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Zum Profil der türkischen Regierungspartei

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Als die AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) 2002 mit 34 Prozent relativ überraschend die Regierungsmehrheit gewann, war inhaltlich noch wenig über die Partei bekannt. Erst im Jahr zuvor gegründet, gab es über ihre politische Identität zunächst zahlreiche Spekulationen. Besonders Anhänger der wichtigsten Oppositionspartei CHP (Cumhuriyet Halk Partisi, „Republikanische Volkspartei“) und das Militär wiesen auf die islamistische Vergangenheit von AKP-Mitgliedern hin.1 Andererseits hofften sowohl Liberale im Land als auch ausländische Partner der Türkei, dass die AKP ihre Versprechen einlösen und das Land stärker demokratisieren würde. Nun, knapp vierzehn Jahre später, hat sich die Wahrnehmung deutlich geändert. Sowohl Liberale als auch viele religiöse und ethnische Minderheiten im Land zeigen sich enttäuscht, im Ausland werden Verstöße gegen die Meinungs- und Pressefreiheit kritisiert, aber im Inneren nimmt die Kritik an einem wachsenden autoritäreren Klima zu. Zudem muss sich die AKP mit Korruptionsvorwürfen auseinandersetzen, die selbst hohe Regierungskreise betreffen. Andererseits stellt die AKP weiterhin unangefochten die Regierung und konnte bei den Wahlen im November 2015 mit knapp fünfzig Prozent sogar das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte einholen.

Seit 2002 ist die AKP ununterbrochen an der Macht, überwiegend in Alleinregierung. Anders als andere türkische Parteien ist sie darüber hinaus in allen Regionen des Landes erfolgreich und überwindet geografische und ethnische Grenzen. Zudem zieht sie Wähler aus allen Schichten an.2 Der Erfolg der AKP steht – besonders in den frühen Jahren – im Zusammenhang mit den Regierungskrisen der 1990er-Jahre sowie der einschneidenden Finanzkrise 2001. Die Partei erreichte in den ersten Regierungsjahren ein starkes Wirtschaftswachstum – befördert durch eine Öffnung gegenüber ausländischen Märkten, durch Einwerbung ausländischen Kapitals sowie umfangreiche Privatisierungen und Liberalisierungen. Zustimmung von weiten Teilen der Bevölkerung erhielt die AKP vor allem wegen der Senkung der Inflation, der strukturellen Reform des Gesundheitssektors und des Ausbau des staatlichen Wohnungsbaus.

 

Was heißt „konservative Demokratie“?

Ein Charakteristikum der AKP ist ihre flexible Ideologie der „Konservativen Demokratie“ (muhafazakar demokrasi). Die Tatsache, dass die AKP ihre politischen Grundsätze erst nach dem Wahlerfolg von 2002 formulierte, ist Ausdruck eines pragmatischen Ansatzes. Dies wirft die Frage auf, ob sich die inneren Überzeugungen erst langsam verdichtet haben oder ob „Konservative Demokratie“ ein gewähltes „Label“ zur Außendarstellung ist, das möglicherweise den Vorwurf des Islamismus entkräften soll. Gerade in den ersten Jahren nach der Wahl investierte die AKP viel Energie in die Entwicklung und Definition des Begriffes, so etwa im Rahmen einer großen Konferenz, des Internationalen Symposiums zu Konservatismus und Demokratie (Uluslararası Muhafazakarlık ve Demokrasi Sempozyumu), sowie mit der Publikation AK Parti ve Muhafazakar Demokrasi von Yalçın Akdoğan, einem politischen Berater Erdoğans. Doch das Konzept bleibt unklar, und auch Äußerungen der Parteispitze tragen nicht dazu bei, Klarheit zu schaffen. So definierte ein stellvertretender Parteivorsitzender die AKP als weder „rechts noch links und auch nicht als liberal“.3

Der damalige Parteivorsitzende Erdoğan bezeichnete politische Denkweisen als farbiges und multidimensionales Bild und erklärte, die AKP gehe „von Idee zu Idee, verfolgt die Entwicklungen in der Welt und schaut, was sich in das eigene Konzept integrieren lässt“.4 Somit entzieht sich die Partei einer abschließenden programmatischen Definition und betont stattdessen, ihr Konzept werde sich durch ihre Regierungspraxis erklären.5 Allerdings verdeutlicht gerade diese, etwa im Hinblick auf das Verhältnis zu den Kurden, merkliche Schwankungen und keine „gerade Linie“. In den letzten Jahren zeigte sich zudem, dass mit den Wahlerfolgen das Interesse der AKP an der Herausstellung ihrer inhaltlichen Orientierung gesunken ist. Inzwischen findet der Begriff „Konservative Demokratie“ kaum noch Erwähnung.

