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Der Kalte Krieg als Geschichte und Gegenwart?

Grundmuster der internationalen Beziehungen vor 1989/90 und heute

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Die Konflikte unter den großen Mächten verschärfen sich. Infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sich die Konfrontation Russlands mit der westlichen Staatenwelt zugespitzt; das gilt ebenso für das US-amerikanische Verhältnis zu China, das wegen Pekings Expansionspolitik im indopazifischen Raum und seiner zunehmend aggressiven Politik gegenüber Taiwan extrem angespannt ist. In beiden Fällen ist immer wieder von einem „neuen Kalten Krieg“ die Rede, in dem man sich entweder schon befinde oder dem die Welt „in bestürzendem Tempo […] entgegen rast“.1 Zunehmende Konfrontation gibt es in der Weltpolitik jedoch nicht erst seit einem Jahr; bereits 2016 wurden in einer Interviewreihe Experten und Expertinnen gefragt, ob man sich in einem „neuen Kalten Krieg“ befinde – eine Frage, die damals mehrheitlich verneint wurde.2 Nicht jede Konfrontation verdient die Charakterisierung „Kalter Krieg“, der überdies eine Epoche sui generis bezeichnet. Jedoch stellt sich die Frage, ob nicht bestimmte Grundmuster, die die internationalen Beziehungen vor 1989/90 bestimmt haben, in gewisser Weise wiederkehren. Oder sind die Unterschiede so gravierend, dass man diese Begrifflichkeit eher vermeiden sollte?

Zur Beantwortung dieser Fragen sind zunächst einige Bemerkungen zu den herausstechenden Merkmalen dieses epochalen Konflikts erforderlich. Der Kalte Krieg war geprägt vom ideologischen Gegensatz zwischen Demokratie und kommunistischer Diktatur sowie von Marktwirtschaft und sozialistischer Planwirtschaft. Beide Seiten waren davon überzeugt, sich für eine Ideologie und ein System einzusetzen, die sich am Ende durchsetzen würden; es ging um nichts weniger als einen Kampf um die „Seele der Menschheit“.3 Unauflöslich damit verbunden war ein machtpolitischer Konflikt zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion, die zur Durchsetzung ihrer Ziele zwei Bündnisse um sich scharten, die sich in ihrer inneren Struktur und im Verhältnis zu ihrer Vormacht allerdings stark unterschieden: Handelte es sich bei der NATO um einen freiwilligen Zusammenschluss, war die Warschauer Vertragsorganisation (WVO), umgangssprachlich der Warschauer Pakt, ein Zwangsbündnis der seit 1945 im sowjetischen Einflussbereich befindlichen ost(mittel)europäischen Staaten. Beide Militärblöcke waren hochgerüstet, um den jeweils anderen von Angriffen abzuhalten und sich gegebenenfalls verteidigen zu können. Eine besondere Rolle kam den Nuklearwaffen zu, über die in der NATO die USA, Großbritannien und Frankreich, in der WVO aber nur die Sowjetunion verfügte. Deren Besitz spielte eine höchst ambivalente Rolle, wie sie der amerikanische Historiker Jeremy Suri prägnant beschreibt: „Atomwaffen schreckten die Staaten von einem entfesselten Krieg ab, aber sie trugen zur Eskalation von Krisen bei; sie setzten dem Kalten Krieg gewisse Grenzen, hielten ihn aber zugleich am Leben.“4

Nachdem der Kalte Krieg Ende der 1970er-Jahre noch einmal eskaliert war, entspannte sich die Lage ab Mitte der 1980er-Jahre wieder, um mit dem Auseinanderbrechen des Warschauer Paktes infolge innerer Revolutionen und dem parallelen Zerfall der Sowjetunion spätestens 1991 zu enden.5 An die Stelle des Ost-West-Konflikts trat eine neue, von den USA dominierte fragmentierte Ordnung: Es handelte sich um einen längere Zeit andauernden „unipolar moment“.6 Die Welt war zwar instabiler als zuvor; jedoch gingen mit dem Ende des Kalten Krieges vorher für undenkbar gehaltene, vertraglich vereinbarte internationale Abrüstungsvereinbarungen einher. Diese sahen nicht nur die Vernichtung bestehender konventioneller und vor allem nuklearer Waffen vor, sondern auch die wechselseitige Überwachung dieses Prozesses.7 Das Ende des Kalten Krieges ermöglichte daher den Ausbruch kriegerischer Konflikte in Europa, etwa in Jugoslawien, befreite die Welt jedoch vorerst vom Risiko eines Atomkriegs.

