Die übergroße Mehrheit demokratischer Staaten entstammt dem westlichen, lateinchristlich geprägten Erfahrungsraum. Von den 88 Ländern, die „Freedom House“ an der Schwelle zum 21. Jahrhunderts als „frei“ einstufte, waren allein 79 mehrheitlich christlich geprägt.
Aus diesem empirischen Befund wird in den letzten Jahren oft gefolgert, das Schicksal des demokratischen Verfassungsstaates sei auf Gedeih und Verderb mit dem Christentum verknüpft. So werden mitunter verschiedene Leitvorstellungen, Sinngehalte, Bewusstseinsdispositionen und institutionelle Elemente der christlichen Religion und Tradition als Erbgut und Funktionsvoraussetzungen des demokratischen Verfassungsstaates thematisiert. Genannt seien an dieser Stelle etwa die Volkssouveränität und die Gewaltenteilung, die Gleichheit der Menschen und die Menschenwürde als Ausdruck der Gottesebenbildlichkeit, das Gebot der christlichen Nächstenliebe als Quelle von Solidaritäts- und Gerechtigkeitsvorstellungen und die Rechenschaftspflichtigkeit politischer Herrschaft aus Verantwortung vor Gott, das Amtsethos und die Rechtstraditionen des Repräsentations- und Mehrheitsprinzips, der Körperschaftsund Anstaltsbegriff und die Vorstellung einer befristeten (Lebens-)Zeit, die Scheidung von geistlicher und weltlicher Gewalt und der Siegeszug der Vernunft und Wissenschaft aus religiösen Motiven, vor allem aus der rationalen Theologie des Christentums. Zuweilen wird sogar durch eine unmittelbare Lesart biblischer Erzählungen mehr oder weniger die normative Substanz der modernen Demokratie aus dem Sinngehalt des Alten und des Neuen Testaments abgleitet.
Gegen eine solche Betrachtungs- und Sichtweise spricht jedoch der Umstand, dass das „Sinnpotenzial“ der christlichen Religion (wie auch anderer Religionen), das in den heiligen Texten zur Wachrufung brachliegt, keineswegs frei ist von inneren Spannungen und Widersprüchen, geschweige denn auf irgendeine religionspolitische Wahrheit gemünzt ist. Der demokratische Verfassungsstaat kann nur durch eine ausgesprochen selektive Lesart der religiösen Quellen und idealisierende Vergegenwärtigung der historischen Praxis als die religionspolitische Kernwahrheit der christlichen Tradition geborgen und ausgewiesen werden, an der gemessen sich dann die zweitausendjährige Wirkungsgeschichte als eine Abfolge von bedauernswerten Abweichungen und Irrungen darstellt. Deshalb führt an einer differenzierten Betrachtung kein Weg vorbei, die sensibel ist gegenüber den historischen Kontexten, Machtkonstellationen und konfessionellen Unterschieden.
„Nur retardierend und domestizierend“
Zunächst sollte die unterschiedliche Haltung des Katholizismus und des Protestantismus zu Demokratisierung benannt werden. Bereits Montesquieu war in seinem Hauptwerk Vom Geist der Gesetze von 1748 der Auffassung, die protestantische Religion entspreche mehr einer Republik und die katholische mehr einer Monarchie. Als Kenner der Materie konstatiert Hans Maier im Jahr 1963 am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils, zwar habe die Kirche auf den demokratischen Verfassungsstaat keineswegs „nur retardierend und domestizierend eingewirkt“. Denn: „Indem die Kirche ihr Recht (und zugleich das der vordemokratischen Körperschaften) gegenüber einer schrankenlosen Volkssouveränität verteidigte; indem sie die Freiheit nicht abstrakt, sondern innerhalb des Gefüges menschlicher Sozialverhältnisse und in Wechselbeziehung zu mitmenschlichen Bindungen sehen lernte, indem sie die Utopien der Herrschaftslosigkeit und einer in freier Interessenkonkurrenz automatisch sich ergebenden sozialen Harmonie aus der Tiefe ihrer geschichtlichen Erfahrung und ihres Wissens von der gestörten Natur des Menschen widersprach, hat sie auch dazu beigetragen, die Demokratie ihres utopischen Charakters zu entkleiden und sie zu einer vernünftigen, praktikablen Staatsform zu machen.“ Gleichwohl zeige die Geschichte doch, dass die katholische Kirche zum „innersten Bildungsgesetz der Demokratie“, nämlich zur neuzeitlichen Emanzipation des Subjekts, nicht die gleiche innere Beziehung habe wie der Protestantismus, der diese Staatsform in der Neuzeit geschichtlich emporgetragen habe.