Dennoch lohnt es sich, dem Begriff „Konservative Demokratie“ nachzugehen. So soll der Bezug auf „Demokratie“ die Distanz zur wichtigsten Oppositionspartei CHP verdeutlichen. Wegen deren Nähe zu Militär und Staatsapparat in der Vergangenheit hält die AKP ihr eine „undemokratische“ Einstellung vor. Demnach habe die CHP über Jahrzehnte eine kemalistisch-laizistische Einheitskultur in Anlehnung an den Westen befördert und vor die Bedürfnisse des Volkes gestellt. Nach dieser Lesart betrachtet sich die AKP als konservative Partei, die stärker „türkische“ Interessen vertritt und mehr an den Bedürfnissen der einfachen Bürger ausgerichtet ist als an jenen der Eliten.

Zwar erlaubte die Bezeichnung „konservativ“ der AKP, auf ihre religiöse Identität zu verweisen, diese aber weniger stark in den Vordergrund zu stellen. Eine Reihe von Gründungsmitgliedern der AKP ist zuvor in islamistischen Parteien, die als staatsfeindlich verboten wurden, aktiv gewesen. So ist auch Erdoğans Partei mit dem Vorwurf konfrontiert worden, die Trennung von Religion und Staat aufheben zu wollen. Die Partei hat also ihre moderate Haltung bekräftigt, ohne ihre religiös geprägten Wähler zu verprellen. Diese Abkehr von einer „islamistischen“ zu einer „konservativ-demokratischen“ Identität war somit auch strategisch vorteilhaft. Zudem suggerierte das Adjektiv „konservativ“ auch für die internationalen Partner Stabilität. Gleichzeitig ließen ein weithin akzeptiertes Religionsverständnis und Traditionsverbundenheit die Möglichkeit zu, religiös untermauerte Forderungen zu erheben. Zudem machte der Begriff es der Partei möglich, sich sowohl in einem etablierten internationalen Konservatismusdiskurs zu verorten als auch die Nähe zu konservativen Parteien in der Türkei wie der Demokrat Partisi („Demokratische Partei“, 1946 bis 1961) und der Anavatan Partisi („Mutterlandspartei“, 1983 bis 2009) zu demonstrieren. Allerdings lässt sich die AKP nicht auf eine allein konservative Identität festschreiben, sondern bewahrt sich durch den Begriff „Konservative Demokratie“ einen inhaltlichen Spielraum.

 

Staatlich verordnete Religiosität?

Als ein weiteres Charakteristikum der AKP lässt sich trotz der wenig präzisen ideologischen Selbstzuordnung ein Fokus auf religiös geprägte Themen nennen. Während der ersten Jahre, als die AKP noch vorrangig an der Konsolidierung ihrer Macht interessiert war, näherte sie sich religiösen Themen, zu denen auch die Frage nach dem Umgang mit Kopftuch tragenden Studentinnen in den Universitäten gehörte, nur im Rahmen eines breiteren Pluralismus und  Menschenrechtsdiskurses, nicht jedoch in einem religiösen Kurs. Auch den Versuch von 2004, Ehebruch unter Strafe zu stellen, zog sie nach heftiger Kritik schnell zurück. Seit etwa zehn Jahren aber tritt sie deutlicher für die Bedürfnisse ihrer Kernwählerschaft ein. War sie bislang nur an der Öffnung von religiösen Freiräumen interessiert, drängt sich mehr und mehr der Eindruck „staatlich verordneter Religiosität“ auf. Seit 2010 dürfen auch Kopftuch tragende Studentinnen türkische Universitäten besuchen. Im Jahr 2012 wurde das Schulsystem durch die 4+4+4-Reform erneuert. Der Schulbesuch gliedert sich in je vier Jahre Grund-, Mittel- und Gymnasialstufe. Schüler können zeitliche Lücken zwischen den vier Jahresblöcken lassen. Es wurde Kritik laut, die Reform könne dazu beitragen, dass insbesondere Mädchen ihrer Schulpflicht nicht nachkommen könnten, sondern stattdessen zu häuslichen Pflichten herangezogen würden. Als problematisch betrachteten viele Kritiker, dass Schüler nun nach dem Grundschulblock, den sie im Alter von fünf bis acht Jahren besuchen, auf religiöse Schulen wechseln dürfen. Dies stärkt vor allem den Zweig der Vorbeter- und Prediger(İmam-Hatip)-Schulen, deren Absolvent auch Staatspräsident Erdoğan ist und deren Zahl unter der AKP überproportional gewachsen ist. 2014 erregte der Premierminister mit der Forderung Aufsehen, osmanisches Türkisch als Pflichtfach für alle Schulen einzuführen (bislang ist dies nur für İmam-Hatip-Schüler und Absolventen des Sozialwissenschaftlichen Zweiges zwingend).