 

Rückkehr zu Konfrontation und Hochrüstung

 

Seit der Übernahme des russischen Präsidentenamts durch Wladimir Putin im Jahr 2000, insbesondere aber ab 2007/08, wich die grundsätzliche Kooperationsbereitschaft zwischen Russland und dem Westen einer zunehmenden Konfrontation. Wichtigste, wenn auch nicht alleinige Ursache dafür war und ist Putins Ziel, international die frühere Größe Russlands wiederherzustellen. Dabei orientiert er sich an den Ausmaßen der Sowjetunion, deren Identität mit Russland er wiederholt festgestellt hat. Russland stellte vor allem ab 2007/08 die internationale Ordnung infrage,8 was sich nicht nur unter anderem im Auslaufen und in der Kündigung von Abrüstungsverträgen ausdrückte, sondern auch in militärischen Interventionen in Georgien (2008), auf der Krim und in der Ostukraine (2014).9 Befähigt sah sich Putin dazu, weil er die russischen Streitkräfte seit fünfzehn Jahren massiv aufgerüstet und modernisiert hatte – konventionell und nuklear.10 Die zurückhaltende Reaktion des Westens auf die Annexion der Krim und den Einfall in die Ostukraine sowie die isolationistische, die NATO schwächende Politik von US-Präsident Donald Trump bestärkten Putin in der Fortsetzung seines aggressiven Kurses. Da er den Westen, insbesondere nach dem Debakel des Abzugs aus Afghanistan 2021, vermutlich für zu schwach hielt, sah er sich zu seinem Angriff auf die Ukraine ermutigt. Damit sind alle westlichen Versuche, internationale Sicherheit mit Russland zu erreichen, gescheitert.

Die NATO muss nun Sicherheit gegenüber Russland herstellen und befindet sich, ohne Kriegspartei zu sein, in Konfrontation zu Moskau. Machtpolitisch erinnert dies durchaus an die Konstellation des Kalten Krieges. Allerdings gibt es drei wesentliche Unterschiede: Erstens hat die westliche Staatengemeinschaft auf die russische Aufrüstung nach 2000 nicht mit Gegenrüstungen reagiert – ganz entgegen der Philosophie der Abschreckung.11 Zweitens verfolgt Russland heute eindeutig eine revisionistische und damit eine expansive Agenda, während die Sowjetunion seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre tendenziell eine Status-quo-orientierte Macht war, auch wenn dies im Westen anders wahrgenommen wurde. Drittens ist die Situation weitaus gefährlicher als damals, da sich Russland in einem heißen Krieg mit der Ukraine befindet – mitten in Europa.

Auch China, das im Westen lange als Status-quo-orientierte Macht galt, hat nicht erst unter der Führung von Xi Jinping in beispielloser Weise seine Streitkräfte modernisiert und aufgerüstet. Nachdem damit bereits in den 1990er-Jahren begonnen wurde,12 hat die Aufrüstung seit der Militärreform von 2015 einen weiteren Schub erfahren. China will, wenn man die Worte Xis auf dem Parteitag von 2017 richtig interpretiert, bis 2049 zur größten Militärmacht der Welt werden. Schon seit Jahren wachsen die chinesischen Militärausgaben stets mehr als das Bruttoinlandsprodukt.13 Dabei verfolgt China anscheinend vor allem zwei Ziele: zum einen im indopazifischen Raum, wo es sich im Südchinesischen Meer ein Stützpunktsystem aufbaut und wo seine Taiwanpolitik immer aggressiver wird. Xi will nach der Auffassung von Experten bis 2049 sein Leitbild der „großen Auferstehung der chinesischen Nation“ verwirklichen, wozu auch die „Wiedervereinigung“ mit Taiwan gehört.14 Zum anderen verfolgt Peking seiner 2015 veröffentlichten „Militärstrategie“ zufolge die Absicht, seine Marine zu einer Hochseeflotte zur Sicherung der strategischen Seerouten auszubauen – als globale Handelsmacht will es auch global militärisch aktionsfähig sein.15

