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Der Burkini aus der Perspektive der Modeforschung

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In Frankreich ist die Debatte um das Kopftuch oder den „voile islamique“ und um die Verschleierung des Frauenkörpers mit der Erfindung und Vermarktung des Burkinis im Sommer 2016 erneut aufgeflammt. An der Côte d’Azur erließen Gemeinden wie Nizza und Cannes unter dem Eindruck des vom Islamischen Staat (IS) reklamierten Attentats am 14. Juli 2016 ein Verbot der Verschleierung am Strand. Mancher unterstellte den so Verhüllten eine Parteinahme für die Attentäter; in beiden Fällen kämpfe der Islam gegen die Werte der Republik. Oft wurde dabei übersehen, dass unter den über hundert Opfern nicht wenige Menschen islamischen Glaubens waren.

Das Bild, auf dem voll uniformierte Polizisten nach Erlass des Verbots am Strand von Nizza eine Frau dazu nötigten, ihr langärmeliges Oberteil coram publico auszuziehen, ging um die Welt. Die in Frankreich stark rezipierte New York Times sah darin nicht eine Geste der Befreiung des weiblichen Körpers und eine Garantie demokratischer Gleichberechtigung, sondern seine Instrumentalisierung in einer Wertedebatte. Prompt wurden Fotos der 1950er-Jahre aus den Archiven hervorgeholt, die einen ebenfalls voll uniformierten Polizisten zeigen, der einer Strandschönheit im Bikini ein Strafmandat ausstellt. Beides, Bikini und Burkini – zu verschiedenen Zeiten sittenwidrig, einmal zu viel, einmal zu wenig. Die Staatsgewalt verfügt, wie viel Haut eine Frau zu zeigen oder zu bedecken hat.

Der französische Verfassungsgerichtshof hob die kommunalen Verbote mit der Begründung auf, dass diese Freiheitsbeschneidung im öffentlichen Raum nicht mit den Gesetzen der Republik in Einklang zu bringen sei. Fragen der Kleidung sind wieder explizit zu Fragen der Politik, der Gesetzgebung, des Weltbildes geworden.

„Islamische Mode“

Im Sommer 2016 kam die „islamische Mode“ in den großen westlichen Firmen an. H& M zeigte ein Model mit Hidschab; Dolce & Gabbana (D& G) entwarf in Sachen normgerechte Verhüllung gleich eine ganze sehr üppige, mit Spitzen übersäte Abaya- und Hidschabkollektion aus Charmeuse für die betuchten Damen der Golfstaaten. Marks & Spencer vermarktete den modehistorisch aus der Sportbekleidung stammenden Burkini – eine Wortzusammensetzung aus „Burka“ und „Bikini“. Erfunden wurde er in Australien als Funktionskleidung für Rettungsschwimmerinnen muslimischen Glaubens, die aus religiösen oder kulturellen Gründen auch beim Schwimmen und am Strand Körper und Haare verhüllen wollen. Wer damit aus dem Wasser steigt, wirkt nicht wie in feuchte Tücher gehüllt. Trotzdem trocknet der Burkini so schnell wie ein Badeanzug.

In der anglophonen Welt wird all das weitgehend nicht nur als ein gutes Geschäft, sondern als eine inklusive, liberale Maßnahme verstanden. Musliminnen, die die konventionellen Regeln des Bedeckens beachten, können jetzt Rettungsschwimmerin werden, am gemischten Schwimmunterricht teilnehmen oder zum Joggen an den Strand gehen. Hautärzte wiesen darauf hin, dass es eine gute Idee sei, einen Burkini zu tragen – nicht etwa, um sich vor Blicken, sondern um sich vor der hautschädigenden Wirkung der Sonnenstrahlung zu schützen.

Die Positionen

Anders in Frankreich: Familienministerin Laurence Rossignol rief zum Boykott der Firmen auf, die „islamische Mode“ herstellen. Sie verglich die Frauen, die angeben, sich freiwillig zu verhüllen, mit „Schwarzen“, die die Sklaverei bejahten. Die französische Philosophin Élisabeth Badinter unterstützte sie trotz unglücklicher Wortwahl („nègres“) in der Sache. Argumente muslimischer Feministinnen, die die Verhüllung für den Inbegriff weiblicher Selbstbehauptung gegen ein patriarchalisches, verwestlichtes Regime halten, gelten aus dieser Perspektive als Ausdruck eines gänzlich falschen Bewusstseins. Die Frage der islamischen Mode riss Gräben im Lager der laïcité auf. Die einen sehen die für die Republik grundlegende Gleichheit der Geschlechter durch die islamische Mode weggewischt: Die Republik könne es nicht zulassen, dass Frauen im Lande der Menschenrechte und der Freiheit als sexuelles Eigentum des Mannes versklavt würden. Viel zu lange habe man zugesehen, wie in den Banlieues religiös-patriarchalische Paralleluniversen entstünden, wo Männer Frauen, Väter und Brüder Töchter und Schwestern als sexuelles Eigentum betrachteten. Die sexuelle Selbstbestimmung werde den Frauen durch die Verhüllung genommen, argumentierten die Verteidiger des Kopftuchverbots schon im französischen Parlament. Frauen, die angäben, aus freiem Willen und freier Entscheidung Burkini, Hidschab und andere verhüllende Kleider zu tragen, hätten die Herabwürdigung ihrer Sexualität zum Konsumgut der Männer verinnerlicht. Gotteskrieger seien am Werk, die Frauen in die dunklen sexistischen Zeiten der Herabwürdigung von Weiblichkeit zum Eigentum des Mannes zurückkatapultieren wollten.

Das Kopftuch und a fortiori die Ganzkörperverschleierung sind in Frankreich Staatsbediensteten und Schülern aus zwei Gründen verboten: Erstens wird dem Kopftuch eine eindeutige religiöse Bedeutung zugewiesen. Die öffentliche Demonstration solcher Religiosität sei in einem aufgeklärten, säkularen Staat nicht tragbar. Es wird als Flagge einer religiösen Gruppierung von Immigranten interpretiert, die eine Trennung von Kirche und Staat ablehnten und sich gegen die laïcité als einen der wichtigsten Grundpfeiler der Republik auflehnten. Zweitens richtet sich das Kopftuch für seine Gegner gegen ein in der Verfassung garantiertes Recht: die Gleichheit der Geschlechter. Die Religion, der Islam, rückt so in eine ähnliche Rolle, wie sie die Republikaner der katholischen Kirche während des ganzen 19. Jahrhunderts zuwiesen: derjenigen des Helfershelfers einer obskuren, hinterwäldlerischen, patriarchalen Unterdrückung. Die Republik habe versagt; niemand habe den Frauen geholfen, den Weg aus dieser Unterordnung und Verdinglichung hin zur republikanisch gesicherten Freiheit und Gleichheit zu gehen. In dieser Selbstbehauptungsschlacht gegen Faschismen und Totalitarismen wäre alles andere als eine offene Kampfansage quasi ein neues „München“ und mithin „Appeasementpolitik“.

Die andere Seite in dieser Auseinandersetzung sieht die Gleichheit der Geschlechter in der Republik nicht gegeben. In dem neorepublikanischen Kampf gegen vermeintliche Fundamentalismen habe sich die laïcité selbst in ein fundamentalistisches Instrument verwandelt: Es zwinge zur Freiheit und betreibe de facto eine besonders perfide Form der allgemein gewordenen „Pornoprostitution“. Im Grunde regle der freie Markt die Geschlechterverhältnisse: Käufer und Gekaufte, Aushaltende und Ausgehaltene – Käufer und Aushaltende im Regelfall männlich, Gekaufte und Ausgehaltene im Regelfall weiblich. Der Philosoph und Autor Alain Badiou griff mit beißend satirischem Tonfall in die Debatte ein. Allein als Ware und nicht als freies Subjekt könne sich Weiblichkeit gegenwärtig einen Zugang zur Öffentlichkeit verschaffen: „Meanwhile the prostituted female body is everywhere. The most humiliating pornography is universally sold. Advice on sexually exposed bodies lavishes teen magazines day in and day out.“ Der Zwang zur Lust halte alle in Atem: „Enjoyment has become a sinister obligation. The universal exposure of supposedly exciting parts is a duty more rigid then Kant’s moral imperative.“

