Die Gewalt im türkischen Kurdenkonflikt ist zurückgekehrt. Nach rund zweieinhalb Jahren Waffenruhe zwischen der Regierung und der PKK (Partiya Karkerên Kurdistan, „Arbeiterpartei Kurdistans“) führt die Türkei seit dem 24. Juli 2015 eine grenzüberschreitende Militäroffensive gegen die PKK. Seither nimmt die türkische Armee mit Spezialeinheiten und schweren Waffen zahlreiche kurdische Städte unter Beschuss. Ziel ist es, die von der Türkei, den USA und der Europäischen Union (EU) als Terrororganisation eingestufte PKK zu eliminieren, die mittels ihrer städtischen Jugend-Organisation YDG-H (Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi, „Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung“) den Krieg in die Städte des Südostens der Türkei hineingetragen hat. Die Gewalteskalation fordert seit Beginn immer mehr Opfer, vor allem unter der kurdischen Zivilbevölkerung. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden bislang mehr als 200 Zivilisten, darunter auch Kinder, Frauen und ältere Menschen getötet. Mehr als 200.000 Kurden befinden sich bereits auf der Flucht. Als „nur bedingt frei“ stuft Freedom House die türkische Demokratie ein. Human Rights Watch und Amnesty International beanstanden in ihren jüngsten Türkei-Berichten die Missachtung des Rechts auf Leben in den kurdischen Gebieten durch das unverhältnismäßige und harte Vorgehen der Spezialeinheiten von Armee und Polizei. Beanstandet werden auch die Kriminalisierung jeglicher Opposition gegen den immer autoritärer auftretenden Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und die Regierung, die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung und die Repression gegen Presse und Medien. Prägnantes Beispiel ist die Verfolgung von Akademikerinnen und Akademikern, die in einem Friedensappell im Januar 2016 die Regierung für ihr Vorgehen im Südosten scharf kritisiert hatten. Die Kurden befürchten hingegen einen Rückfall in die „dunklen Zeiten“ der 1990er-Jahre, als die „Politik der verbrannten Erde“ Tausende kurdische Dörfer auslöschte, Millionen von Kurden zur Flucht zwang und Zehntausende bis heute „unaufgeklärte Morde“ an Kurden hinterließ.
Gründe für die Rückkehr der Gewalt
Doch die Rückkehr der Gewalt überrascht nicht, setzt man sie in den regionalen und innenpolitischen Kontext. Vor allem zwei Faktoren spielen eine ausschlaggebende Rolle: zum einen das Erstarken der kurdischen HDP (Halkların Demokratik Partisi, „Demokratische Partei der Völker“), die bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 die Zehn-Prozent-Hürde überwand und erstmals den Einzug in das Parlament schaffte. Für Staatspräsident Erdoğan und seine AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) bedeutete der Parlamentseinzug der HDP eine Niederlage. Denn Erdoğan und seine Partei verloren dadurch die absolute Mehrheit, und das Ziel des Staatspräsidenten, ein Präsidialsystem einzuführen, geriet in Gefahr. Zum anderen spielt das Erstarken der PKK und ihres syrischen Ablegers PYD (Partiya Yekitîya Demokrat, „Demokratische Unionspartei“) im Zuge ihres Kampfes gegen den Islamischen Staat (IS) in Syrien und im Irak eine entscheidende Rolle. Ankara sieht dieses Erstarken, aber auch das kurdische Selbstverwaltungsgebiet (kurdisch „Rojava“ genannt) im Norden Syriens als Bedrohung. Die PYD hatte im Sommer 2012 drei Kantone (Cezire, Kobani, Afrin) errichtet. Seither kontrolliert und verwaltet sie diese Gebiete. Die Regierung betrachtet diese Gebiete unter PYD-Verwaltung als Parallelstrukturen der PKK und befürchtet eine Ausweitung auf die Türkei. Sowohl Staatspräsident Erdoğan als auch die Regierung machten immer wieder klar, dass die Türkei in Syrien eine Autonomie wie im kurdischen Nordirak niemals akzeptieren werde. Zwar versuchte die Regierung, auf die PYD Einfluss zu nehmen und die PYD in die von der türkischen Regierung unterstützten sunnitisch-islamistischen Milizen einzubinden. Die Gespräche mit Salih Müslim, dem Vorsitzenden der PYD, der mehrmals nach Ankara eingeladen wurde, führten jedoch zu keinem Ergebnis.