Im Ergebnis wenden sich Chinas indopazifische Nachbarn zunehmend ab und suchen den engen Schulterschluss mit den USA. Washington verstärkt seine militärische Präsenz im indopazifischen Raum und versucht sich an Gegenmachtbildung, etwa mit dem trilateralen Bündnis zwischen den USA, Großbritannien und Australien (AUKUS). Japan, Australien und die Philippinen teilen mit den USA die Sorge vor einer Eskalation des Taiwankonflikts; gleichzeitig sind sie allerdings auf den Handel mit China angewiesen.16

Diese Konfrontation ähnelt jener in der Frühphase des Kalten Krieges insofern, als China aufseiten der Sowjetunion stand und vor direkten oder indirekten militärischen Konflikten mit der westlichen Welt – etwa im Rahmen des Koreakriegs – nicht zurückschreckte. Zu Kampfhandlungen zwischen China und Taiwan ist es bisher nicht gekommen; China verfolgt allerdings mit dem wiederholten Eindringen seiner Kampfflugzeuge in die taiwanesische Luftraumüberwachungszone einen zunehmend riskanten Kurs. Insgesamt eine Situation, die ebenfalls gefährlicher ist als in den meisten Phasen des Kalten Krieges.

Die USA, Russland und China sind die weltweit führenden Atommächte, wobei die beiden erstgenannten über neunzig Prozent aller Atomwaffen verfügen; China folgt auf dem dritten Platz, hat allerdings in den vergangenen Jahren sein Potenzial erheblich ausgebaut. Durch die Kündigung beziehungsweise das Auslaufen fast aller nuklearen Abrüstungsverträge ist die Welt unsicherer geworden. Russland hat sogar im Verlauf seines Angriffskriegs gegen die Ukraine mehr oder weniger verklausuliert mit dem Einsatz nuklearer Waffen gedroht. Trotzdem scheint – wie im Kalten Krieg – das Gleichgewicht des Schreckens zu funktionieren: Einen Nuklearkrieg wollen die großen Atommächte offenbar nicht riskieren.

 

Bipolarität und Blockbildung

 

Die Dominanz der USA ist zwar Geschichte, eine Rückkehr der Bipolarität ist jedoch nicht feststellbar. Stattdessen befinden wir uns in einer multipolaren Welt,17 in der die USA zunehmend von China herausgefordert werden; Russland spielt global bei Weitem nicht die Rolle wie China, hat aber durch sein militärisches Engagement im syrischen Bürgerkrieg und erst recht im Ukraine-Krieg gezeigt, dass es als hochgerüstete Militärmacht, die zur Führung eines Krieges bereit ist, die Weltpolitik nachhaltig beeinflussen kann. Inwieweit noch andere Mächte oder Zusammenschlüsse, etwa Indien oder gar die Europäische Union zu neuen Kraftzentren werden können, ist zwar nicht absehbar, nach derzeitigem Ermessen allerdings eher unwahrscheinlich.18

Von den militärischen Bündnissen, die den Kalten Krieg prägten, hat allein die NATO überlebt. Nach Ende des Kalten Krieges wurde angesichts des Zerfalls des Warschauer Pakts wiederholt nach deren Sinn gefragt; außerdem waren Fliehkräfte zu beobachten, etwa, als die Türkei sich Russland zuwandte und von dort sogar ein Raketenabwehrsystem bezog. Hinzu kamen unter der Präsidentschaft Donald Trumps isolationistische Töne aus Washington, und noch 2019 bezeichnete der französische Präsident Emmanuel Macron die NATO als „hirntot“. Das täuscht jedoch darüber hinweg, dass das Bündnis im Kern weiterhin funktionsfähig blieb und sich den Zeitläuften – wenn auch teils mit Verzögerungen – flexibel anpasste. Das galt sowohl für die von den Balkankriegen und die von der NATO-Osterweiterung geprägten 1990er- als auch für die 2000er-Jahre, in denen die Allianz infolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 zu einem „globalen Sicherheitsakteur“ wurde und mit wenig nachhaltiger Wirkung weltweit versuchte, Krisenregionen zu stabilisieren. Seit 2014, insbesondere aber seit dem Februar 2022 hat sie zu ihrer ursprünglichen Funktion zurückgefunden, sodass die Landes- und Bündnisverteidigung wieder im Zentrum ihrer Aufgaben steht.19 Entgegen seinen Absichten hat Putin das Bündnis nicht geschwächt, sondern gestärkt: Angesichts des Angriffs auf die Ukraine ist die NATO nicht nur näher zusammengerückt, sie hat sich seit April 2023 sogar um Finnland und – nach langer Blockade durch die Türkei und Ungarn – seit März 2024 um Schweden erweitert. Insgesamt hat sich die NATO angesichts des Ukraine-Kriegs bisher weitgehend als handlungsfähig erwiesen, sowohl hinsichtlich der Hilfen für den angegriffenen östlichen Nachbarn als auch hinsichtlich der eigenen Dispositionen.

