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Die europäische Dimension der Innenpolitik

Der saarländische Landesminister für Finanzen und Europa über Grenzregionen als Laboratorien der europäischen Idee

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Am 1. Januar 2017 feierte das Saarland den 60. Jahrestag seines Beitritts zur Bundesrepublik. Können Sie für uns dieses Ereignis historisch einordnen?

Stephan Toscani: Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte das Saarland einen Sonderstatus – zum Beispiel mit französischer Währung, französischer Sozialgesetzgebung, französischer Leitung der Montanindustrie. 1952 schlug der französische Außenminister Robert Schuman eine Europäisierung des Saarlandes vor, die dann in die Form des Saar-Statuts gekleidet wurde. Die außenpolitische Vertretung sollte bei einem Kommissar der Westeuropäischen Union liegen; wirtschaftlich sollte das Saarland weiter an Frankreich angebunden werden – bei gleichzeitiger Autonomie in allen anderen Bereichen der Politik.

Beim Referendum im Oktober 1955 votierten 67,7 Prozent der Saarbevölkerung gegen das Statut. Das Ergebnis führte zum Vertrag von Luxemburg – der außenpolitischen Grundlage dafür, dass das Saarland zum 1. Januar 1957 der Bundesrepublik Deutschland beitreten konnte.

In den deutsch-französischen Verhandlungen und im Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik wurde eine „europäische Dimension“ von Innenpolitik deutlich, die zum einen die Grundlage für die weitere europäische Einigung bildete. Zum anderen war die „kleine Wiedervereinigung“ im Westen Vorbild für die Wiedervereinigung im Osten. Artikel 23 des Grundgesetzes kam also nicht erst 1990, sondern viel früher beim Beitritt des Saarlandes zum ersten Mal zur Anwendung.

Sie haben die Rolle des Saarlandes als die einer „Brücke zwischen Frankreich und Deutschland“ bezeichnet. Dafür spricht also nicht allein die geografische Lage?

Stephan Toscani: Unser Weg in die Bundesrepublik Deutschland war nur möglich, weil die Franzosen diese „kleine Wiedervereinigung“ mit Großherzigkeit und der Bereitschaft zur Aussöhnung begleitet haben. Wir Saarländer empfinden deshalb eine besondere Verantwortung, einen besonderen Auftrag für die deutsch-französische Freundschaft.

Im Saarland gibt es viele deutschfranzösische Institutionen, wie die Deutsch-Französische Hochschule, das Deutsch-Französische Sekretariat für den Austausch in der beruflichen Bildung und ein Büro des Deutsch-Französischen Jugendwerks. Und: Im Saarland leben rund 10.000 Französinnen und Franzosen, die sich sehr aktiv am gesellschaftlichen Leben beteiligen.

Die Bürgerinnen und Bürger des Saarlandes leben die deutsch-französische Freundschaft nicht zuletzt in den zahlreichen Partnerschaften zwischen Kommunen. Die regelmäßigen gegenseitigen Besuche von Verwaltungen und Vereinen festigen die Freundschaft und das Verständnis füreinander.

In keiner anderen Region Deutschlands gibt es bereits in den Kindergärten und Grundschulen so viele Angebote zum Erlernen der französischen Sprache. Aktuell haben rund 200 von 460 saarländischen Kitas ein zweisprachiges Konzept. An 47 der insgesamt 162 Grundschulen erfolgt Französischunterricht bereits ab Klassenstufe eins.

Nach den Erschütterungen des Brexits und der US-Wahl blickt mancher mit gemischten Gefühlen auf das Jahr 2017. Wie ist die Stimmung im Saarland im Hinblick auf die französische Präsidentschaftswahl, und wie sehr tangiert die Menschen hier das Problem des Populismus?

Stephan Toscani: Populistische Strömungen in den Staaten der Europäischen Union stellen eine Gefahr für die Resultate der europäischen Einigung und für die europäische Solidarität dar – bis zu den zentralen Grundpfeilern: den offenen Binnengrenzen und der Freizügigkeit. Wir in den Grenzregionen an den Nahtstellen zwischen den Mitgliedstaaten müssen uns dadurch besonders herausgefordert fühlen – schließlich würde die Einschränkung der Kooperationsmöglichkeiten gerade auch die Vision eines „Europas im Kleinen“ infrage stellen. Insofern blicken viele Saarländerinnen und Saarländer mit Sorge auf die Erfolge europafeindlicher Strömungen, besonders in unserem Nachbarland.