Das Kräftemessen zwischen Regierung und PKK spitzte sich parallel zu den militärischen Erfolgen der PYD und der PKK in Syrien und im Irak immer mehr zu. Dies hatte wiederum Auswirkungen auf den seit Herbst 2012 zwischen der Regierung und der PKK laufenden Friedensprozess. Dieser wurde zunehmend durch die Ereignisse im syrischen Kurdengebiet „Rojava“ beeinflusst. Bei den Kämpfen um die syrisch-kurdische Stadt Kobane nahe der türkischen Grenze wurde dies besonders deutlich. Die türkische Regierung verweigerte die Öffnung eines Hilfskorridors für die von dem IS eingekesselte Stadt und verweigerte Hunderten von türkischen Kurden, die sich zur Unterstützung der kurdischen Selbstverteidigung in Kobane an der Grenze gesammelt hatten, den Grenzübertritt. Die Situation eskalierte sehr schnell; der wachsende Unmut im Innern und die Ohnmachtsgefühle der türkischen Kurden entluden sich Anfang Oktober 2014 in schweren gewalttätigen Ausschreitungen in weiten Teilen der Türkei. Sowohl Abdullah Öcalan als auch die PKK-Führung drohten mit dem Ende des Friedensprozesses, sollte Kobane fallen. Der innere und äußere Druck auf die Regierung stieg, sodass sie einer bestimmten Anzahl der irakisch-kurdischen Peschmerga Ende Oktober 2014 erlaubte, über türkisches Territorium nach Kobane zu gelangen, um die Stadt zu verteidigen. Dieser Schritt stand aber gleichzeitig im Einklang mit der kurdenpolitischen türkischen Regierungsstrategie, die PKK beziehungsweise die PYD mithilfe der irakischen Kurden, insbesondere über Masoud Barzani (Präsident der kurdischen Autonomieregion im Nordirak) und seine PDK ( Partiya Demokrata Kurdistanê, „Demokratische Partei Kurdistans“), einzudämmen.
Militärische Eindämmung der PKK und der PYD
Nicht zuletzt erhöhte sich aus türkischer Sicht die Bedrohung durch die PKK, als die PYD Mitte Juni 2015 mithilfe von US-Luftangriffen die Grenzstadt Tal Abyad vom IS befreite. Damit schnitt die PYD eine wichtige Versorgungsroute des IS ab und erreichte zugleich eine geografische Zusammenlegung der bis dahin voneinander getrennten kurdischen Selbstverwaltungskantone Kobane und Cezire. Ankara sieht darin einen Zwischenschritt der PYD/PKK, ihre drei Enklaven im Norden Syriens durch die Eroberung der dazwischenliegenden Gebiete miteinander zu verbinden. Die Kurden würden nach dem Erfolg von Tal Abyad nun ihre Anstrengungen darauf richten, auch ihre westlichste Hochburg Afrin mit dem Rest der von ihnen kontrollierten Gebiete zu vereinigen. Nach Lesart Ankaras stünde dann ein kurdischer Zugang zum Mittelmeer; daraus werde ein kurdischer Rumpfstaat auf den Trümmern Syriens entstehen. Das zu verhindern und im Gebiet, das Afrin vom Rest der übrigen Kantone trennt, eine Sicherheits- und Flugverbotszone zu errichten, ist das primäre Ziel der Regierung in Ankara – das betrifft den 110 Kilometer langen Streifen zwischen den Städten Dscharabulus und Azaz, den der IS kontrolliert und der nach dem Verlust von Tal Abyad die letzte direkte Grenze bildet, die der IS zur Türkei unterhält. Deshalb bezeichnet die Regierung ein Vorrücken der PYD westlich des Euphrats als ihre „rote Linie“. Staatspräsident Erdoğan und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu warnten unmissverständlich, dass die Türkei alles tun werde, um ein Vorrücken der PYD zu verhindern. Nach vermehrten Drohgebärden bombardiert die türkische Luftwaffe nun seit dem 13. Februar 2016 Stellungen der PYD nördlich der umkämpften Stadt Aleppo. Die PYD war mit Unterstützung der russischsyrischen Luftoperationen nahe der Stadt Azaz vorgerückt. Sie hatte die Kontrolle über einen