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Michael Kleeberg erhält den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2016

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Martin Heidegger – ein Salonlöwe? Richard Wagner schreibt eine Arbeiter-Oper? Aristide Briand und Gustav Stresemann diskutieren mit T. S. Eliot und den Brüdern Mann, und das alles im friedlichen Berlin der 1930er-Jahre – geht’s noch?, so haben Rezensenten gefragt. Ja, im Roman schon! Zumal, wenn der Autor ein so findiger Kopf wie Michael Kleeberg ist. Getreu dem Diktum Golo Manns, dass die Geschichte Erzählung sei, bürstet er deutsche Geschichte gegen den Strich. Ein Garten im Norden (1998) entwirft ein kontrafaktisches Bild vom 20. Jahrhundert und fragt nach den Voraussetzungen, unter denen es womöglich hätte besser sein können, als es in der traurigen Wirklichkeit war. Das ist keine Geschichtsspekulation, sondern einer der „ernsten Scherze“ (Johann Wolfgang von Goethe), die sich die Erinnerungsliteratur leistet. Kleebergs Romane schlagen Profit aus der Freiheit des Denkens und der Imaginationskraft des künstlerischen Gedächtnisses.

Natürlich ist der am 24. August 1959 in Stuttgart geborene Autor, der von 1978 bis 1982 Politische Wissenschaften und Neuere Geschichte an der Universität Hamburg und Visuelle Kommunikation an der Hamburger Hochschule der Bildenden Künste studiert hat, klug genug, um die Gewichte zwischen Fakten und Fiktion so zu verteilen, dass seine Bücher auf ganz verschiedene Weise gelesen werden können. Die einen schätzen sie als Gründerzeitromane der Berliner Republik, als feindiagnostische Gesellschafts- und Zeitromane. Andere würdigen das epische Geschick, mit dem der Autor „in der Erinnerung Vergangenheit in Bewegung setzt, sie im Gedächtnis derer, die sich auf Erinnerung einlassen, befestigt und so zu einem Teil unserer gesellschaftlichen Identität macht“ (Wolfgang Frühwald).

Die Spannung zwischen Gegenwart und Geschichte ist die Quelle, der Kleebergs Erzählen entspringt. Der erste Prosaband, Böblinger Brezeln (1984), steht unter dem Einfluss der Kurzgeschichten Hemingways. Die Erzählung Der saubere Tod (1987), eine kuriose Coming of age-Geschichte aus den 1980er-Jahren, spielt im Kreuzberger Jugendmilieu. Ein junger Mann kommt nach Berlin. Er will „binnen eines Jahres Geld, eine große Altbauwohnung und einen Sportwagen“ besitzen. Am Ende wird ihm der Prozess gemacht, auf Rauschgifthandel und Mord lautet die Anklage.

 

Westliche „Identitätsmüdigkeit“

Es geht um die „Identitätsmüdigkeit“ des westlichen Menschen und um die „Selbstverständlichkeiten von durchschnittlichem Leben“, wie der Autor erklärt. Diesen Blick weitet Michael Kleeberg in dem Entwicklungsroman Proteus, der Pilger (1993) und seinem Band Der Kommunist vom Montmartre (1997) auf die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es ist eine liebevolle, aber skeptische Perspektive auf die Dinge, die gelassen ist und souverän. Der Erzähler entscheidet sich „für den Überblick und gegen das Eintauchen“.

Der Garten im Norden markierte den Durchbruch im Werk. Dabei ist der Roman weit mehr als eine „staatsbürgerliche Wegweisung“ für die Berliner Republik, wie es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hieß. Der Roman enthält eine „historische Tiefendimension“ (Erhard Schütz). Sie besteht, angelehnt an Thomas Manns Faustus-Roman, in dem Versuch, dem „Verhängnis“ der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert ein Alternativmodell entgegenzustellen, in dem die mitteleuropäische Geschichte auch einmal – ohne Krieg – gut gehen kann. Mit dieser Lizenz zum Erfinden einer „anderen“ als der historischen Erinnerung lässt Kleeberg eben Martin Heidegger nicht als kurzzeitigen Nazi-Ideologen auftreten, sondern als tangotanzenden Populärphilosophen.