Im osteuropäisch-asiatischen Raum gibt es seit Beginn des 21. Jahrhunderts neue sicherheitspolitische Zusammenschlüsse. Dazu zählt zum einen die 2002 gegründete Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS)20, die neben Russland auch Kasachstan, Armenien, Belarus, Kirgistan und Tadschikistan umfasst und in deren Zentrum eine gegenseitige Beistandsverpflichtung steht. Zum anderen existiert seit 2001 die von China und Russland gegründete Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der darüber hinaus Indien, Iran, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan, Tadschikistan und Usbekistan angehören. Diese hat zwar auch eine sicherheitspolitische Dimension; inzwischen handelt es sich jedoch eher um ein Regionalforum für wirtschaftlichen, technologischen und kulturellen Austausch, das aufgrund der divergierenden Interessen ihrer Mitgliedstaaten indes im internationalen Kontext kaum handlungsfähig ist. Der NATO steht daher, anders als zur Zeit des Kalten Krieges, kein geschlossenes Bündnis mit militärisch integrierten Strukturen gegenüber.21

 

Ein Krieg der Ideologien?

 

Allerdings hat sich Russland aufgrund des Ukraine-Kriegs stärker an China angelehnt, das die westlichen Sanktionen nicht mitträgt. Von dieser ungleichen Partnerschaft profitieren beide: Der Handelsaustausch ist deutlich gestiegen, China bezieht mehr Öl und Gas aus Russland, und das zu günstigen Preisen. Russland ist in diesem Verhältnis stärker abhängig von China als umgekehrt, dessen Russlandgeschäft nur einen sehr geringen Teil seines Außenhandels ausmacht. Russland liefert zwar, wie in früheren Zeiten, Jets und U-Boote an China, das wiederum Drohnen und Schiffsmotoren nach Russland exportiert, Belege für den direkten Export von chinesischen Kriegswaffen gibt es jedoch nicht.22 Ob sich das chinesisch-russische informelle Bündnis, das vor allem auf einer gemeinsamen antiwestlichen Frontstellung basiert, dauerhaft etablieren kann, ist allerdings ungewiss: China wird sich als globale Handelsmacht nicht an ein Russland binden, das ihm lediglich günstige Energie liefern kann. Hinzu kommt, dass das Verhältnis Chinas zu seinem westlichen Nachbarn in der Vergangenheit alles andere als ungetrübt war: Verwiesen sei auf den sowjetisch-chinesischen Gegensatz seit den 1960er-Jahren und darauf, dass sich China traditionell als überlegene Zivilisation empfand und empfindet.

Während der Westen in Gestalt der NATO und der Europäischen Union sich als Bündnis von Demokratien definiert, handelt es sich bei Putins Russland und Xis China um Diktaturen. Lebt hier also der Kalte Krieg als ideologischer Konflikt zwischen Demokratien und autoritären Regimen wieder auf? China und Russland verbindet zwar ein gemeinsames Feindbild: die westliche Demokratie und die USA, der sie Hegemoniestreben vorwerfen. Die Suche nach einer ostentativen Missionsidee, wie sie seinerzeit der Sozialismus zweifellos war, bleibt im heutigen Russland weitgehend ergebnislos. Der Putinismus reduziert sich hier im Wesentlichen auf einen extremen Nationalismus, der die Zeit zurückdrehen will, auch wenn sich Putin als Wahrer traditioneller russisch-orthodoxer Werte zu inszenieren sucht, der sich angeblich dem westlichen Werteverfall – Stichwort LGBTQ – entgegenstellt.23

