Sowohl bei Paulus als auch bei Jesus gibt es deutliche Hinweise darauf, dass einem die weltliche Ordnung nicht gleichgültig sein kann. Beide plädieren dafür, die politischen Bedingungen, unter denen wir leben, ernst zu nehmen und sich nicht dem vermeintlich schnöden Geschäft der Politik zu entziehen. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“, sagt Jesus. Respektiert die Obrigkeit, sie ist von Gott, darf aber nicht selbst Gott spielen.
Für Paulus ist das Reich unter der Herrschaft des Augustus ein Rechtssystem, das ihn schützt. Ein Gemeinwesen braucht Ordnung, um existieren zu können. Dazu gehören Unterordnung und Respekt vor dem vorhandenen System. Dennoch gab es auch damals schon Nichtwähler, die die Welt verabscheuten. Paulus hatte Sorge vor allzu viel esoterisch-christlichem Enthusiasmus. Die Gemeinde Gottes hat sich in der Welt zu bewähren.
Gott ist Mensch geworden, hat sich aus freien Stücken vom Jenseits ins Diesseits begeben, auch, um einen vernebelt-verträumten Blick weg von der Transzendenz auf die klare Sicht der Immanenz zu lenken. Aufgabe von Christenmenschen ist es, auf das Drumherum in Gesellschaft und Politik zu achten, damit Menschen vom himmlischen Heil schon etwas auf Erden spüren. Und sie haben den Auftrag, politische Kultur zu befördern.
Dazu gehört es, den Respekt vor denen zu bewahren, die öffentliche Ämter bekleiden. Intelligente Kritik an der Politik, Satire, für die es wahrlich Stoff genug gibt, die braucht es unbedingt. Aber Larmoyanz in Verbindung mit Untätigkeit ist keine christliche Tugend. Kulturpessimismus und pauschale Verunglimpfung demokratischer Institutionen erst recht nicht! Der Prophet Micha hat geschrieben: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ (Micha 5,8). Eine politische Mahnung. Micha hat Fragen benannt, die nicht an Aktualität eingebüßt haben: die Frage nach der Kluft zwischen Arm und Reich. Die Frage nach Gerechtigkeit, nach Frieden. Soziale Probleme und politische Debakel sind nur zu verstehen, wenn man begreift: Dahinter stehen immer geistige und kulturelle Defizite.
Positiv gesagt: Politisches Handeln, auch potenzieller Widerstand, braucht Gewissen. Wir sollen uns mit hellwachem Geist und offenem Herzen für Menschen engagieren, die uns hierzulande und weltweit anvertraut sind. Das Pauluswort „Es ist keine Obrigkeit außer von Gott“ hat subversive Spitze. Selbst der Kaiser in Rom, der sich für Gott hält, ist von Gott eingesetzt, ist Mensch wie jeder andere. Den Satz haben Christen oft als Mahnung empfunden, keinen Widerstand zu leisten. Aber es gab und gibt den Mut, aus Gewissensgründen Obrigkeit daran zu messen, ob sie dem Wohl der Menschen dient. Mit einer solchen Haltung steht Martin Luther vor dem Reichstag in Worms – was zur Aufschrift auf Socken verkommen ist. Obrigkeit muss sich daran messen lassen, ob sie dem Menschen dient. Wo das nicht geschieht, gilt das Wort aus der Apostelgeschichte: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Politisches Engagement und Kirche gehören zusammen.
Gefühl der Bevormundung
Christsein ist Ausdruck eines Gottvertrauens, das persönliche Freiheit mit Verantwortung verbindet, das zu kritischer Distanz gegenüber anderen Mächten und Gewalten befähigt, und die Freiheit, in der die Wahrheit von der Lüge unterschieden wird. Das „C“ – das ist Individualismus mit der Notwendigkeit der Institution. Das Bewusstsein, gerechtfertigt, mit individuellen Gaben und Fähigkeiten gesegnet zu sein, beflügelt und verpflichtet zu neuen Taten.
In solchem Engagement kommt ein Denken zum Ausdruck, das im Licht der Ewigkeit nicht zufrieden ist mit den Verhältnissen, wie sie sind. Glaube wirkt im Miteinander und Gegenüber zur Politik. Suchet ihr Wohl – denkt mit! Deshalb haben wir in der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für Öffentliche Verantwortung ein Papier mit zehn Impulsen zum Thema „Konsens und Konflikt“ verfasst. Der Münchner Professor Reiner Anselm ist Spiritus Rector dieser Gedanken. Hintergrund und Zielsetzung des Impulspapiers haben damit zu tun, dass das Verhältnis des Protestantismus zur Demokratie nicht immer einfach war. Der Protestantismus hat lange gebraucht, um den Staat des Grundgesetzes positiv würdigen zu können. Bis heute sehen sich die Kirchen häufig als moralische Letztinstanzen. Sie sind vielfach davon überzeugt, zu wissen, was das richtige Verhalten ist. Gelegentlich bleibt dabei der Diskurs auf der Strecke.
Die Bundesrepublik hat es zu Wohlstand und einem eindrucksvollen inneren Frieden gebracht. Aber die Bundestagswahl 2017 und der schwindende Einfluss der einstmals großen Volksparteien zeigen: Menschen haben nicht mehr den Eindruck, dass sie etwas beeinflussen können – und sie fühlen sich bevormundet. Denn allzu oft wird der Konsens dadurch erreicht, dass abweichende Positionen aus der Debatte ausgeschlossen werden – und zwar mit moralischen Argumenten.
Der Anteil derer, die sich von der Politik und auch den Kirchen repräsentiert fühlen, wird kleiner. Neue linke und rechte Gruppierungen formieren sich, Populisten nehmen für sich in Anspruch, Volkes Stimme zu sein und dieses Volk besser zu vertreten als die „da oben“, die verhassten Eliten. Das Papier „Konsens und Konflikt“ möchte eine öffentliche Debatte zur Weiterentwicklung der Demokratie anstoßen.
Die Relevanz der Volksparteien für die Stabilität des Gemeinwesens ist überwiegend für ältere Wählende aus geringeren Bildungs- und Einkommensschichten ein wichtiges Motiv für ihr Wahlverhalten. Erosionssymptome zeigen die Volksparteien vor allem bei jungen, weiblichen, aufstrebenden und gut situierten Wählenden im Bereich der Metropolregionen.
Volksparteien in der Zwickmühle
Im Schwund der Akzeptanz der Volksparteien zeigt sich der tiefgehende Konflikt divergierender Modelle zur eigenen Besitzstandswahrung – zwischen Stadt und Land, zwischen unterschiedlichen Generationen und vor allem zwischen unterschiedlichen Bildungs- und Wohlstandsmilieus: Diejenigen, denen es jetzt gut geht, legen den Schwerpunkt eigener Interessen weniger auf Erhalt oder Ausbau ihrer angenehmen aktuellen Lebensverhältnisse, sondern sie wollen ihre positiven Zukunftsaussichten für sich und ihre Nachkommenschaft durch eine auf Nachhaltigkeit angelegte Politik gewahrt sehen. Diejenigen, denen im gegenwärtigen Alltag ihrer Milieus Mangelerscheinungen nicht fremd sind, setzen weniger auf Zukunftsrettung zugunsten künftiger Generationen, sondern mehr auf eine Politik, die ihre gegenwärtigen Lebensverhältnisse zu verbessern und gegen Gefährdungen zu schützen verspricht. Die Volksparteien befinden sich in einer strategischen Zwickmühle: Je mehr Menschen mit guter Bildung und Qualifikation, mit Wohlstand, Prosperitätsaussicht und Weltläufigkeit ausgestattet sind und deshalb komfortabel mit gravierenden Veränderungen umzugehen gelernt haben, desto höher wird die Zahl derer, die eine primär zukunftsorientierte, transformierende Politik präferieren.
Je stärker aber die Volksparteien auf den Kurs einer in diesem Sinne zukunftsorientierten Politik einschwenken, desto mehr werden sie Akzeptanz bei jenen Bürgern verlieren, die es sich angesichts ihrer sie jetzt bedrängenden Lebensprobleme und Ängste nicht leisten wollen, vornehmlich an das Übermorgen zu denken. Im Umkehrschluss stehen etwa die Grünen, wenn sie nicht nur auf eine urbane, wohlsituierte Wählerklientel bauen, vor der Aufgabe, „kleinen Leuten“ zu vermitteln, inwieweit durch eine zukunftsorientierte Politik das „Leben jetzt“ gegen unliebsame Einschränkungen geschützt wird (vgl. Dieter Breit: Nachlese zu den bayerischen Landtagswahlen 2018, München 2018, unveröffentlichte Analyse durch den Beauftragten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für die Beziehungen zu Landtag und Staatsregierung sowie für Europa-Fragen).
Falle des „Entweder-oder“
Politik wird verstärkt Lösungsmodelle des Ausgleichs zwischen zukunftsorientierter und gegenwartsorientierter Besitzstandswahrung erarbeiten müssen. Sonst drohen sich wachsende Teile der Wählerschaft vom Ziel des Ausgleichs und womöglich insgesamt von rechtsstaatlicher Demokratie zu verabschieden und sich deren radikaler Infragestellung zuzuwenden.
Wenn sich die Kirchen als Element des Ausgleichs verstehen, kristallisiert sich als ihre Aufgabe im gesellschaftlich-politischen Diskurs heraus, geistlich fundierte Leitbilder für einen konstruktiven Dialog über die divergierenden Perspektiven anzubieten, diesen zu initiieren und moderierend zu begleiten sowie darin klare Grenzen gegenüber demokratiefeindlicher Agitation öffentlich zu verteidigen.
Wären die Kirchen nicht Anwälte des Dialogs, sondern Sprachrohre bestimmter Anspruchshaltungen, würden sie in die Falle des „Entweder-oder“ zwischen gegenwartsorientiertem Bewahren und zukunftsorientierter Erneuerung tappen – und damit, wie die Volksparteien, innerhalb der jeweiligen Milieus ihrer Mitglieder Unverständnis und Auswanderungstendenzen erzeugen.
Maßgebliche Erfolgsfaktoren für den notwendigen Dialog sind, dass – alternativ zu vermeintlichen „Alternativen“ – die etablierten Parteien und ihre Mandatsträger als Partner in der gemeinsamen Suche nach wirksamer Berücksichtigung konträrer Perspektiven verstanden werden und dass mit großer, auch finanzieller Anstrengung die Möglichkeiten digitaler Kommunikation fruchtbar gemacht werden für eine Stärkung der personalen Kommunikation zivilgesellschaftlicher Kräfte mit demokratisch legitimierten Entscheidern.
Dies alles vor Augen, wollen die Gedanken zu „Konflikt und Konsens“ Populismus und Indifferenz die Demokratie als Lebensform entgegensetzen. Das Ziel politischen Handelns wird vom Evangelium und dem aus ihm abgeleiteten Menschenbild bestimmt, ohne die Notwendigkeit des Gesetzes aus dem Auge zu verlieren. Demokratien leben von der keineswegs selbstverständlichen Voraussetzung, dass entgegen dem Augenschein allen Menschen gleiche Rechte zukommen.
Die Botschaft von der Versöhnung muss zum Ziel haben, die Partizipationsmöglichkeiten an der Demokratie immer weiter auszudehnen. Zugleich ist klar: Das Evangelium gibt für Christenmenschen die Zielrichtung vor – aber in einer noch nicht erlösten Wirklichkeit gibt es in politischen Fragen nur vorläufige Antworten. Vernunft, Pragmatismus und Sachverstand helfen, nach den besten Lösungen zu suchen. So viel Realismus muss sein.
Das Ergebnis der vergangenen Bundestagswahl zeigt: Die beiden großen Volksparteien, deren Programme sich wenig unterscheiden, sprechen mehr als die Hälfte der Wählenden an. Aber die Ränder, zumal die populistischen, wachsen. Deren Positionen, wenn sie extremistisch und rassistisch sind, verlangen nach Kritik. Ihnen kraftvoll zu begegnen, könnte zu Mehr-Parteien-Koalitionen führen und damit zu tragfähigen gesellschaftlichen Kompromissen.
Auswanderungstendenzen in Politik und Kirche
Analog dazu sollten sich auch die Kirchen fragen, ob das durch sie vertretene Meinungsspektrum inzwischen nicht viel zu wenig Menschen anspricht. In Politik und Kirche gibt es Auswanderungstendenzen – weil man sich nicht mehr gemeint fühlt, nicht mehr vorzukommen scheint in dem, was gesagt und getan wird. In der Politik wird der Widerstand gegen die etablierten Parteien größer, die Kirche verlässt man desinteressiert.
„Konflikt und Konsens“ engagiert sich dafür, wieder mit mehr Menschen ins Gespräch zu kommen, sie dazu zu bewegen, ihre Sicht der Dinge einzubringen. Weder Demokratie noch Kirche selbst dürfen zu Eliteveranstaltungen verkommen, von denen sich eine wachsende Zahl von Menschen ausgeschlossen fühlt – die dann nach Alternativen suchen. Für eine menschenwürdige Gesellschaft ist es notwendig, dass ihre Mitglieder sich als sie selbst äußern und beteiligen dürfen.
Es geht darum, anzuerkennen, dass in politischen Fragen Christenmenschen zu gegensätzlichen Einschätzungen kommen können, über die man sich politisch auseinandersetzen muss. Das stört die geliebte Harmonie nicht, sondern befördert sie letztlich – und damit eine lebendige Demokratie. Der Konflikt ist kein trauriges Desaster, sondern der Normalfall. Diese Einsicht hilft, mit Realitäten umzugehen und Menschen zu Wort kommen zu lassen. Auch die, die aus anderen Ländern zu uns kommen.
„Konflikt und Konsens“ plädiert dafür, die Frage der Zugehörigkeit menschenwürdig in demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahren zu regeln – also nicht über ethnische Exklusivität, jedoch auch nicht durch einen Universalismus. Es braucht einen politischen Ausgleich zwischen dem generellen Anspruch der Menschenrechte und deren Anwendung in Staaten, die alle auch eigene nationale Interessen haben.
Mumm in den Knochen
Demokratie braucht Beteiligung aller. Den Parteien kommt hier eine wichtige repräsentative Aufgabe zu. Das Erstarken der Populisten könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich eine Vielzahl von Menschen nicht mehr vertreten fühlt – gerade nicht durch die „Volks“-Parteien. Die Auseinandersetzung mit den neuen Gruppierungen muss gesucht werden – wobei es Grenzen gibt. Gewalt, Extremismus, Antisemitismus und Rassismus sind keine diskutablen Positionen.
Umgekehrt ist es wenig demokratisch, wenn andere Meinungen wegen mangelnder Übereinstimmung mit der eigenen Position vorschnell aus dem Diskurs ausgeschlossen werden, wenn Tatsachen der Moral geopfert und Menschen unsachlich angegriffen werden. Die Kirchen sind mitverantwortlich für die politische Kultur des Landes und sollten die politische Dimension der Botschaft von der Versöhnung neu thematisieren.
Andere Positionen als die eigenen dürfen nicht einfach moralisch ausgeschlossen oder als orientierungsbedürftig disqualifiziert werden. Chance der Kirche ist es, darauf hinzuweisen, dass jeder Mensch ein gleichberechtigtes Kind Gottes ist, und daraufhin nach dem Gemeinsamen in der Gesellschaft zu suchen – bei allen notwendigen politischen Auseinandersetzungen.
Es braucht Geisteskraft und Schwung für diese Zeit. Es braucht aufrechte Christenmenschen, die sich nicht fürchten, sondern den Mumm in den Knochen haben, sich energisch christlich und eben auch dezidiert demokratisch zu verhalten. Ohne kirchlich-christliche Besserwisserei selbstbewusst auf dem Boden des Evangeliums stehend.
Der Beitrag basiert auf dem Vortrag der Autorin vom 2. März 2019 im Rahmen des 55. Politikwissenschaftlertreffens „Deidesheimer Kreis“ der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tutzing.
Susanne Breit-Keßler, geboren 1954 in Heidenheim an der Brenz, studierte evang. Theologie und ist ordinierte Pfarrerin seit 1984. Seit 1988 Rundfunkpredigerin und Autorin für den Bayerischen Rundfunk, seit 2001 Oberkirchenrätin und Regionalbischöfin für München und Oberbayern, seit 2003 Ständige Vertreterin des Landesbischofs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.
Literatur
Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung. Zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland, Hannover 2017, www.ekd.de/publikationen.