Wie haben die Saarländerinnen und Saarländer auf den Brexit reagiert?

Stephan Toscani: Die Menschen im Saarland sind besorgt über den Brexit. Wir hier „leben“ Europa ja Tag für Tag – in Politik und Wirtschaft, aber auch in der Zivilgesellschaft. Somit trifft diese Entscheidung jeden. Als Demokrat muss man die demokratische Entscheidung des britischen Volkes zwar akzeptieren, darf sie aber dennoch sehr bedauern. Diese Entscheidung ist schlecht für Deutschland und für das Saarland, aber auch für die gesamte Europäische Union. Mit ihr ist eine negative Signalwirkung für den gesamten europäischen Zusammenhalt verbunden. Nur gemeinsam können wir die großen Fragen unserer Zeit meistern. Aber auch speziell für das Saarland befürchte ich negative Auswirkungen – nicht zuletzt in der Wirtschaft. Denn das Vereinigte Königreich ist neben Frankreich unser wichtigster Außenhandelspartner.

Für mich ist die Entwicklung nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Frankreich ein Impuls, sich stärker mit den Ängsten vor der Globalisierung auseinanderzusetzen – auch in Deutschland.

Hat sich Ihrem Eindruck nach infolge des britischen Referendums die Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland verändert?

Stephan Toscani: Das deutsch-französische Tandem spielt als Impulsgeber eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, die EU zusammenzuhalten. Die deutschfranzösische Freundschaft hat sich auch in der Vergangenheit nicht ohne Brüche entwickelt. Interessanterweise war es immer dann, wenn es internationale Verwerfungen gab, so, dass der deutsch-französische Motor ansprang und europäische Initiativen entwickelt wurden, die Europa insgesamt nach vorn gebracht haben.

Unmittelbar nach dem britischen Referendum haben Angela Merkel und François Hollande reagiert und mit der gemeinsamen „Agenda von Bratislava“ für eine Priorisierung der Themen Sicherheit und Verteidigung in der Union plädiert. Ein gemeinsamer Vorschlag zur engeren Vernetzung der Streitkräfte der europäischen Mitgliedstaaten wurde präsentiert, der seither kontinuierlich vorangetrieben wird.

Sie haben das Ziel, das Saarland zum ersten zweisprachigen Bundesland zu machen. Was ist Ihre Intention dabei?

Stephan Toscani: Ziel unserer Frankreichstrategie ist es, das Saarland innerhalb einer Generation zu einer leistungsfähigen multilingualen Region deutschfranzösischer Prägung zu entwickeln. Französisch soll dann als Verkehrssprache neben die Mutter und Amtssprache Deutsch treten. Das Saarland würde dadurch zum einzigen mehrsprachigen Bundesland, ganz nach dem Motto: mehr Sprachen – mehr Chancen.

Die Frankreichstrategie bezieht sich nicht auf eine Legislaturperiode, sondern zielt auf die Gegenwart und Zukunft einer ganzen Generation und die Gegenwart und Zukunft des Saarlandes. Leitbild ist das Saarland als Brücke zwischen Deutschland und Frankreich – in Politik, Wirtschaft und Kultur. Und sie ist nicht allein ein Projekt des Landes: Wirtschaft, Hochschulen und Zivilgesellschaft bringen als „Partner der Frankreichstrategie“ ihre Vorstellungen und Beiträge ein. Das Arbeitsprogramm der Landesregierung wurde zunächst in einer sogenannten Feuille de Route für die Jahre 2015/16 festgehalten. Dort waren wichtige Maßnahmen aus Bildung, Wirtschaft und Sicherheit verankert. Wir haben den deutsch-französischen Berufsschulzweig Automobil am Berufsbildungszentrum St. Ingbert eröffnet, die bundesweit einmalige Ausbildung für Grundschullehrkräfte mit verbindlichem Schwerpunktfach Französisch an der Universität des Saarlandes gestartet, eine grenzüberschreitende Ausbildung zwischen dem Saarland und Lothringen eingeführt und die Wirtschafts- und Wissenschaftsbeziehungen mit französischen Regionen wie dem Elsass, Burgund und der Normandie intensiviert. Wichtig ist auch, dass wir wieder ein Büro in Paris haben und in Brüssel eine Vertretung unter einem gemeinsamen Dach mit der französischen Region Grand Est.