Die Regierung betrachtet darüber hinaus den Genuss von Alkohol als störenden Faktor in ihrem Sozialkonzept. So hat sich unter der AKP-Regierung die Zahl der Lizenzen für Alkoholausschank stark verringert, seit 2013 ist der Alkoholverkauf nach 22 Uhr verboten, was vor allem für die kleinen Nachbarschaftskioske eine große Einnahmeneinbuße bedeutet. Kritiker monieren außerdem, dass Erdoğan sich in ihr Privatleben einmische: So wollte er Abtreibungen und Kaiserschnittgeburten verbieten, forderte Frauen auf, mindestens drei Kinder zu bekommen, und polemisierte gegen das Zusammenleben unterschiedlicher Geschlechter etwa in Studentenwohnheimen.

 

Betont bürgernah und flexibel

Allerdings gewinnt die AKP nicht nur Stimmen aus stark religiösen Bevölkerungsschichten allein, sondern landesweit auch weit darüber hinaus. Ihre flexible ideologische Positionierung macht es der Partei leicht, sich auf unterschiedliche lokale Kontexte einzustellen. Dabei gibt sich die AKP als Gegenentwurf zur „kemalistischen, elitären“ CHP betont „bürgernah“. Sie reagiert flexibel auf lokale Unterschiede und integriert sich in gewachsene soziale Strukturen, anstatt diese aufzubrechen, etwa in Gebieten mit starker Präsenz ethnischer Gruppen oder innertürkischer Migration (hemşehrilik). Dazu gehört auch die Organisation von Nachbarschaftszellen. Besonders Frauen und ihre informellen Netzwerke waren für Wohlfahrtsleistungen und politische Mobilisierung entscheidend. Bis heute orientiert sich die AKP an den Erfolgsmodellen von damals. Die Einbeziehung lokaler Eliten und religiöser Größen, aber auch klientelistische Verbindungen spielen eine wichtige Rolle. Auch andere Parteien versuchen, diese Instrumente zu nutzen, allerdings sind Oppositionsparteien wie CHP und MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, „Partei der Nationalistischen Bewegung“) als „Kemalisten“ oder „Nationalisten“ stärker ideologisch gebunden und können weniger flexibel auf lokale Machtverhältnisse reagieren. Diese flexible Praxis hat die AKP von einer ihrer Vorgängerparteien, der „Wohlfahrtspartei“, übernommen, die in den 1980er- und 1990er-Jahren eine neue Form der Stadtverwaltung begründet hat. Diese zeichnet sich durch hohe personelle Kontinuität und die „Professionalisierung“ von kommunalen Dienstleistungen (hizmet) wie Straßenbau, Kanalisation, Müllbeseitigung aus. Zudem machte sich die Wohlfahrtspartei einen Namen durch die Verteilung umfangreicher Sozialleistungen, die allerdings de facto von religiösen Stiftungen bereitgestellt wurden.

 