Militärflughafen im Dreieck zwischen Afrin, Azaz und Aleppo erlangt, der genau an der für die von der Türkei unterstützten Anti-Assad-Rebellen in Aleppo wichtigen Strecke zur türkischen Grenze liegt. Damit war auch die Verbindung zwischen der Türkei und Aleppo unterbrochen worden. Nun versucht die Türkei durch den Beschuss, die Verbindungslinie nach Aleppo für die von ihr unterstützten Anti-Assad-Rebellen zu sichern und gleichzeitig zu verhindern, dass die PYD ihr Gebiet im Westen mit dem im Osten verbindet und somit einen durchgängigen Streifen entlang der Grenze zur Türkei kontrolliert.
Scharfe Rhetorik im Wahlkampf
Im Gegensatz zu den USA und zu Russland, die die PYD und ihren militärischen Arm YPG (Yekîneyên Parastina Gel, „Volksverteidigungseinheiten“) als wichtigste Verbündete im Kampf gegen den IS in Syrien sehen und mit ihm eng militärisch kooperieren, betrachtet die türkische Regierung die PYD als Teil der PKK und als eine Terrororganisation. Vor allem kritisiert sie die US-amerikanische Kooperation mit der PYD sehr scharf. Zwar riefen die USA die Türkei dazu auf, die Bombardierung der PYD einzustellen. Doch bislang verhallte dieser Aufruf. Ankara lehnt eine Beteiligung der syrischen Kurdenpartei an den Genfer Verhandlungen zu Syrien strikt ab. So wurde die Partei auf Druck der Türkei und ihrer Verbündeten Saudi-Arabien und Katar zu den Verhandlungen in Genf Ende Januar 2016 nicht eingeladen. Sie hatten mit dem Boykott der Gespräche gedroht, sollte die PYD mit am Verhandlungstisch sitzen.
Von Kobane über die Parlamentswahlen bis Tal Abyad spitzte sich die Situation aus türkischer Sicht zu und mündete in den sogenannten „Krieg gegen den Terror“. Innenpolitisch erhofften sich Staatspräsident Erdoğan und seine AKP von der Militäroffensive und der scharfen Rhetorik offenbar bessere Wahlchancen für die vorgezogenen Parlamentswahlen am 1. November 2015. Letztendlich ist diese Strategie aufgegangen: Die AKP erzielte einen deutlichen Wahlsieg und eroberte ihre verlorene parlamentarische Mehrheit zurück. Trotz Stimmverlusten schaffte die HDP erneut den Einzug in das Parlament und wurde (gemessen an der Sitzverteilung) drittstärkste Kraft.
Strategisches Kalkül statt Friedensprozess
Ohnehin war der Friedensprozess fragil. Dazu trug nicht nur das tiefsitzende Misstrauen auf beiden Seiten bei. Vor allem fehlte dem Vorgehen ein offiziell formalisierter „Friedensplan“, der den gesamten Prozess inhaltlich und zeitlich strukturieren und beide Seiten verpflichten würde. Hinzu kommt, dass die Konfliktparteien Ziele und Interessen verfolgen, die sich teils diametral gegenüberstehen und einen möglichen Kompromiss erschweren. Die Regierung will eine bedingungslose Niederlegung der Waffen erreichen, ohne weitgehende Zugeständnisse machen zu müssen. Zugleich will sie verhindern, dass die PKK im Zuge des Prozesses an Legitimation hinzugewinnt. Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung sehen die bislang verabschiedeten Reformen zur Stärkung der individuellen Freiheiten und der Nutzung der kurdischen Sprache als ausreichend an. Föderale oder autonome Formen der Selbstverwaltung sowie das Recht auf Erziehung in kurdischer Sprache lehnen sie strikt ab. Diese Elemente stehen aber wiederum im Mittelpunkt der politischen Forderungen der PKK, aber auch der HDP sowie ziviler kurdischer Organisationen. Erst wenn die Regierung in Ankara auf diese zentralen Forderungen einginge und sie im Rahmen einer neuen Verfassung rechtlich verankerte, könne am Ende einer solchen „Normalisierungsphase“ die endgültige Waffenniederlegung stehen.
