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Die Sozialfigur des Arztes in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen

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The good doctor heißt eine populäre US-amerikanische Serie um einen jungen autistischen Arzt. Die Art und Weise, wie die Serie (Erstausstrahlung 2017; südkoreanisches Original 2013) Themen wie Krankheit, Identität, Vulnerabilität, Vorurteile mit der Frage verbindet, was es (heute) bedeutet, ein guter Arzt beziehungsweise eine gute Ärztin zu sein, erzählt viel über die Sozialfigur des Arztes in unserer Gegenwart.

Sozialfiguren kann man ganz allgemein als narratives Kernpersonal jeweiliger gesellschaftlicher Konstellationen verstehen, also als historisch-räumlich spezifische Indikatorfiguren, die uns, über sie selbst hinausweisend, ein besseres Verständnis unserer Gegenwart geben. Die Gegenwärtigkeit liegt dabei nicht allein in der Tätigkeit oder Funktionsbestimmung, für die die Sozialfigur steht, sondern wesentlich in so etwas wie dem normativen Überschusssinn, der im Konzept der Sozialfigur mittransportiert wird. Üblicherweise kommen daher die klassischen Professionen wie Lehrer, Richterinnen, Politiker, Pfarrerinnen und nicht zuletzt Ärzte kaum vor. Sie scheinen – verglichen mit „Diven, Hackern, Spekulanten“ (Moebius/Schroer 2010) – zu wenig über die Gegenwartsgesellschaft oder eine ganz spezifische historische Gesellschaftsformation auszusagen. Ärzte waren in unserer Vorstellung schließlich immer schon da, und zugleich können wir sie und, bei aller Kritik, auch die Leistungen, die sie erbringen, kaum wegdenken. Exakt dieses Charakteristikum, das Kaum-wegdenken-Können, macht den Arzt jedoch als Sozialfigur so interessant.

Die ärztliche Sozialfigur ist deshalb als Sozialfigur üblicherweise unsichtbar, weil sie nicht gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten, Ideale oder Dystopien bestimmter Dekaden verkörpert, sondern weil sie dies in fortwährendem Austausch mit der sich verändernden Moderne tut.

 

Omnipräsent, historisch flexibel

 

Das Wesentliche dieser Sozialfigur liegt – und darin unterscheidet sie sich fundamental von anderen, häufiger diskutierten Sozialfiguren – in ihrer gleichzeitigen Persistenz und Wandelbarkeit. Auf den Pfaden dieser Sozialfigur kann man gewissermaßen den normativen Basiserwartungen der Gesellschaft folgen.

Es ist wohl kaum bei einer anderen Sozialfigur leichter, an den unterschiedlichsten sozialen Orten von ihr hinterlassene Spuren zu finden: Ärztinnen sind Sujet verschiedenster literarischer Verhandlungen, in Film oder Serie, der bildenden Kunst oder Gegenstand kulturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit der modernen Gesellschaft, sie schreiben sich selbst in die (Welt-)Literatur ein, wenden sich mit Ratgebern oder (gesundheits-)politischen Einlassungen an ein breites interessiertes Publikum und begegnen jedem von uns auf unterschiedlichste Weise im Alltag.

Diese Omnipräsenz ist keineswegs so selbstverständlich, wie es scheint. Medizinhistorisch besteht Einigkeit, dass die Monopolstellung der Ärzteschaft in der modernen Medizin keineswegs auf realen Erfolgen in der Patientenversorgung zurückzuführen ist, sondern intensive politische Interventionen die Privilegierung der Ärzte gegenüber anderen Heilberufen maßgeblich befördert haben. Über die Effekte auf Lebenserwartung und Patientenversorgung in der Frühphase moderner Medizin gibt es ebenfalls kaum Illusionen (vgl. Göckenjan 1985).

Erklären lässt sich die Etablierung und Persistenz hingegen über den – außermedizinischen – Mehrwert der Sozialfigur. Von Beginn an wurde der Arzt nicht nur als Experte eines Fachs verstanden, sondern darüber hinaus als Garant gesellschaftlicher Stabilität. Fest mit einem Bein in den ständisch-religiösen Selbstverständlichkeiten der Vormoderne und zugleich mit dem anderen den wissenschaftlich-rationalen Aufbruch in die Moderne vollziehend, stellt die frühe ärztliche Sozialfigur einen zentralen Transformationsagenten dieser historischen Zeitenwende dar (vgl. Stichweh 1996). Die Integrations- und Stabilisierungsdimension der Sozialfigur lässt sich nicht nur in alltagsweltlichen Dokumenten und ärztlichen Selbstzeugnissen finden, sondern zieht sich durch die sozialwissenschaftlichen Klassiker bis hin in den Mainstream der Nachkriegssoziologie. Von Karl Marx bis Talcott Parsons findet sich das Motiv der gesellschaftsintegrativen, nicht nur medizinischen Bedeutung von Ärzten (vgl. Atzeni 2016).

 

Promotion des Patienten

 

Diese fraglos zugeschriebene Bedeutung jenseits des unmittelbaren Bereichs medizinischer Expertise ist ab den späten 1960er-Jahren der Kernpunkt medizin- und professionskritischer Auseinandersetzungen. Es ist hier gerade der Bezug auf das Nicht-Medizinische in der Legitimation der Sozialfigur, das ebenso von der sozialwissenschaftlichen wie der zivilgesellschaftlichen Kritik aufs Korn genommen wird. Dass eine Berufsgruppe Kompetenz und Einfluss jenseits ihres eng umgrenzten funktionalen Expertisebereichs beansprucht und ihr beides auch gewährt wird, stößt in einer autoritätenkritischen Umgebung auf erbitterten Widerspruch. Man kann nun sagen, dass diese Kritik eine andere Sozialfigur erst hervorgebracht hat: die des Patienten und der Patientin. Die Kritik, die unter anderem von patientenrechtlichen Bewegungen getragen wurde, etablierte die Figur des Patienten zuallererst als relevant für medizinische Fragestellungen, sodann trat diese Figur einen bis heute anhaltenden Siegeszug an, der zwar die des Arztes nicht verdrängte, aber wesentlich veränderte.

Man kann in Selbst- wie Fremdzeugnissen, in Romanen wie Serien, in medizin-ethischen und -rechtlichen Debatten zeigen, wie die Relevanz dieser neuen Sozialfigur die ältere Schritt für Schritt umgestaltete. Die Patienten und ihr autonomer Wille wurden mindestens ebenso wesentlich für die vielfältigen Darstellungen des Ärztlichen wie das Medizinische. Das heißt übrigens nicht, dass die Medizin nun endlich menschlich geworden wäre oder dass Ärztinnen früher kein Interesse an ihren Patienten gehabt hätten. Es sagt auch nichts über das Verhalten einzelner Ärztinnen aus, zeigt jedoch, dass sich soziale Erwartungen daran, was ein Arzt sein oder nicht sein soll, gewandelt haben und – das ist das Entscheidende – offenbar nicht einfach eine Sozialfigur obsolet geworden ist. Die Promotion des Patienten zur Sozialfigur legitimiert die Sozialfigur des Arztes neu; zur fachlichen Expertise tritt nun die individuelle Verbundenheit mit dem autonomen Patienten. Nicht mehr der transzendente Bezug beziehungsweise die gesamtgesellschaftliche Stabilisierungsfunktion, sondern die Hinwendung zum individuellen Menschen prägt die soziale Idee vom Arzt. Auch hier zeigt sich wieder ein ähnliches Bild: ein sozialpolitischer Bruch, dieses Mal die Macht- und Institutionenkritik im Zuge der sogenannten 68er-Bewegung, wird über die flexible Sozialfigur des Arztes gewissermaßen geschient. Doch das ist wiederum nur eine sehr vorläufige Behandlung sich fortwährend verändernder sozialer Konstellationen (ausführlich hierzu Atzeni 2016).

Die eingangs angesprochene Streaming-Serie weist schon wieder auf eine neuerliche Veränderung der ärztlichen Sozialfigur hin, die sich seit etwa fünfzehn Jahren abzeichnet. Die Sozialfigur wird diverser, ärztliche Selbstwie Fremddarstellung thematisiert zunehmend Fehlbarkeit, Zweifel, Brüche, es sind nicht mehr vorwiegend weiße Männer bürgerlicher Herkunft, die als Ärzte sichtbar werden, sondern Frauen, People of Color, Menschen unterschiedlichster Herkunftsmilieus und, wie in The good doctor, ein junger Arzt mit Autismus. Die Sozialfigur des Arztes nähert sich in diesen Merkmalen immer mehr der des Patienten an.

 

Menschwerdung des Arztes

 

Was auf den ersten Blick aussieht wie ein maximaler Kontrast zur männlich-göttlichen Sozialfigur der Frühphase moderner Medizin, erweist sich auf den zweiten Blick als Kontinuität: Die Sozialfigur des Arztes – nun auch die der Ärztin! – hat die vielfältigen normativen Wandlungsprozesse der modernen Gesellschaft mitvollzogen. Mitvollzogen im Wortsinne, denn es ist nicht nur eine passive Anpassung an sozialen Wandel, sondern auch eine aktive Rolle, die der Sozialfigur hierbei zukommt. In der ärztlichen Sozialfigur, die am Beispiel der Serienfigur nun selbst unter anderem Betroffener ist und gerade dadurch erst in ihrer Professionalität erzählbar wird, werden gesellschaftliche Erwartungen nicht abgebildet, sondern ihrerseits geformt. Nicht so sehr die Gewissheit, ein guter Arzt zu sein, sondern die fortwährende Reflexivierung der Fragen „Was ist ein guter Arzt?“, „Bin ich eine gute Ärztin?“ kennzeichnet die zeitgemäße Form der Sozialfigur.

Die soziologische These zu dieser Beobachtung ist nun gerade nicht der Verlust jedweden Machtgefälles zwischen Professionellem und Laien, zwischen Ärztin und Patient. Die zeitgemäße Promotion der Sozialfigur Patient und die damit vielschichtig verknüpfte Menschwerdung des Arztes fundieren ärztliche Expertise, ärztlichen Einfluss auf eine andere Art, als dies die Figur des gottgleichen Chirurgen-Heros im Übergang zum 20. Jahrhundert vermochte. Sie aktualisiert die Legitimationsbasis der Sozialfigur. Zugespitzt: Was unter Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft der autoritär-überlegene Paternalist vermochte, vermag heute der „Mensch wie du und ich“. So, wie es unter zeitgenössischen Bedingungen wohl kaum mehr möglich ist, eine Biographie im Modus einer bruchlosen Erfolgsgeschichte zu erzählen, so lässt sich ärztliche Autorität, die es fraglos nach wie vor in unterschiedlichsten Formen gibt, kaum mehr aus einer grundsätzlich überlegenen Position heraus begründen.

Zwei kleine Beispiele mögen die konstante Funktionalität illustrieren, die mit den sich wandelnden Ausprägungen der Sozialfigur einhergehen. Das erste stammt aus einer standespolitischen Schrift von 1926, das zweite aus einem an Laien adressierten Ratgeberformat von 2013.

„Zum Arzt wird man geboren oder man ist es nie. Gütige Götter legen ihm Gaben in die Wiege, die nur geschenkt, niemals aber erworben werden können“ (Liek 1926, S. 105). Die Semantik der sozusagen von oben gestifteten, nicht erwerbbaren Gabe ist in ihrer Funktionalität für eine insgesamt noch stark an Autoritäten orientierte Gesellschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ähnlich einsichtig wie die der fundamentalen, eigenen Betroffenheit, die ein gewisses Maß an Gleichheit auch dort noch voraussetzen muss, wo es eindeutig um die Information von Laien durch Experten geht.