Mit seinen Romanen Karlmann (2007) und Vaterjahre (2014) beschreibt Michael Kleeberg das unscheinbare Glück des deutschen Mittelstands und den epikureischen Trost der Dinge. Charly Renn, genannt Karlmann, ist ein Mann inmitten einer zweiten Ehe und eines neuen Berufs, der es gewohnt ist, zu handeln, ohne die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er agiert, infrage zu stellen. Das übernimmt der Erzähler – und mit ihm der Autor, der ein augenzwinkerndes Interview mit seiner eigenen Figur geführt hat (anzuschauen auf YouTube) und bekennt, dass er an Männern am meisten „Selbstironie“, an Frauen die „Ausstrahlung“ schätze:

„Als Zwanzigjähriger […] will man die Welt retten und die schöne Blondine aus dem Nachbarhaus besitzen. Als Vierzigjähriger lässt man die Welt Welt sein und hat die Blondine geheiratet. Wer das nicht geschafft hat, sagt seiner dunkelhaarigen Frau, sie solle sich die Haare färben lassen.“

So lässt Kleeberg seinen „Karlmann“ zum nichtintellektuellen Lebenskünstler reifen, zu einem Helden des Einverständnisses, der die Windungen und Wendungen der deutschen Gesellschaft in den 1980er- und 1990er-Jahren zwar nicht versteht, aber durch und durch erfährt.

 

Zerreißprobe der Wohlstandsgesellschaft

Ein dritter Teil, der diesen Durchschnittsbürger ohne metaphysische Neigungen ins neue Jahrhundert geleitet, soll das epische Projekt abschließen. In der Zwischenzeit bereitet Kleeberg seine Frankfurter Poetik-Vorlesungen vor – und hat er den Roman Das amerikanische Hospital geschrieben. Erzählt wird die Begegnung des von Panikattacken gequälten Irakkriegsveteranen David Cote mit der Französin Hélène, die unter ihrem unerfüllten Kinderwunsch leidet. Die Konstellation zerrissener Lebensgeschichten ist zugleich eine Zerreißprobe der westlichen Wohlstandsgesellschaft. Es ist kein Zufall, dass der Autor sein Paar 2005 durch Paris streifen lässt. Die von Streiks und Chaos erschütterte Stadt wird zum Spiegelbild einer Gesellschaft, die durch die Beschleunigung des Fortschritts aus der Bahn geworfen wird: „Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Ghettoisierung, Rückbau des Sozialsystems, Rückzug des Staates, zerfallende Familien, Schulversagen, Unbildung, Kriminalisierung, Selbsthaß“ – der Autor lässt kaum eines der zeitbewegenden Themen aus.

Paris steht auch im Brennpunkt der jüngsten Essays von Michael Kleeberg. Der Autor hat sich als „Mutbürger“ ohne Aktualitätszwang über seine Zeit gebeugt und in ihre Abgründe geblickt. So verglich er im Februar 2015, nach dem Attentat auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo, die Geschichte der jüdischen und der islamischen Minderheit in der französischen Gesellschaft. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berichtete er im Mai 2015 über das kafkaeske Gleichgewicht von Repression und Fortschritt im Iran. Im Libanesische[n] Tagebuch (2004) beschreibt sich der Autor als politischer Erzähler seiner Zeit, „skeptisch, ironisch, der Freiheit mehr verpflichtet als der Gleichheit“.

Am 5. Juni 2016 wurde Michael Kleeberg, dessen Werke ins Albanische, Arabische, Dänische, Englische, Französische, Griechische, Japanische und Spanische übersetzt sind, in Weimar der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2016 verliehen. Ausgezeichnet wurde er, so die Begründung von Jury und Stiftung, als „Citoyen in der Tradition der deutsch-französischen Verständigung und als europäischer, politisch wachsamer Denker der Freiheit“.

 

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter des Referates Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung Sankt Augustin und außerplanmäßiger Professor für Neuere deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.

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