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Plädoyer für ein allgemeines Gesellschaftsjahr

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Die Corona-Pandemie und die Flüchtlingswelle von 2015 haben unsere Gesellschaft tief gespalten. Die Jahrhundertflut im vergangenen Jahr hat uns fassungslos gemacht, der Angriffskrieg auf die Ukraine erschüttert bis ins Mark.

Kaum jemand hätte noch zum Jahreswechsel ein kriegerisches Szenario auf europäischem Boden für möglich gehalten. Das millionenfache Leid der ukrainischen Bevölkerung ist schwer zu ertragen. Und das alles findet direkt vor unserer Haustür statt. Das konfrontiert gnadenlos mit uns selbst: Wie verhalten wir uns dazu? Welche Risiken sind wir bereit, einzugehen? Welchen Preis sind wir bereit, für unsere Werte zu zahlen?

Seit Jahren befindet sich Deutschland im Krisenmodus. Das Vorhersehbare ist zunehmend das Unvorhersehbare geworden. Sowohl gesellschaftliche als auch – damit verbunden – individuelle Krisen nehmen nachweislich zu. Krisen führen dazu, dass Ängste wachsen, dass sich viele Menschen ohnmächtig fühlen und sich in ihre eigene Gedankenwelt zurückziehen.

Mit Krisen einher geht ein weiteres Phänomen: Je größer unsere Angst, desto ablehnender stehen sich Sichtweisen gegenüber; der Austausch von Argumenten wird lästig, sicher fühlt man sich nur noch unter Gleichgesinnten. Das ist menschlich – und zugleich ist es Gift für die Demokratie. Denn Demokratie lebt gerade durch Toleranz, ja sogar durch das bewusste Kultivieren von Heterogenität.

Oft erinnere ich mich – gerade seit dem vergangenen Jahr – an meine persönlichen Erfahrungen während der Oderflut 1997. Damals absolvierte ich meinen Wehrdienst, als der Ruf nach Unterstützung kam. Gemeinsam mit Kameraden machten wir uns auf den Weg ins Katastrophengebiet. Tage- und nächtelang wuchteten wir Sandsäcke. Ich weiß noch, wie kräftezehrend diese Tätigkeit war. Aber ich weiß auch, dass die gemeinsame Anstrengung etwas im positiven Sinne mit uns machte. Kameraden aus allen Ecken Deutschlands und aus unterschiedlichen Milieus rauften sich zusammen, zogen an einem Strang. Aus einem bunten Haufen wurde eine eingeschworene Mannschaft, die gemeinsam für eine Sache eintrat und dafür alles gab.

Am Anfang nahm ich den Wehrdienst als eine Pflichtübung an, die ich schnell abhaken wollte. Doch spätestens mit diesem Einsatz änderte sich auch meine Einstellung. Ich habe in dieser Zeit zum ersten Mal wirklich am eigenen Leib erfahren, wie wichtig, ja überlebensnotwendig es für unsere Gesellschaft ist, dass man sich unterhakt. Ich habe gelernt, was Solidarität, Gemeinschaft und Zusammenhalt bedeuten. Und ich kann heute mit Sicherheit sagen, dass diese Phase mit jedem von uns etwas gemacht hat: Sie hat uns für das Leben stärker, aufgeschlossener und auch dankbarer gemacht. Und noch etwas: Ich habe in dieser Zeit vielleicht zum ersten Mal wirklich begriffen, wie sinnstiftend es ist, sich nicht nur mit Worten, sondern durch das eigene Tun für andere Menschen einzusetzen. Das treibt mich bis heute an. Und auch wenn das alles kaum vergleichbar ist mit dem derzeitigen Leid in der Ukraine, so sehen wir doch gerade dort gleichzeitig sehr eindrücklich, welche Kräfte Zusammenhalt freisetzt.