Das zweite Beispiel: Ein Ratgeber, 2013 erschienen, schildert ganz zu Beginn und in kleineren Passagen durch das Werk hindurch, dass der Autor nicht nur Onkologe ist, sondern selbst seine Frau durch Krebs verloren hat. Die professionelle Autorität des Buches resultiert gleichermaßen aus der Fachexpertise wie aus der individuellen Betroffenheit und Brüchigkeit, die sich darin manifestiert, „(d)ass Krebs auch den abgebrühten ‚Profis‘ zeigt, wie machtvoll diese Krankheit Perspektiven eröffnet oder erzwingt, die ärztliche Kunst und ärztliches Handeln weit übersteigen. Ein guter Arzt sollte wissen, wann er zu reden und wann er zu schweigen hat“ (Bleif 2013, S. 15).

„Reden“, aufklären, Bescheid wissen, handeln – das können Ärztinnen und Ärzte heute nach wie vor. Jedoch ist die Legitimationsbasis dieser Potenz eine andere. Ohne damit die fraglosen Brüche und Veränderungen in der Medizin und im Arztberuf kleinzureden, dürfen doch die Kontinuität und deren Basis, die flexible Sozialfigur, nicht vernachlässigt werden, will man den Realitäten gerecht werden.

 

Co-Evolution von Gesellschaft und Sozialfigur

 

Bei der Rede von der Sozialfigur geht es nie um einen Realtypus und auch nicht um einen Durchschnittswert, sondern um die Idee, die wir uns in einer bestimmten historischen Konstellation von einem als relevant erachteten Typus machen. Die Vorstellung, welche Typen wir für relevant halten, wandelt sich. Daher werden üblicherweise die „Sozialfiguren der Gegenwart“ (Moebius/Schroer 2010) oder das „Personal der Postmoderne“ (Frei/Mangold 2016) inventarisiert.

Im Fall der Sozialfigur Arzt wandelt sich der Typus – bislang jedenfalls – gemeinsam mit der Gesellschaft. Allerdings sagt der Blick zurück nichts über die weitere Entwicklung aus. Ob die Co-Evolution von Gesellschaft und Sozialfigur sich weiter in erstaunlicher Parallelität vollzieht, ist höchst unklar. Seit dem Übergang zur Moderne und bis heute stellt sie jedenfalls das Scharnier dar, das Gesellschaft und Medizin stets aufs Neue miteinander verbunden hat. Damit ist sie die Ressource, die die Zumutungen, die Medizin immer auch für Individuum und Gesamtgesellschaft bedeutet, legitimiert und die die Unwahrscheinlichkeit, sich individuell wie kollektiv trotz aller Risiken und Kosten immer wieder auf medizinische Behandlung einzulassen, in die Selbstverständlichkeit moderner Medizin transformiert.

 

Gina Atzeni, geboren 1979 in München, promovierte Soziologin, Akademische Rätin a. Z., Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, mit den Forschungsschwerpunkten Medizin- und Professionssoziologie.

 

Literatur

Atzeni, Gina: Professionelles Erwartungsmanagement. Zur soziologischen Bedeutung der Sozialfigur Arzt, Baden-Baden 2016.

Bleif, Martin: Krebs. Die unsterbliche Krankheit, Stuttgart 2013.

Frei, Alban / Mangold, Hannes (Hrsg.): Das Personal der Postmoderne. Inventur einer Epoche, Bielefeld 2016.

Göckenjan, Gerd: Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1985.

Liek, Erwin: Der Arzt und seine Sendung, München 1926.

Moebius, Stephan / Schroer, Markus (Hrsg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin 2010.

Stichweh, Rudolf: „Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft“, in: Combe, Arno / Helsper Werner (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt am Main 1996, S. 49–69.

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