Das postmaoistische China wird zwar weiterhin von einer kommunistischen Partei regiert; die kommunistische Ideologie chinesischer Prägung scheint jedoch seit den 1990er-Jahren endgültig ausgedient zu haben. Stattdessen trat auch in China der Nationalismus an deren Stelle,24 und es ist diesbezüglich eine starke Reideologisierung erkennbar: Die Xi-Jinping-Ideen wurden 2017 ins Parteistatut und 2018 in die Verfassung übernommen. Wenngleich es sich dabei um kein klares ideologisches Konstrukt handelt, ist inzwischen doch ein besonderes Sendungsbewusstsein der chinesischen Führung erkennbar, das an jahrtausendealte Hegemonialtraditionen des „Reichs der Mitte“ anknüpft. Peking scheint insbesondere seit der Weltfinanzkrise davon überzeugt zu sein, „der Welt ein besseres Ordnungsmodell bieten zu können als der Westen“. Anders als der liberale Westen habe das autoritäre chinesische System seinen Bürgern in kurzer Zeit zu wirtschaftlichem und technischem Fortschritt verholfen, sodass man von der eigenen Überlegenheit überzeugt ist.25 Diese Sichtweise spiegelte sich lange auch in Chinas strikter Null-Covid-Strategie wider, bis diese in einer halsbrecherischen Kehrtwende im Dezember 2022 revidiert wurde.

In der westlichen Welt ist zwar die Demokratie noch die vorherrschende Staatsform; sie wird allerdings in einigen Ländern, etwa in Ungarn, zunehmend ausgehöhlt und in anderen, wie in der Türkei, weitgehend abgeschafft. Die Strahlkraft, die das westlich-liberale Modell nach dem Fall des Kommunismus in den 1990er-Jahren noch auf andere Staaten ausübte, ist mittlerweile zurückgegangen, wenngleich seine Attraktivität angesichts der akuten Bedrohung durch autoritäre Regime teilweise zurückkehrt. Auch wenn sich heute mit China und Russland auf der einen und den westlichen Staaten auf der anderen Seite wieder autoritär und demokratisch verfasste Systeme gegenüberstehen, handelt es sich nicht mehr um einen im Kern ideologischen Konflikt; in dieser weitgehend machtpolitischen Auseinandersetzung geht es kaum noch darum, die Herzen der Menschen zu gewinnen.

 

Wirtschaftliche Verflechtungen und Wirtschaftskriege

 

Die gegenwärtige weltpolitische Konstellation ist komplizierter als zur Zeit des Kalten Krieges, da die globale wirtschaftliche Verflechtung sehr viel weiter fortgeschritten ist. Das wurde bereits bei den gegen Russland verhängten Sanktionen deutlich, die Moskau mit einem Lieferstopp von Öl und Gas in die westlichen Staaten beantwortete, was den westlichen Volkswirtschaften, insbesondere der deutschen, erhebliche Probleme bereitet hat. Im Falle Chinas, das im Zentrum globaler Lieferketten steht und wichtigster Handelspartner für sehr viele Staaten der Welt ist, wären solche Sanktionen undenkbar. Anders als vor 1989 die sowjetische, ist die chinesische Volkswirtschaft nicht nur mit der US-amerikanischen auf das Engste verflochten. Das macht China weniger anfällig als die Sowjetunion, die insbesondere wegen ihrer wirtschaftlichen Schwäche zusammengebrochen ist.26

Wirtschaftliche Verflechtungen lassen militärische Konflikte grundsätzlich unattraktiv werden, da sie die zum beiderseitigen Vorteil geschlossenen Wirtschaftsbeziehungen schädigen, ja zerstören können. Diese Überlegung hat zu der vorschnellen Schlussfolgerung geführt, dass in der heutigen globalisierten Welt Kriege aufgrund ihrer wirtschaftlichen Nachteile nicht mehr geführt werden. Jedoch lassen sich politische Führer nicht allein von ökonomischem Denken leiten. Dass Xi Jinping etwa zur „Wiedervereinigung“ mit Taiwan auch einen Krieg mit einkalkuliert, ist alles andere als unwahrscheinlich. Gleichwohl dürfte das Interesse Pekings an der Aufrechterhaltung seiner Wirtschaftsbeziehungen, insbesondere in Asien, eine konfliktdämpfende Wirkung haben.

 

Aggressives Streben nach internationaler Kontrolle

 

Wirtschaftliche Verflechtung, von der mehrere Partner profitieren, ist die eine, das aggressive Streben nach wirtschaftlicher Vorherrschaft, ja „nach einer möglichst weitreichenden internationalen Kontrolle über das System zur Produktion, zur Verteilung und zum Verbrauch von Waren und Dienstleistungen“27 die andere Komponente heutiger globaler Wirtschaftsbeziehungen. Insbesondere China kann man ein solches Streben unterstellen: Die sogenannte Belt and Road Initiative – im deutschen Sprachraum „Neue Seidenstraße“ genannt – geht eindeutig in diese Richtung, da hier von Reziprozität in den Wirtschaftsbeziehungen keine Rede sein kann. Bei diesem Vorhaben zeichnen sich zwar erste Probleme ab: China sieht sich aufgrund wirtschaftlicher Probleme nicht mehr in der Lage, Kredite in dem bisherigen Ausmaß zur Verfügung zu stellen, und einige Staaten, die sich zunächst einbinden ließen, wollen, nicht zuletzt aus der Erkenntnis, dass sie in eine Schuldenfalle getappt sind, die Verbindungen zu China reduzieren oder sogar kappen. Gleichwohl steht China bei seinen ausschließlich auf den eigenen ökonomischen Vorteil ausgerichteten Wirtschaftsbeziehungen zu Staaten des sogenannten Globalen Südens besser da als der Westen, der aufgrund seiner Einforderung politischer Reformen strukturell benachteiligt ist. Außerdem ist er in ökonomischer und technologischer Hinsicht China allenfalls ebenbürtig, auf einigen Gebieten – etwa bei Zukunftstechnologien wie der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz – sogar im Rückstand. Darin besteht ein grundsätzlicher Unterschied zum Kalten Krieg, als der Westen dem Osten wirtschaftlich immer und technologisch meistens – manchmal hatte die Sowjetunion in der Raketentechnik die Nase vorn – haushoch überlegen war.

Damit sind neue Felder angesprochen, die prima facie mit der Ausgangsfrage nichts zu tun haben. Die skizzierten Probleme verweisen aber darauf, dass es nicht damit getan ist, nach Parallelen und Unterschieden zwischen der heutigen weltpolitischen Lage und dem Kalten Krieg zu suchen. Wir dürfen andere Konflikte nicht aus den Augen verlieren, die zwar ebenfalls ihre historischen Vorläufer haben, aber nicht im Ost-West-Konflikt wurzeln.

Sind es also, um die Ausgangsfrage noch einmal aufzugreifen, die Grundmuster des Kalten Krieges, die die heutige weltpolitische Realität bestimmen? Blicken wir auf die Akteure, so hat als einziges Bündnis die NATO den Kalten Krieg überstanden und existiert heute noch fort – und sie ist trotz aller aktuellen Schwierigkeiten vitaler als noch vor wenigen Jahren angenommen. Die USA konnten ihren Status als Supermacht behaupten; Russland als nuklearer Alleinerbe der Sowjetunion ist zwar weiter Atommacht, aber alles andere als eine Supermacht. China, dessen Trennung von der Sowjetunion bis in die 1960er- und dessen Aufstieg bis in die 1980er-Jahre zurückreicht, ist die weitaus wichtigere Großmacht geworden, die sehr viel eher in der Lage ist, den USA weltweit die Stirn zu bieten. Unabhängig davon, ob das „Reich der Mitte“ den USA als Weltmacht ebenbürtig ist, ist unübersehbar, dass die Weltpolitik heute nicht mehr bipolar, sondern multipolar organisiert ist.

