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Das soziale Gewissen der Bundesrepublik?

Über Anspruch und Wirklichkeit

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„Der Mensch ist nicht frei, wenn er einen leeren Geldbeutel hat“, soll der ehemalige polnische Gewerkschafter, Staatspräsident und Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa gesagt haben. Recht hat er. Denn ohne ein Mindestmaß an materieller und sozialer Sicherheit kann sich der Mensch nicht frei entfalten – weder für sich selbst noch für die Gesellschaft. Das ist einer der Grundgedanken, die hinter dem Erfolgsmodell der Sozialen Marktwirtschaft stehen, die das Prinzip der freien Marktwirtschaft mit dem des Sozialstaats verbinden.

Ludwig Erhard versprach der Bevölkerung Wohlstand für Alle – so der Titel seines 1957 erschienenen Buches. In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft sind zunächst der Einzelne und die Familie für ihr eigenes Wohl verantwortlich. Wenn sie nicht mehr in der Lage dazu sind, zum Beispiel die eigene materielle Existenz zu sichern, greifen Gesellschaft und Staat unterstützend ein. „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist dabei die oberste Maxime.

 

Strukturelle Kinderarmut

Es wird niemand bestreiten, dass Kinder für den Start ins Leben auf jeden Fall Unterstützung benötigen. Das ist zuallererst Aufgabe der Eltern. Doch was ist, wenn die Eltern selbst Unterstützung brauchen? Wenn sie es zum Beispiel nicht schaffen, aus eigener Kraft für den Lebensunterhalt der Familie aufzukommen? In diesem Zusammenhang hat kürzlich eine Studie der Bertelsmann Stiftung mit dem Titel Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche für Aufsehen gesorgt. Die Ergebnisse müssen uns zu denken geben: Fast jedes fünfte Kind in Nordrhein-Westfalen ist von Armut betroffen.

Konkret bedeutet das: Zwischen 2011 und 2015 ist der Anteil der Kinder an Rhein, Ruhr und Lippe, die in Familien leben, die auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind, von 17,0 auf 18,6 Prozent gestiegen. Nordrhein-Westfalen nimmt damit eine traurige Spitzenreiterposition ein: In keinem anderen westdeutschen Flächenland gibt es eine höhere Kinderarmutsquote. Besonders bedenklich stimmt auch, dass fast sechzig Prozent dieser Kinder im Alter zwischen sieben und fünfzehn Jahren drei Jahre oder länger auf den SGB-II-Bezug angewiesen sind. Man kann in diesen Fällen von einer strukturellen Kinderarmut sprechen – und das ausgerechnet in einem Land, dessen Regierung für sich in Anspruch nimmt, kein Kind zurücklassen zu wollen.

„Das Land Nordrhein-Westfalen will und wird das soziale Gewissen der Bundesrepublik sein.“ Mit diesem Satz prägte Karl Arnold (CDU) als zweiter Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens einen ganz zentralen politischen Anspruch, der das Bundesland bis heute prägt. Für Arnold, der tief im christlichen Glauben verwurzelt war, war Freiheit keine absolute Freiheit, sondern eine dem Gemeinwohl verpflichtete Freiheit. Freiheit in diesem Sinne beinhaltet zugleich zwingend Solidarität. Und eine solidarische Gemeinschaft eröffnet allen Menschen die gleichen Chancen auf ein eigenverantwortliches Leben, auf Teilhabe am Wohlstand, auf Bildung, auf Aufstieg. Umso besorgniserregender ist es, wenn einem Menschen gleich zu Beginn seines Lebens, als Kind, durch Armut womöglich Chancen genommen werden. Gerade Nordrhein-Westfalen, das soziale Gewissen unseres Landes, muss dies zu verhindern wissen.

 

Wirtschaftswachstum und Arbeit

Wie kann dies gelingen? Das entscheidende Stichwort heißt: Arbeit. Wer nicht die Möglichkeit hat, mit seinen eigenen Händen (und natürlich seinem eigenen Kopf) und mit einem fairen Lohn für sich und seine Familie zu sorgen, droht in die Armut abzurutschen – und das womöglich dauerhaft. Dies zu verhindern, ist eine zentrale Aufgabe der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Wir brauchen ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum und gesunde Unternehmensstrukturen, damit es genügend Jobs gibt. Wenn es die nicht gibt, kollabieren sämtliche Sozialversicherungssysteme wie Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung.

Eine Politik, die Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert, ist in diesem Sinne zutiefst unsozial. Die Fakten sind eindeutig: Laut den Zahlen des Statistischen Bundesamtes war Nordrhein-Westfalen 2015 das einzige Bundesland ohne wirtschaftliches Wachstum. Das verarbeitende Gewerbe ist um 2,1 Prozent geschrumpft, während es im Bundesdurchschnitt um 1,7 Prozent zugelegt hat. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Erwerbstätigen lag erstmalig in der Geschichte von Nordrhein-Westfalen unter dem bundesdeutschen Durchschnitt. Zu denken geben muss darüber hinaus, dass die Investitionen in Forschung und Entwicklung 2014 ebenfalls deutlich unter dem Durchschnitt lagen. Machten sie in Nordrhein-Westfalen rund 2,0 Prozent des BIP aus, lag der Durchschnitt bundesweit bei 2,9 Prozent. In Baden-Württemberg waren es sogar 4,9 Prozent.

Bereits Johannes Rau reagierte auf derartige Fakten reflexartig mit zwei Hinweisen: Erstens leide das ehemalige Stahl- und Kohleland Nordrhein-Westfalen im besonderen Maße unter dem Strukturwandel. Und zweitens solle man das Land doch bitte schön-, nicht schlechtreden. Diese Argumentationsmuster werden Jahrzehnte später so fortgeführt. Damals wie heute haben wir es aber mit einem Totschlagargument zu tun. Nicht nur aus demokratischer Sicht ist das bedenklich: Wenn jede Kritik am wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs einer Regierung als Schlechtreden des Landes qualifiziert und damit zum „sanften Landesverrat“ gestempelt wird, wird jegliche inhaltliche Debatte im Keim erstickt.

 

Bürokratie ist unsozial

Was den ewigen Hinweis auf den Strukturwandel angeht, ist dieser ein Zeichen der Hilflosigkeit. Politik – allen voran Regierungspolitik – muss aber den Anspruch haben, einen Strukturwandel mitgestalten zu können. Wer diesen Anspruch aufgibt, sollte auch keine Regierungsverantwortung übernehmen.

Zudem verschweigt die Landesregierung, dass sie die Probleme des Strukturwandels mit ihrer wirtschafts- und industriefeindlichen Politik geradezu befeuert. Beispielhaft hierfür stehen das Klimaschutzgesetz, der Klimaschutzplan, das Landeswassergesetz, das Landesnaturschutzgesetz oder der Landesentwicklungsplan. Diese Initiativen tragen wenig bis gar nichts zum Klima- und Naturschutz bei, bürden der nordrhein-westfälischen Wirtschaft durch eine Vielzahl von Verboten und zusätzlicher Bürokratie aber eine Last auf, die es so in anderen Bundesländern nicht gibt. Das kostet Wachstum. Das kostet Arbeitsplätze. Das ist zutiefst unsozial.

Wie sich das konkret zeigt, dafür gibt es eine ganze Reihe von Beispielen: Aufgrund dieser restriktiven Politik können viele Kommunen kein Bauland, kein Industrie- und Gewerbegebiet mehr ausweisen. Ohne zusätzliche Industrie- und Gewerbeansiedlungen können aber keine neuen Jobs entstehen. Für die Wirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen ist es zudem extrem wichtig, auf eine gute Infrastruktur zurückgreifen zu können. Da ist es geradezu verheerend, wenn Nordrhein-Westfalen immer wieder Bundesmittel zum Straßenausbau verlorengehen, weil die Straßenplanungen regierungsseitig nicht ausreichend vorangetrieben werden. Die Liste der Baufreigaben im Bundesfernstraßenbau 2016/17 umfasst 23 neue Projekte mit einem Volumen von 1,4 Milliarden Euro. Erstmalig in der Geschichte ist Nordrhein-Westfalen mit keinem einzigen Projekt dabei. Grund: Die Planungsreserven sind aufgebraucht, und es wurden keine neuen Planfeststellungsbeschlüsse gefasst.