Die Feuille de Route II für die weitere Umsetzung der Frankreichstrategie greift neue Themengebiete auf und zielt darauf ab, die guten Erfahrungen und Ergebnisse bei der Umsetzung für die Jahre 2015 und 2016 zu sichern und weiterzuentwickeln. Ein konkretes Beispiel ist das Projekt Triprimar: Auf der Basis des zum Wintersemester 2015/16 eingerichteten Studiengangs „Primarstufe“ mit Schwerpunktfach Französisch soll bis zum Wintersemester 2018/19 ein trinationaler bilingualer Studiengang eingeführt werden.

Mit diesem Studiengang sollen die Studierenden die Lehrbefähigung nicht nur für deutsche Grundschulen, sondern auch für Grundschulen in Luxemburg und Lothringen erwerben.

Nach dem Erfolg des Jahres 2015 soll ein zweiter „Runder Tisch Frankreichstrategie“ einberufen werden, in dessen Rahmen die „Partner der Frankreichstrategie“ ihre Beiträge vorstellen und in die Frankreichstrategie einbringen können.

Vom Bund wurde das Saarland jüngst finanziell überproportional bedacht: Von 3,5 Milliarden Euro Bundeszuschüssen für finanzschwache Kommunen erhalten saarländische Gemeinden aktuell 75,3 Millionen Euro. Gibt es Konzepte oder Anregungen dazu, wie diese Mittel, etwa in Projekten der sehr grenznahen Kommunen, auch dem europäischen Zusammenwachsen zugutekommen könnten?

Stephan Toscani: Das „Kommunalinvestitionsförderungsgesetz“ des Bundes stärkt die Investitionstätigkeit finanzschwacher Gemeinden und Gemeindeverbände. Dabei ist es ebenso sachgerecht wie erfreulich, dass die saarländischen Kommunen überproportional davon profitieren.

Der europäische Aspekt bildet zwar kein eigenständiges Förderziel. Gleichwohl würde ich es sehr begrüßen, wenn einzelne Fördermaßnahmen auch das europäische Zusammenwachsen fördern. Die Auswahl der Projekte liegt aber in der Entscheidungskompetenz der jeweiligen Kommune.

Das Saarland sei – so heißt es auf der Homepage „60 Jahre Saarland“ – das „europäischste Bundesland“. Sehen Sie sich da in der Tradition des früheren Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann, der das Saarland zum ersten

„europäischen Territorium“ machen und in Saarbrücken alle europäischen Institutionen ansiedeln wollte? Was ist Ihre heutige – realitätsgefilterte – Europavision?

Stephan Toscani: Das Saarland war und ist Teil der Bundesrepublik Deutschland, aber ich bin überzeugt, dass das Saarland als Grenzregion eine europäische Rolle und eine ganz besondere Verantwortung für das deutsch-französische Verhältnis hat. Die vielen Nationalitäten, die hier zusammenleben, die Vielzahl deutsch-französischer Einrichtungen und die Vielfalt europäischer Expertise tragen zum großen Ganzen Europa bei. Deshalb haben wir die Frankreichstrategie als Mehrsprachigkeitsstrategie auf den Weg gebracht – um gemeinsam mit unseren Nachbarregionen diesseits und jenseits der Grenze unserem Anspruch als europäischer Referenzregion gerecht zu werden. Die Saarländerinnen und Saarländer haben das Beste aus der historischen Entwicklung gemacht, für das Saarland, für die deutsch-französischen Beziehungen und für das Zusammenwachsen Europas.

Die Fragen stellte Rita Anna Tüpper am 8. Dezember 2016.

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Stephan Toscani, geboren 1967 in Saarbrücken, von 2003 bis 2009 Generalsekretär der CDU Saar, seit 2012 saarländischer Landesminister für Finanzen und Europa.

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