 

Kriege sind heute machtpolitisch motiviert

 

Das bedeutet allerdings auch, dass etwa Abrüstungsverträge nicht mehr nur bilateral zwischen zwei Supermächten oder zwei Militärallianzen, sondern multilateral ausgehandelt und organisiert werden müssten. Zwar lassen sich die gegenwärtigen Mächtegruppierungen wie im Kalten Krieg in diktatorische und demokratische einteilen; gleichwohl handelt es sich bei den heutigen Konflikten und Kriegen nicht um ideologisch getriebene, sondern um weitgehend machtpolitische Auseinandersetzungen. Schließlich kommt als letztes Element hinzu, dass die Welt – wie bereits dargelegt – in einem sehr viel stärkeren Maße als vor 1990 wirtschaftlich verflochten ist: Das kann einerseits konflikthemmend wirken, andererseits schließt es bei entsprechender Wirtschaftskraft Wirtschaftskriege zum Erlangen ökonomischer – und damit politischer – Überlegenheit nicht aus.

Insgesamt, so das nüchterne Fazit dieser Überlegungen, lassen sich zwar einzelne Elemente der Weltordnung identifizieren, die an den Kalten Krieg erinnern; die Unterschiede zur damaligen Konstellation sind allerdings weitaus größer. Größere Komplexität im Verhältnis der Staaten untereinander, die unauflösliche Verquickung wirtschaftlicher und machtpolitischer Ambitionen sowie die nach 1990 gewachsene Bereitschaft Russlands und Chinas, militärische Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele einzusetzen, machen die Welt zu einem unsichereren Ort als zwischen den 1960er- Jahren und 1990. Geblieben ist allein die Furcht vor der gegenseitigen nuklearen Vernichtung, die verhinderte, dass aus dem Kalten Krieg ein heißer wurde und die hoffentlich auch einer Ausweitung der heutigen Kriege entgegensteht.

 

 

Hermann Wentker, geboren 1959 in Bonn, promovierter und habilitierter Historiker, Leiter der Abteilung Berlin des Instituts für Zeitgeschichte und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam.

 

Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags wurde veröffentlicht in: Die Politische Meinung, Nr. 586 POM 24/III, Juli 2024, S. 62–69 (Druckfassung). Die PDF kann unten heruntergeladen werden.

 

 

1 So im Hinblick auf Russland Hannes Adomeit / Joachim Krause: „Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz“, in: SIRIUS, Band 6, Heft 2/2022, S. 129–149, hier S. 142–147; im Hinblick auf China zitiert aus Matthias Naß: „USA und China. Auf dem Weg in einen neuen Kalten Krieg“, in: Die Zeit, 13.03.2023.

2 Für die Interviewreihe siehe Arbeitskreis Militärgeschichte e.V., Forschung zum Kalten Krieg – eine Bestandsaufnahme / Interview Series: Taking Stock of Cold War Research, www.portal-militaergeschichte.de/interviewreihe_kalter_krieg; Berliner Kolleg Kalter Krieg: Forschung zum Kalten Krieg, www.berlinerkolleg.com/de/interviewreihe-forschung-zum-kalten-krieg [letzter Zugriff jeweils: 05.02.2024].

3 So der Titel des Buches von Melvyn P. Leffler: For the Soul of Mankind. The United States, the Soviet Union, and the Cold War, New York 2007.

4 Jeremy Suri: „Logiken der atomaren Abschreckung oder Politik mit der Bombe“, in: Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Dierk Walter (Hrsg.): Krisen im Kalten Krieg, Hamburg 2008, S. 24–47, hier S. 46.

5 Vgl. dazu Hermann Wentker: „Vom Zweiten Kalten Krieg zum Ende des Ost-West-Konflikts. Wandel der Weltpolitik und Revolution der Staatenwelt“, in: Historische Mitteilungen, Nr. 27/2015, S. 244–272.

6 Der Begriff nach Charles Krauthammer: „The Unipolar Moment,“ in: Foreign Affairs, 70. Jg., 1990/91, Nr. 1, S. 23–33. Vgl. auch Hal Brands: Making the Unipolar Moment. U.S. Foreign Policy and the Rise of the Post-Cold War Order, Ithaca/London 2016.

7 Vgl. Tim Geiger: „Die europäische Friedensordnung von 1990, Beginn einer neuen Ära“, in: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung. Online-Dossier Krieg in der Ukraine, https://zms.bundeswehr.de/de/zmsbw-dossier-ukraine-geiger-tim-1-5408530 [letzter Zugriff: 05.02.2024].