Aber auch die protestantische Konfessionsfamilie mit ihrer schier unüberschaubaren Vielfalt hat unterschiedliche politische Implikationen gehabt – von radikal-demokratischen bis hin zu radikal anti-demokratischen. In gewisser Weise wurde die Spannbreite möglicher protestantischer Antworten auf „Anfragen“ der hiesigen Welt bereits im epochemachenden Werk Martin Luthers sichtbar, der zunächst den Papst dafür kritisierte, sich mit dem Ablasshandel zu sehr auf das Geschäft der Welt eingelassen und darüber Gottes Erlösungsbotschaft verstümmelt zu haben, sodann Gewissensfreiheit und das allgemeine Priestertum aller Gläubigen predigte, gleichzeitig aber mit seiner Zwei-Reiche-Lehre der Obrigkeit theologisch höhere Weihen verlieh und die Untertanen unbedingt zum Gehorsam anhielt, den von Thomas Müntzer geführten Widerstand der Bauern verteufelte oder gar die Ausweisung und Vernichtung der Juden verlangte.
Antimoderne Traditionen des Luthertums
Diese Spannungen haben sich später in den theologischen und historischen Unterschieden zwischen dem Luthertum und dem Calvinismus manifestiert. Max Weber und Ernst Troeltsch haben einst in ihren klassischen Studien die These von der antimodernen Tradition des Luthertums im Unterschied zum Calvinismus oder Puritanismus stark gemacht. Inzwischen ist sie von der Forschung ein Stück weit relativiert worden; Luther’sche Theologen und Juristen haben nicht nur Obrigkeitsgehorsam und Staatsfrömmigkeit gepredigt, sondern auch Theorien der libertas conscientiae und autonomia formuliert, mit denen sie modernem Menschenrechtsdenken den Weg bereiteten.
Eine vergleichende Betrachtung der politischen Implikationen des Luthertums in den USA und in Deutschland zeigt jedenfalls, dass das Luthertum nicht als solches „demokratieunfähig“ war, sondern jeweils so demokratisch wie seine gesellschaftliche und politische Umwelt. Denn während die amerikanischen Lutheraner die liberale Demokratie mitsamt der Trennung von Staat und Kirche theologisch völlig unhistorisch als „Heilsereignisse“ rechtfertigten, die Luther selbst gebilligt hätte, wenn er amerikanische Bedingungen hätte kennenlernen können, hielten die deutschen Lutheraner übereinstimmend an den bestehenden Landeskirchen fest und stemmten sich gegen eine demokratische Einbeziehung der „Volksmassen“ in den politischen Prozess. Es zeigt sich hier abermals, wie stark sich politische Rahmenbedingungen und Machtverhältnisse bei der Aneignung religiöser Traditionen niederschlagen.
Ein historisch unmittelbarer Entstehungszusammenhang kann nicht einmal zwischen der modernen Demokratie und dem Calvinismus beziehungsweise Puritanismus angenommen werden, obgleich dieser etwa im Gegensatz zum Katholizismus oder auch zum Luthertum für seine demokratischen Implikationen bekannt ist. Bereits Alexis de Tocqueville erblickte im Puritanertum die entscheidende Quelle der Demokratie in Nordamerika, obwohl ihm die Schattenseiten der puritanischen Bibelregimes in den neuenglischen Kolonien nicht entgangen waren. Auch Ernst Troeltsch bescheinigte in seinem bekannten Vortrag aus dem Jahr 1906 über die „Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ der freikirchlichen Gestalt des Calvinismus in der Neuen Welt einen „hervorragenden Anteil an der Herbeiführung der Disposition für den demokratischen Geist“. Gleichzeitig betonte er aber, die Demokratisierung dürfe „nicht einseitig und nicht direkt“ auf den Calvinismus zurückgeführt werden. Denn dieser habe sich auch in den neuenglischen Staaten zur „strengsten Theokratie“ entwickelt, in der die Wählbarkeit an die Kirchenzugehörigkeit gebunden wurde und die gewählten Herrscher ein strenges religiös-ethisches Erziehungsregime errichteten. Daher müsse man im Grunde konzedieren, dass der „reine naturrechtliche, von religiösen Rücksichten befreite Rationalismus“ der Aufklärung für die Entwicklung von größerer Bedeutung gewesen sei als der Calvinismus.
Baptisten und Quäker
Tatsächlich waren Demokratie und Religionsfreiheit dem Puritanismus nicht in die Wiege gelegt. Am Anfang stand das strenge Bibelregime von Massachusetts Bay. Das von Auserwählten im Bunde mit Gott nach dem alttestamentarischen Vorbild gegründete Gemeinwesen verfügte über starke theokratische Züge. Auch in der Kolonie Connecticut, die sich von Anfang an eine politische Ordnung demokratischen Zuschnitts gegeben hatte, herrschte die kongregationalistische Denomination als die einzig wahre und heilbringende.
Tocqueville kommt in seiner Demokratiestudie kritisch darauf zu sprechen: Man sei dort „auf den seltsamen Gedanken“ gekommen, das Zusammenleben unmittelbar auf der Grundlage biblischer Anweisungen zu regeln; die Gesetze würden aus der Heiligen Schrift geschöpft, zwölf Bestimmungen des Strafgesetzes seien sogar wörtlich dem Deuteronomium, dem Exodus und dem Leviticus entnommen. Zudem zwinge der Gesetzgeber in völliger Missachtung der Glaubensfreiheit, die er in Europa gefordert hätte, durch Androhung von Bußen zum Besuch des Gottesdienstes und gehe dabei so weit, diejenigen, die Gott in anderer Form als sie anbeten wollten, streng und sogar mit dem Tode zu bestrafen.
Erst die sekundären Gründungen der Baptisten in Rhode Island und der Quäker in Pennsylvania haben aus der doppelten religiösen Verfolgungsgeschichte die Lehre der Demokratie und der Gewissensfreiheit gezogen. Auch die Trennung von Staat und Kirche war ursprünglich eine Forderung der dissidenten protestantischen Sekten, der sich später die Katholiken, Juden und andere angeschlossen haben; sie wurde vor allem mit der in der Bibel angelegten Unterscheidung und Denkfigur von zwei Reichen begründet. Insofern kann dem religionspolitischen Differenzierungspotenzial des Christentums nicht von vornherein jegliche historische Wirkmächtigkeit abgesprochen werden. Dass aber von dem religiösen Sinnpotenzial kein geradliniger Weg in die Geschichte führt, weil es nicht auf eine politische Wahrheit zugeschnitten ist, sondern in sich mehrere, teils einander widersprechende Stimmen und Tendenzen enthält, denen erst in der Berührung mit den Herausforderungen einer bestimmten Zeit und Gesellschaft Leben eingehaucht wurde, zeigt wiederum das Beispiel Frankreichs und Deutschlands.
Französische Revolution und katholische Kirche
Blickt man auf die Entwicklung in Frankreich von der Revolution bis zum Trennungsgesetz von 1905, so wird deutlich, dass der demokratische Verfassungsstaat und die damit einhergehende Trennung von Staat und Kirche in einer polemischen Frontstellung gegen die katholische Kirche (und mit der Unterstützung der protestantischen und jüdischen Gemeinde) durchgesetzt worden ist. Der Konflikt zwischen der Französischen Revolution und der katholischen Kirche hatte sich an den kirchenfeindlichen Maßnahmen der Nationalversammlung entzündet, jedoch rasch eine Wendung ins Prinzipielle genommen.