Beide Seiten nutzten den Friedensprozess für ihr strategisches Kalkül, anstatt ihn ernsthaft voranzubringen. Während die türkische Regierung den Bau von neuen Militärstationen, Grenzposten und sicherheitspolitisch motivierten Staudämmen im Südosten vorantrieb, baute die PKK ihre städtischen Strukturen aus, um den „Städtekrieg“ zu unterfüttern und die Ausrufung von Selbstverwaltungen in einigen Gebieten des Südostens zu testen.
HDP zwischen den Fronten
Der Konfrontationskurs der Regierung betrifft aber auch die HDP und ihre Bürgermeister. Bereits vor den Parlamentswahlen im Juni 2015 war die HDP verbalen Diffamierungen seitens des Staatspräsidenten Erdoğan, der Regierung und der regierungsnahen Medien ausgesetzt. Dass die HDP zunehmend zur Zielscheibe wurde, zeigt sich an zahlreichen Übergriffen auf ihre Büros, darunter ein Bombenanschlag auf der Abschlusskundgebung Anfang Juni 2015 in Diyarbakır. Mit der Rückkehr der Gewalt geriet die HDP zunehmend zwischen die Fronten und faktisch ins politische Abseits. Gegen den Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş sowie weitere HDP-Politiker und -Bürgermeister laufen derzeit Ermittlungsverfahren, um der Partei einen finalen Schlag zu versetzen. Betroffen sind auch Bürgermeister, die essenzielle Träger lokaler kurdischer Politik sind und gemeinsam mit der HDP die Ausrufung von Selbstverwaltungen mitgetragen haben. Viele wurden ihrer Ämter enthoben und verhaftet. Die Regierung kündigte an, staatliche Verwalter an ihrer Stelle einzusetzen, da sie die Gelder aus Ankara zur Unterstützung des Terrorismus verwendet hätten. Damit würden die demokratisch legitimierten Errungenschaften kurdischer Politik auf lokaler Ebene zunichte gemacht, auch wenn die HDP-Bürgermeister von der lokalen Bevölkerung gewählt wurden.
Neuer „Aktionsplan gegen den Terrorismus“
Ein Ende der Eskalation ist nicht abzusehen. „Viertel um Viertel, Haus um Haus und Straße um Straße werde von Terroristen und ihren Unterstützern gesäubert“, so Staatspräsident Erdoğan und Ministerpräsident Davutoğlu. Auch die PKK beharrt auf ihrer Gewaltstrategie, um einen Aufstand der Bevölkerung anzustacheln und den Druck auf die Regierung zu erhöhen, damit sie die in mehreren Gebieten im Südosten ausgerufene Selbstverwaltung anerkennt. Allerdings blieb die erhoffte Unterstützung der kurdischen Zivilbevölkerung aus, da sie zwischen die Fronten geriet und selbst unter der Gewalt leiden musste. Kurden und ihre zivilgesellschaftlichen Organisationen fordern ein sofortiges Ende der Gewalt. Gleichzeitig sind viele Kurden tief enttäuscht über das harte staatliche Vorgehen und die fehlende Solidarität im Westen des Landes.