8 Vgl. Martin Aust: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991, München 2019, S. 99.

9 Vgl. Tim Geiger: „Who lost Russia? Der Niedergang der europäischen Sicherheitsordnung 2000-2022“, in: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung, Online-Dossier Krieg in der Ukraine, https://zms.bundeswehr.de/resource/blob/5408576/e83fe01cff70cb54bbda1609a6045992/geiger-niedergang-der-friedensordnung-data.pdf [letzter Zugriff: 05.02.2024].

10 Vgl. Adomeit / Krause, a. a. O., S. 144, siehe En. 1.

11 Vgl. ebd., S. 141 (mit Bezug auf die Bundeswehr).

12 Vgl. Frank Umbach: „Chinas Aufrüstung – ein Alarmzeichen“, in: Internationale Politik, 55. Jg., Nr. 7/2000, S. 29–36.

13 Vgl. Nele Noesselt: „China als Rüstungsakteur. von Maos Papiertigern zu robusten Regenbögen“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 18-19/2019, S. 27–31.

14 Zit. nach Frédéric Krumbein: „Bedrohte Demokratie. Der Konflikt in der Taiwanstraße“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 26-27/2023, S. 32.

15 Vgl. Noesselt, a. a. O., siehe En. 13, S. 28.

16 Vgl. Peter Walkenhorst: „Ein neuer Kalter Krieg?“, in Internationale Politik Spezial, 76. Jg., Nr. 3/2021, S. 10; vgl. auch mit Bezug auf ASEAN Klaus Mühlhahn: „Regionaler Hegemon? Kleine Geschichte der auswärtigen Beziehungen Chinas in Asien“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 26-27/2023, S. 7f.

17 Die „multipolare Weltordnung“ ist vor dem Hintergrund entsprechender Äußerungen Chinas und Russlands gegen die angebliche „westliche Hegemonie“ am Ende des Kalten Krieges zwar als „antiwestliches Projekt“ bezeichnet worden (Jörg Lau: „Wir leben in einer multipolaren Welt“, in: Internationale Politik, Nr. 5, September/Oktober 2023, 78. Jg., S. 15). Hier wird der Begriff jedoch wertneutral zur Bezeichnung des Unterschieds zwischen der heutigen Weltordnung und der des Kalten Krieges verwendet.

18 Eine andere Auffassung vertritt Herfried Münkler, der die Herausbildung einer neuen Pentarchie, bestehend aus den USA, Russland, China, der EU und Indien, in Zukunft für durchaus möglich hält, in: Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert, Hamburg 2023.

19 Vgl. Karl-Heinz Kamp: „NATO: Rückblick auf ein Dreivierteljahrhundert“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 47-48/2023, S. 4–9, das Zitat S. 6.

20 Die OVKS ging aus dem Vertrag über kollektive Sicherheit von 1992 zwischen Russland, Usbekistan, Belarus, Armenien, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan hervor, der „einen Konsultationsmechanismus samt Infrastruktur nach sowjetischem Muster“ darstellte, vgl. Anna Kreikemeyer: „Herrschaft statt Sicherheit. Die Organisation des Vertrags für Kollektive Sicherheit“, in: Osteuropa, 62. Jg., Heft 5, 2012, S. 81–91, hier S. 87.

21 Vgl. auch Walkenhorst, a. a. O., S. 10, siehe En. 16. Walkenhorst betont, dass China „eine einsame Weltmacht“ ist.

22 Vgl. Ruth Kirchner: „China und Russland. Ziemlich beste Freunde“, in tageschau, 23.02.2023, www.tagesschau.de/ausland/asien/russland-china-krieg-ukraine-beziehung-101.html [letzter Zugriff: 05.02.2024].

23 Vgl. u. a. Michael Thumann: Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat, München 2023, S. 93–99, S. 155–157.

24 Vgl. Klaus Mühlhahn: Geschichte des modernen China. Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart, München 2021, S. 591–596.

25 So Nils Ole Oermann / Hans Wolf: Wirtschaftskriege. Geschichte und Gegenwart, Freiburg i. Br. 2019, S. 180f. (hier auch das Zitat zum besseren Ordnungsmodell).

26 Vgl. Walkenhorst, a. a. O., S. 10, siehe En. 16.

27 So Oermann/Wolf, a. a. O., S. 190f., siehe En. 25.

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