 

Arbeitslosenquote überdurchschnittlich hoch

Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich beim Ausbau der digitalen Autobahnen: Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) hat im September 2016 in der zweiten Runde des Bundesprogramms zur Förderung des Breitbandausbaus 116 Förderbescheide mit einem Gesamtvolumen in Höhe von 904 Millionen Euro vergeben. Davon gingen gerade einmal drei Bescheide mit einem Volumen von 25 Millionen Euro an nordrhein-westfälische Kommunen und Landkreise. Ein weiteres Beispiel: Rund zwei Jahre vor der Schließung des Bochumer Opel-Werkes erklärte der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister, dass niemand von den Beschäftigten bei Opel in die Arbeitslosigkeit gehen dürfe. Nur wenige Monate vor dem Auslaufen der Transfergesellschaft zeigt sich laut Medienberichten nun, dass über 1.000 ehemaligen Opelanern die Arbeitslosigkeit droht.

Die Konsequenzen dieser Politik verdeutlichen inzwischen: Neben der Tatsache, dass die Kinderarmut gestiegen ist und die Wirtschaft nicht wächst, ist die Arbeitslosenquote in Nordrhein-Westfalen überdurchschnittlich hoch. Mit 7,8 Prozent lag sie im Juli 2016 um dreißig Prozent höher als im Bundesdurchschnitt, im Vergleich zum Durchschnitt der westdeutschen Länder sogar um 42 Prozent. Auch der Anteil der Menschen an der nordrhein-westfälischen Gesamtbevölkerung, die von relativer Einkommensarmut betroffen sind, ist ungleich höher: Er liegt bei 16,2 Prozent, während es im Bundesdurchschnitt 15,4 Prozent sind. Das heißt: Rund 2,8 Millionen Menschen an Rhein, Ruhr und Lippe verfügen über weniger als sechzig Prozent des mittleren Einkommens in Nordrhein-Westfalen.

 

Investitionen in die Zukunft

Es sind also nicht gerade einfache Zeiten für diejenigen, die nach wie vor an Karl Arnolds Credo glauben, dass Nordrhein-Westfalen das soziale Gewissen der Bundesrepublik Deutschland sein muss. Ihnen sei an dieser Stelle aber zugleich gesagt: Nordrhein-Westfalen ist nach wie vor stark. Es muss schlichtweg von den Fesseln befreit werden.

Konkret bedeutet das: Die bereits genannten wirtschafts- und investitionsfeindlichen Gesetze und Initiativen der letzten Jahre müssen korrigiert werden. Es muss möglich sein, neue Industrie- und Gewerbeflächen zu schaffen. Es muss mehr in die digitale und die Verkehrsinfrastruktur, in Forschung und Entwicklung sowie in Bildung und Weiterbildung investiert werden. Gerade dem Übergang von der Schule in das Berufsleben kommt eine zentrale Rolle zu. Wir müssen den Mittelstand von unnötigen gesetzlichen Hindernissen befreien, anstatt immer neue Vorgaben zu machen, die in der Praxis nichts anderes als unnötige Bürokratie bedeuten. Ökonomie und Ökologie müssen versöhnt statt gegeneinander ausgespielt werden.

Arbeit hat Wert und Würde. Arbeit ist sozial. Eine gute Wirtschaftsförderungs- und Arbeitsmarktpolitik ist daher immer noch die beste Sozialpolitik. Niemand weiß das besser als die Menschen im „Bundesland der Malocher“.


Karl-Josef Laumann, geboren 1957 in Riesenbeck, Stellvertretender Vorsitzender der CDU Nordrhein-Westfalen, Bundesvorsitzender der CDA und Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit.

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