 

Sich den Fliehkräften entgegenstellen

 

Fakt ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der zunehmend Fliehkräfte wirken. Die Digitalisierung mit ihren neuen Formen der Kommunikation führt zu neuen Formen der Lebensführung. Sie ermöglicht Kontakte über große Distanzen hinweg, sie macht die Welt zu einem Dorf. Das schafft völlig neue Verbindungen und auch unfassbare Chancen, die wir dringend nutzen müssen, um den massiven globalen Herausforderungen wie Klimawandel oder Desinformation zu begegnen. Aber die Digitalisierung verführt gleichzeitig zu einem physischen Rückzug in die eigenen vier Wände und – damit einhergehend – eigene Gedankenwelten. Das Tor zur Welt öffnet sich nur auf unseren Wunsch – und nur für diejenigen, denen wir Zutritt gewähren. Dadurch nehmen Offenheit und Toleranz gegenüber anderen Meinungen ab. Der Austausch von Argumenten wird vielen lästig. Am Ende tauschen wir uns nur noch dort aus, wo wir uns in unserer eigenen Meinung bestärkt sehen. Andere Lebenswirklichkeiten blenden wir aus und gehen in die Falle: Wir glauben, da, wo wir sind, gebe es Wirklichkeit und Wahrheit. Das aber trennt uns voneinander.

Besonders dann, wenn unsere Wirklichkeiten immer pluralistischer werden. Schon die Flüchtlingskrise 2015 hat hierzu massiv beigetragen. Das kann von Wert sein, ist jedoch für eine Gesellschaft nicht nur bereichernd. Denn wo Menschen mit unterschiedlichen Werten und Lebensvorstellungen zusammenleben, lassen Bindekräfte nach. Konflikte treten auf.

 

Ein Dienst für die Gesellschaft

 

Was wir deshalb benötigen, ist ein gemeinsames Fundament, das die Gesellschaft trägt und Vertrauen schafft. Letzteres ist übrigens auch Grundvoraussetzung für einen leistungsfähigen Sozialstaat. Aber wie lässt sich ein solches Fundament aufbauen? Wie kann eine pluralistischer werdende Gesellschaft immer wieder Gemeinsamkeiten finden und Bindekräfte entfalten?

Der Schlüssel sind für mich Kräfte, die sich entfalten, wenn Menschen ins Tun kommen, wenn sie neue Herausforderungen annehmen, wenn sie ihre bisherige Perspektive verlassen und Verständnis für die Lebenswirklichkeit anderer entwickeln. Daher plädiere ich für die Einführung eines allgemeinen, verpflichtenden Gesellschaftsjahres für Schulabgängerinnen und -abgänger, das beispielsweise bei der Bundeswehr, beim Technischen Hilfswerk, bei der Feuerwehr, im Pflege- und Sozialbereich oder bei Vereinen abgeleistet wird. Eine solche Zeit bietet die Chance, junge Menschen an unsere Gesellschaft und unseren Staat mit ihren vielfältigen Freiheiten, Chancen und Möglichkeiten in besonderer Weise heranzuführen und dabei auch unsere jeweilige Verantwortung zu verdeutlichen.

 

Eintauchen in andere Welten

 

Jungen Menschen können während dieser Dienstzeit Wissen und Erfahrung im gesellschaftlichen, politischen, sozialen und praktischen Bereich vermittelt werden, die nicht theoretisch erlernt werden können, sondern nur praktisch erfahrbar sind.

Gerade mit Blick auf den Wert und den Zusammenhalt der Europäischen Union befürworte ich dabei ausdrücklich, dass der Dienst auch im europäischen Ausland abgeleistet werden kann. Perspektivisch sollten wir im Übrigen auch ein europäisches Gesellschaftsjahr in den Blick nehmen und eine Debatte darüber nicht scheuen.

Praktische Erfahrungen dieser Art sammeln hierzulande jetzt schon zahlreiche junge Menschen, die sich für ein Ehrenamt in ihrer Freizeit oder ein Freiwilliges Soziales Jahr entscheiden. Wer einen solchen Dienst absolviert, schaut nicht nur über den eigenen Tellerrand, sondern erwirbt zugleich ein hohes Maß an Sozialkompetenz. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2020 kommt sogar zu dem Schluss: Eine gute Einbindung in die breite Gesellschaft erhöht die Resilienz bei der Bewältigung von Krisen und besonderen Herausforderungen.

