytiker, der die Geschehnisse plastisch auf den Punkt bringt. Als „Refolution“ bezeichnet er die demokratische Wende in Polen und Ungarn, weil sie eine Mischung aus Reform von oben und Revolution von unten darstelle. In seiner Rückschau zeigt der Wissenschaftler auf, wie groß die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte ist. Garton Ash würdigt Michail Gorbatschow als weltgeschichtliche Figur, die das Tor zum Wandel aufgestoßen hat, und Václav Havel, der vom Dissidenten zum Präsidenten auf der Prager Burg avancieren konnte.
Die „Nachmauerzeit“ bringt nach Überzeugung Garton Ashs mit der Charta von Paris 1990 „ein detailliertes, spezifisches Rezept für eine Neuordnung des gesamten Kontinents einschließlich Russlands nach westlich-liberaldemokratischen Vorstellungen“. In der Praxis bedeutet dies vor allem „eine spektakuläre Erweiterung des Westens“, insbesondere eine Erweiterung seiner wichtigsten Institutionen – der NATO und der Europäischen Union – nach Osten. Die Staaten Ostmitteleuropas sehen laut der Analyse des Autors vor allem die NATO als „Verteidigungsschutz“ gegen Russland. Manche Menschen in dieser Region begreifen demnach auch die Europäische Union als einen solchen Schutz. Europa sei „Nicht-Russland“, versichert ein litauischer Parlamentarier dem Zeithistoriker.
Falsches Gefühl der Sicherheit
Russlands Machtelite betrachtet diese doppelte Erweiterung des Westens dagegen offenbar als antirussischen Schritt. Aber richtig verstanden markiere diese Entwicklung „keine Herabsetzung Russlands“, betont Garton Ash. Vielmehr habe der Westen viel unternommen, um Russland in die Strukturen der liberalen internationalen Ordnung einzugliedern.
Doch weswegen kommt es jäh zu einer neuen Ära feindseliger Konfrontation? Garton Ash meint, dass sich der Westen in ein „falsches Gefühl der Sicherheit eingelullt“ habe. Die verhängnisvolle Illusion dabei: Die Politik der internationalen Kooperation und der ökonomischen Verflechtung sei die neue Normalität. Tatsächlich aber sei die Normalität von Nationen und Imperien, die rücksichtslos ihre Ziele verfolgen, nie verschwunden, resümiert der Zeithistoriker. „Was 1989 bis 1991 auf wundersame Weise nicht geschehen ist, geschah dann 2022: Das Imperium schlug mit aller ihm zur Verfügung stehenden Gewalt zurück.“
Helmut L. Müller, geboren 1954 in Murnau am Staffelsee, promovierter Politikwissenschaftler, ehemaliger Ressortleiter Außenpolitik „Salzburger Nachrichten“, freier Autor.