Perfekte innere Organisation

Als weiteres Charakteristikum der AKP lässt sich die effiziente innere Organisationsstruktur der Partei nennen. Dabei zeichnet eine strenge innerparteiliche Hierarchie keinesfalls nur die AKP aus, sondern ist allen türkischen Parteien gemeinsam. Dies ist ein Resultat der rigiden rechtlichen Situation, deren maßgebliche Quellen in der Verfassung (Artikel 67 bis 69), dem Parteiengesetz von 1983 und in jeweiligen Parteistatuten liegen. Diese rechtlichen Vorgaben konstituieren einen Parteivorsitzenden (parti başkanı/lideri), der, etwa im Vergleich zu seinem deutschen Pendant, sehr weitreichende Befugnisse hat.6 Er wird von der Parteiversammlung (büyük kongre) gewählt, allerdings übt er eine so starke Kontrolle über Mitgliedereintritte (auch durch „Massenbeitritte“), die Bestimmung von Delegierten (auf nationaler, Provinz- und Bezirksebene) und die Vergabe parteiinterner Posten oder Kandidaten für öffentliche Positionen aus, dass seine Wiederwahl oft reine Formsache ist. Damit ist der Parteivorsitzende (unterstützt durch seine engsten Mitarbeiter) in allen Parteien die absolut zentrale Figur. Auch wenn er auf Stimmungen in der Partei Rücksicht nimmt, so ist er von der lokalen und nationalen Parteiorganisation weitgehend unabhängig. Der Mangel an innerparteilichen Entscheidungsfindungs- und Mitsprachestrukturen bedingt, dass die politische Ausrichtung allein durch den Parteivorsitzenden bestimmt wird. Bemerkenswert ist, dass es Erdoğan auch als (de jure parteiloser) Staatspräsident de facto vermag, die AKP nach seinen Vorstellungen zu führen.

Die AKP ist noch stärker als andere türkische Parteien von Parteidisziplin geprägt – Kritik an der Parteiführung wird nie öffentlich gemacht. Das galt auch nach der relativen Wahlniederlage im Juni 2015, bei der die Partei nicht die selbst gesetzten Ziele erreichte. Zudem wird durch professionelles Marketing und ein einheitliches Auftreten, etwa durch die Verwendung politischer Symbolik und die einheitliche Gestaltung der jeweiligen Parteizentrale, eine starke „Marke“ kreiert. Auch in der Kommunikation mit dem Bürger wird nichts dem Zufall überlassen, vielmehr lernen Mitglieder in politischen Fortbildungsveranstaltungen, die unter anderem von der „AKP-Politikakademie“ angeboten werden, wie sich tragfähige Verbindungen zu potenziellen Wählern aufbauen lassen. Die lokale Flexibilität der AKP ist ein wichtiger Baustein ihres Erfolges. Die konkrete Nutzung dieser Flexibilität liegt aber fest in den Händen einer engen Führungsriege. Sie bestimmt auch die inhaltliche Ausrichtung der Partei, die sich in den vergangenen Jahren stärker in Richtung Autoritarismus, Religion und Nationalismus bewegt hat.


Charlotte Joppien, geboren 1981 in Köln, Islamwissenschaftlerin und Politische Anthropologin.


1 So waren zahlreiche der Gründungsmitglieder der AKP in einer oder mehreren islamistischen Parteien wie der Nationalen Ordnungspartei (1970 bis 1971, „Milli Nizam Partisi“), der Nationalen Heilspartei (1972 bis 1980, „Milli Selamet Partisi“), der Wohlfahrtspartei (1983 bis 1998, „Refah Partisi“), der Tugendpartei (1997 bis 2001, „Fazilet Partisi“) oder der Glückseligkeitspartei (2001 bis heute, „Saadet Partisi“) aktiv.
2 So ist die CHP überwiegend in der Ägäisregion und in einigen Istanbuler Bezirken, die HDP im überwiegend kurdisch besiedelter Südosten des Landes und (Migrationsbewegungen geschuldet) in einigen Istanbuler Bezirken, die ultranationalistische MHP im Schwarzmeerraum und in Zentralanatolien erfolgreich.
3 Dengir Mir Mehmet Fırat: Schlussvortrag auf dem Kongress zu Konservativer Demokratie, Istanbul (10. bis 11.01.2004).
4 So in seiner Rede auf dem Kongress zu Konservativer Demokratie, Istanbul (10. bis 11.01.2004) und in seiner Rede „Conservative Democracy and the Globalization of Freedom“ am American Enterprise Institute, 29.01.2004.
5 Parteiprogramm 2007, Einführung.
6 Er sitzt dem 50-köpfigen Zentralen Entscheidungskomitee („parti meclisi“) vor, welches sich monatlich trifft und über die Parteilinie sowie die Formierung bzw. Auflösung von Regierung oder Koalition entscheidet. Noch wichtiger aber ist seine Rolle im Exekutivkomitee („merkez yürütme kurulu“), einem Unterorgan des „parti meclisi“. Dieses besteht nur aus dem Führungszirkel der Partei, das heißt dem Parteivorsitzenden und seinen Stellvertretern, dem Generalsekretär sowie dem Parlamentspräsidenten und seinem Stellvertreter. Diese Gruppe bestimmt die tägliche Politik und Ausrichtung der Partei und kann die Parlamentskandidaten bestimmen.

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