Ich bin fest davon überzeugt: Ein allgemeines Gesellschaftsjahr für junge Menschen wäre auch ein kraftvolles Instrument, um der zunehmenden Anonymität und Polarisierung entgegenzuwirken. Wir würden als Staat zeigen, für welche Kultur und welches Miteinander wir stehen. Wir würden damit entscheidende Weichen stellen für sozialen Frieden, Toleranz, Sinnstiftung und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir würden als Staat wieder verdeutlichen, dass sich unsere Bürgerpflichten in einer modernen Gesellschaft nicht darin erschöpfen, Steuern zu zahlen und Gesetze einzuhalten. Wir würden klarmachen, dass unser Staat keine Bestellplattform ist, sondern dass unser demokratisches Gemeinwesen auf das Engagement aller angewiesen ist. Junge Menschen müssen sich ausprobieren, eigene Grenzen erfahren, bewusst in Situationen hineingehen, die sie bisher nicht kannten, neue Fähigkeiten entdecken und die eigene Persönlichkeit entwickeln. Schule kann das nur in einem gewissen Rahmen leisten. Im praktischen Tun jedoch übernehmen wir Verantwortung für uns und die uns anvertrauten Aufgaben, werden dadurch selbstständiger und lernen uns besser kennen. Im Zentrum steht dabei die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Wer beiträgt zum Wohlergehen anderer, erlebt den eigenen Wert für das Leben anderer. Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen die positiven Effekte dieser Form der Selbstwirksamkeit. Dabei zeigt sich, dass selbstwirksame Menschen gesünder, aktiver und erfolgreicher sind als andere.

Oft habe ich in den vergangenen Wochen gehört, junge Menschen hätten durch die Corona-Pandemie genügend Lasten geschultert. Sie dürften in keine weitere Pflicht genommen werden, sondern müssten nun dringend in ihre Freiheit entlassen werden. Bis hierhin gehe ich uneingeschränkt mit: Die Pandemie-Jahre waren eine unverhältnismäßige Zumutung – insbesondere für Kinder und Jugendliche. Es ist gerade in ihrem Sinn dringend notwendig, die Lehren aus den hinter uns liegenden Jahren zu ziehen und pandemische Maßnahmen zum Schutz von Gesundheit künftig viel stärker ganzheitlich auszulegen.

Ich glaube aber eben nicht daran, dass unbedingte Individualität und Unabhängigkeit uns auf Dauer ein zufriedeneres Leben und eine zukunftsfähigere Gesellschaft bescheren. Ein Gesellschaftsjahr ist weder eine Strafe, noch handelt es sich um Zwangsarbeit. Frankreich hat mit dem Service Nationale eine allgemeine Dienstpflicht eingeführt. Zahlreiche europäische Länder halten an der Wehrpflicht fest oder haben sie wieder eingeführt. Ein Gesellschaftsjahr setzt den schulischen Bildungsweg auf der Erfahrungsebene fort, um auf diese Weise zu mehr Gemeinschaftssinn, sozialer Kompetenz und eigener innerer Stabilität beizutragen.

 

Freiwilligkeit ist keine Alternative

 

Der Vorteil eines allgemeinen, verpflichtenden gegenüber einem freiwilligen Gesellschaftsjahr besteht darin, dass wir nur so auch diejenigen Jugendlichen erreichen können, die von einem solchem Dienst besonders profitieren könnten.

Etwa junge Menschen, die sich wegen ihres sozialen Umfeldes oder auch aufgrund ihres Migrationshintergrundes ausgeschlossen fühlen und mit unserer Gesellschaft hadern. Mit einem freiwilligen Dienst hingegen erreichen wir eher diejenigen, die längst wissen, dass sie durch ihr Tun einen Wert schaffen. Wir müssen jedoch gerade auch diejenigen erreichen, die genau das noch nicht wissen. Als Volkswirt nehme ich die Bedenken meiner Juristenkollegen sehr ernst.

Klar ist: Eine allgemeine Dienstpflicht wäre nur durch eine Grundgesetzänderung umsetzbar. Dabei steht unser freiheitliches Menschenbild für mich nicht infrage. Jedoch bedeutet Freiheit für mich mehr als individuelle Freizügigkeit. Die Freiheit des Einzelnen können wir auf Dauer nur im Rahmen von gesellschaftlichem Frieden und demokratischen Werten gewährleisten. Beidem kann ein allgemeines Gesellschaftsjahr dienen. Davon bin ich überzeugt.

 

Carsten Linnemann, geboren 1977 in Paderborn, seit 2009 Mitglied der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, seit 2013 Mitglied des CDU-Bundesvorstands, seit 2022 stellvertretender Bundesvorsitzender.

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