Bereits die erste päpstliche Stellungnahme zur Französischen Revolution, das Breve „Quod aliquantum“ vom 10. März 1791, erteilte den revolutionären Grundsätzen eine harsche Absage. Papst Pius VII. verteidigte darin – in Übereinstimmung mit einer jahrhundertealten Tradition – das Gottesgnadentum der absoluten Monarchie und verurteilte die Behauptung einer angeborenen Freiheit und Gleichheit des Menschen als sinnlos, da sie weder mit der Vernunft noch mit der Offenbarung zu vereinbaren sei. Für die katholische Kirche wurde denn auch der historische Weg „vom Gottesrecht zum Menschenrecht“ sehr lang und beschwerlich. Sie hat sich nach dem blutigen Bruch mit der Französischen Revolution einem politischen Gegenprogramm verschrieben; Demokratie, Menschenrechte und Trennung von Staat und Kirche wurden relativ pauschal verworfen.
Schmerzhafte Lernprozesse
Die katholische Kirche hat denn auch erst nach schmerzhaften Erfahrungen der politischen Verfolgung das demokratische Angebot der Freiheit als eine Chance für die Wahrheit wertzuschätzen gelernt; sie hat die Religionsfreiheit nach langem internen Ringen erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965) anerkannt, bezeichnenderweise in einem zähen theologischen Relexionsprozess, in dem die amerikanischen Bischöfe eine herausragende Rolle gespielt haben.
Auch die evangelische Kirche hat sich in Deutschland erst nach der nationalsozialistischen Katastrophe mit der Demokratie und der ausgesprochen kooperativen Trennung von Staat und Kirche anfreunden können. Sie räumt in der Demokratiedenkschrift von 1985 ein, dass der deutsche Protestantismus nicht unerheblich in den Nationalsozialismus verstrickt war. Der „befreiende Unterschied“ zwischen dem geistlichen Auftrag der Kirche und dem weltlichen Auftrag des Staates sei „die bleibende Voraussetzung für die Bereitschaft zur Demokratie“. Politik gehöre dem Bereich des „Vorletzten“ an, Religion hingegen betreffe „letzte Dinge“.
Wie „befreiend“ dieser Unterschied tatsächlich sein konnte, zeigte sich wenige Jahre später, als die protestantische Kirche in der DDR den Widerstand vieler Bürger inspirierte und damit zur friedlichen Revolution beitrug. Die Religion ist eben keine Wesenheit, die ihre Wahrheiten im Himmelreich mit einer Zunge und einer Stimme verkündet; sie ist zutiefst verwickelt in die Welt des Menschen und deren Niederungen. In der Begegnung mit einer bestimmten Zeit und ihren konkreten Herausforderungen gelangen immer nur bestimmte Aspekte des von Haus aus vielstimmigen Sinnpotenzials zu historischer Wirksamkeit. Es hängt weitgehend von den kontingenten Umständen, Machtkonstellationen und Lernprozessen ab, welche Positionen und Tendenzen sich innerhalb der Religionen durchsetzen. Dies gilt heute auch für den Islam, der im Fadenkreuz internationaler Konflikte eine massive Politisierung erfahren hat, die mit der Entfesselung von Gewalt einhergeht. Vielleicht kann uns aber das Wissen darum, wie langwierig und schwierig, verlustreich und schmerzvoll die religionsdemokratischen Lernprozesse in Europa waren, vor pauschalen Zuschreibungen und gefährlichen Frontstellungen im Umgang mit dem Islam bewahren.
-----
Ahmet Cavuldak, geboren 1976 in Pazarcık (Türkei), Politikwissenschaftler und Philosoph, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Humboldt-Universität zu Berlin, Promotion zum Thema „Gemeinwohl und Seelenheil. Die Legitimität der Trennung von Religion und Politik in der Demokratie“.