Die erbittert geführte Debatte um die „islamische Mode“, um Burkini und Hidschab, wirft also ein Licht auf das Erscheinungsbild von Frauen und Männern im öffentlichen Raum. Wer genauer hinsieht, stellt fest, dass Männer und Frauen in der Öffentlichkeit – auch über die Vermarktung des Körpers hinaus – alles andere als „gleich“ sind. Warum kräht etwa kein Hahn nach dem Turban, während Tintensturzbäche über die islamische Mode, über Kopftuch und Burka vergossen werden? Der Kampf um den Schleier verschleiert insofern auch, was nicht sein darf: unsere Ungleichheit der Geschlechter in Bezug auf das Erscheinen von Geschlechtlichkeit im öffentlichen Raum.

Der Mann schaut – die Frau wird angeschaut

Seit der Französischen Revolution lautet der die Kleidung bestimmende Gegensatz: „weiblich/ erotisch markiert“ (aufreizend) versus „männlich/ erotisch unmarkiert“ (bedeckt). Der Mann, als Subjekt des Begehrens, schaut; die Frau, als Objekt des Begehrens, wird angeschaut. Sie sticht ihm ins Auge. Durch die sich seit dem 18. Jahrhundert herausbildende Mode wurde der männliche Körper in seiner Geschlechtlichkeit in Gesellschaftskörpern aller Art aufgehoben, während der weibliche Körper von den Zehen bis zu den Haarspitzen im Blick der Männer erotisiert wurde. Bis zum Anbruch der Moderne stand weibliches, schamhaftes Verschleiern gegen männliche ostentative Zurschaustellung.

In der Mode zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert waren es die Männer gewesen, die als schönes Geschlecht ihre Reize ins rechte Licht setzten. Die weibliche Mode war von der Logik des Geheimnisses geprägt: verhüllen und verschleiern, nicht zeigen, sondern erahnen lassen. Im Gegensatz zur Männermode, die zeigte, musste die Frauenmode das Zeigen auf eine paradoxe Weise verhüllen. Gestellte Schamhaftigkeit wurde das Prinzip der weiblichen Mode. Nach dem großen Epochenbruch übernahm die Frauenmode aus der vorherigen Männermode, was vor der Französischen Revolution verpönt war: schamloses Zeigen. Heute zeigen Frauen ostentativ das, was die Männer einst zeigten: Bein und Po, und sie zeigen es nach Art der Männer ostentativ.

Die Emanzipation unter der Überschrift „unisex“ scheint also nicht zu einer Angleichung, sondern zur Verschärfung des Unterschieds zwischen Frauen (erotisch markiert) und Männern (erotisch unmarkiert) geführt zu haben. Diese eklatante Ungleichheit der Geschlechter im öffentlichen Raum, ihre inszenierte Geschlechtlichkeit ist – wie der Kampf um die weibliche Verschleierung – ein ganz und gar modernes Phänomen, das nach der Französischen Revolution entstand. Diese Ungleichheit der Geschlechter konstituiert die Kleiderordnung der Moderne als Form der Öffentlichkeit. Man mag die unter der falschen Flagge der Gleichheit vorangetriebene umfassende Erotisierung des weiblichen Körpers als ein Emblem der Freiheit bejahen, mit ihr produktiv umgehen, sie genießen. Blind aber müsste man sein, wenn man sie verleugnen wollte. Nikab, Hidschab und Burkini tragen diese Sachlage mit theatralischer Gewalt in den öffentlichen Raum.

Lächelnder Blickaustausch zwischen den Geschlechtern, der das etablierte Blickregime alt aussehen lässt und die republikanische Männerroutine durchkreuzt, ist öffentlich weitaus demokratischer und befriedigender als die ins Sinnlose gesteigerte Alternative von Porno und politisch korrekter Entblößung.

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Barbara Vinken, geboren 1960 in Hannover, Literaturwissenschaftlerin, Modetheoretikerin und seit 2004 Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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