Die Regierung kündigte an, einen erneuten Friedensprozess nicht mehr mit der PKK und der HDP, sondern mit dem „Volk“ zu führen. Am 5. Februar 2016 stellte Ministerpräsident Davutoğlu den neuen „Aktionsplan gegen den Terrorismus“ vor. Darin verspricht die Regierung den Wiederaufbau der zerstörten Städte in Kombination mit neuen Sicherheitsmaßnahmen, die Entschädigung von Betroffenen, wirtschaftliche Fördermaßnahmen und die Ausweitung der Kompetenzen der lokalen Verwaltungen bei gleichzeitig strikter staatlicher Kontrolle. Ansprechpartner dieser neuen „Ära der Einheit und Brüderlichkeit“ sei das Volk; Gespräche würden mit verschiedenen Akteuren vor Ort, beispielsweise religiösen Führern, regierungsnahen Arbeitgeberverbänden, zivilen Organisationen, geführt und unter deren Beteiligung in jedem Ort Konsultationsräte gebildet.
Doch ein Frieden ist unter Ausschluss der PKK und der HDP – legitimierte drittstärkste Partei im türkischen Parlament – wohl kaum zu erreichen. Einerseits ist die Regionalisierung des innertürkischen Konfliktes bereits zu weit fortgeschritten. Andererseits ist die Auseinandersetzung um die politische Zukunft der Kurden im Kern eine historische Erblast der Friedensregelungen nach Ende des Ersten Weltkrieges und dem mit ihm einhergehenden Zerfall des Osmanischen Reiches. Die Autonomiebestrebungen der Kurden sind fest in diesem historischen Kontext verwurzelt und können daher nicht einfach ignoriert oder übergangen werden.
Fortwirkende Omnipotenz des Staates
Die Regierung setzte die Erarbeitung einer neuen Verfassung wieder auf ihre Agenda. Staatspräsident Erdoğan und sein Kabinett sind bestrebt, im Rahmen einer neuen Verfassung ein Präsidialsystem einzuführen. Allerdings lehnt die Opposition dies ausdrücklich ab. Obwohl ein Grundkonsens über eine neue Verfassung besteht, erzielten die Parteien bei den zuvor laufenden Verfassungsgesprächen keinen Durchbruch. Die Differenzen in Kernfragen, wie etwa Staatsverständnis, Staatsstruktur oder Definition des Staatsbürgers, waren unüberbrückbar. Deshalb kamen die Gespräche vorerst zum Erliegen.
Die jetzige Verfassung ist ein Produkt des Militärputsches vom September 1980. In der AKP-Regierungszeit wurden zwar mehrmals Änderungen von Verfassungsartikeln vorgenommen. Dennoch ist die Verfassung eine ideologisch geleitete, illiberale autoritäre Verfassung. Autoritäre Staatsgrundlagen sichern die Omnipotenz des Staates über den Bürger, über die Zivilgesellschaft und die fundamentalen Freiheitsrechte, wie zum Beispiel die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Kurdische Forderungen nach Dezentralisierung der Staatsstruktur oder dem Recht auf Erziehung in kurdischer Sprache stehen in einem völligen Gegensatz zu den autoritären Grundlagen der jetzigen Verfassung.
Eine neue Verfassung bietet nur dann eine Chance auf Frieden und mehr Demokratie, wenn sie ideologisch-autoritäre Werte gänzlich verwirft und eindeutig auf fundamentalen Grundrechten und -freiheiten, einem liberalen Verständnis von Staat, Nation und Minderheitenschutz errichtet würde. Nur eine auf diesen Werten basierende Verfassung würde den Weg für ein mögliches Ende im türkischen Kurdenkonflikt ebnen und die türkische Demokratie substanziell stärken. Im Rahmen einer so gearteten Verfassung bestünde auch die Möglichkeit, kurdische Forderungen einzubinden. Doch der fortlaufende autoritäre Staatskurs unter Staatspräsident Erdoğan und die massiven Einschränkungen der Freiheiten laufen genau auf das Gegenteil hinaus, sodass es derzeit kaum Aussichten auf eine liberale Verfassung und eine demokratiepolitische Kehrtwende gibt.
Gülistan Gürbey, geboren 1963 in Bilice (Türkei), Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin.