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Vierzig Jahre in Europas politischer Mitte

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In diesem Jahr feiert die Europäische Volkspartei (EVP) ihr vierzigjähriges Bestehen. Das Jubiläum erinnert an die Gründungsveranstaltung einer europäischen Partei, deren Vorgängerorganisationen und deren führende Köpfe bis dahin bereits über zwanzig Jahre, seit Beginn der Europäischen Integration, am europäischen Einigungsprojekt mitwirkten. Am 8. Juli 1976 wurde einer von ihnen, Leo Tindemans, der belgische Ministerpräsident, in Luxemburg zum ersten Vorsitzenden der Europäischen Volkspartei gewählt. Als europapolitischer Sprecher der Jungen Union Niedersachsen war es mir vergönnt, den Moment der Gründung der EVP im sechsten Stockwerk des Schuman-Gebäudes mitzuerleben. Diese Erfahrung sollte dann auch den Beginn meines politischen Wirkens auf europäischer Ebene bedeuten. Drei Jahre später – 1979 – wurde ich bei den ersten Wahlen als Abgeordneter ins Europäische Parlament gewählt und war fortan bis zu meinem Ausscheiden 2014 Mitglied der EVP-Fraktion. Tiefe Dankbarkeit erfüllt mich für diese Zeit. Am 8. Juli 1976 wäre es für mich unvorstellbar gewesen, dass ich von 2007 bis 2009 der zwölfte Präsident des direkt gewählten Europäischen Parlaments werden sollte.

Dankbarkeit besonders dafür, teilzuhaben an dem langen Weg, den die Europäer zurückgelegt haben: von einem Kontinent der Feindschaft zu einer Europäischen Union, die sich gründet auf gleiche Werte und Prinzipien. Dass heute über 500 Millionen Menschen aus 28 Ländern auf der Grundlage der „Einheit in Vielfalt“ zusammenleben, ist eine einzigartige Errungenschaft. Die Europäische Volkspartei hat mit ihren Vertretern maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen. Und auch wenn die Idee einer europaweiten christdemokratischen Partei weitaus älter ist, als ein vierzigjähriges Jubiläum den Anschein gibt, sollte dieser Jahrestag zum Anlass genommen werden, um sich auf die Grundlagen der heutigen bürgerlichen Parteienfamilie zu besinnen. Denn wie die CDU in Deutschland vereinigt die EVP christliche, soziale, liberale und konservative Überzeugungen.

 

„Nicht Staaten vereinigen wir, sondern Menschen“

Der Rückblick auf die Geschichte zeigt, dass es gerade in ihrem christlichen Glauben verbundene Politiker wie Robert Schuman, Jean Monnet, Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer waren, die nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs begannen, ein gemeinsames Europa aufzubauen. Ihr großes Anliegen war es, die lange verfeindeten Nationen zu versöhnen und weitere Kriege durch eine enge Verflechtung unmöglich zu machen. Bei ihren Visionen stand dabei stets der Mensch im Vordergrund. Diese Sichtweise spiegelt sich in dem Satz Jean Monnets: „Nicht Staaten vereinigen wir, sondern Menschen.“ Der Fokus auf den Menschen und dessen Würde, nicht auf den Staat, ist eine Grundlage der Christdemokratie, die noch heute das Profil der Europäischen Volkspartei prägt.

Als Europäer und Christdemokraten können wir daher stolz sein, dass das Versöhnungs- und Einigungswerk Europas mit diesem Leitgedanken begann. Dabei wussten alle – und das gilt auch heute: Die europäische Einigung muss immer wieder neu errungen werden. Konrad Adenauer hat es in der letzten außenpolitischen Rede seines Lebens am 16. Februar 1967 in Madrid treffend gesagt: „In unserer Epoche dreht sich das Rad der Geschichte mit ungeheurer Schnelligkeit. Wenn der politische Einfluss der europäischen Länder weiterbestehen soll, muss gehandelt werden. Wenn nicht gleich die bestmögliche Lösung erreicht werden kann, so muss man eben die zweit- oder drittbeste nehmen. Wenn nicht alle mittun, dann sollen die handeln, die dazu bereit sind.“ Diese Worte Konrad Adenauers haben auch heute noch uneingeschränkte Gültigkeit. Und wir dürfen niemals vergessen: Wie alles Menschliche bleibt auch die europäische Einigung unvollkommen, ja gefährdet. Sie erfordert zu jeder Zeit Einsatz und Anstrengungen. Der Glaube daran, es bleibe oder werde schon alles gut, reicht nicht.

 

Förderer christlich-demokratischer Ideen

Die ersten direkten Wahlen des Europäischen Parlaments waren es dann, die den Anreiz zur Gründung der Europäischen Volkspartei gaben: Denn der damals lose existierende Dachverband christdemokratischer Parteien, die „Europäische Union Christlicher Demokraten“ (EUCD), war den Anforderungen einer europäischen Parlamentspartei nicht gewachsen. Die neu gegründete EVP sollte demnach die Plattform für die parlamentarische Zusammenarbeit der in ihr organisierten nationalen Parteien sein – vor allem im Hinblick auf eine effiziente und geordnete Arbeit der Fraktion im Europäischen Parlament. Der Name „Europäische Volkspartei“ war dabei kein Zufall: Mit ihm wurde ein wesentlicher Bestandteil der künftigen Ausrichtung angezeigt, denn von Anfang an sollte die Integration von Parteien mit unterschiedlichen politischen Traditionen ermöglicht werden. Heute sind 75 Mitgliedsparteien aus vierzig Staaten in der EVP vertreten. Die Europäische Volkspartei hat sich somit seit ihrem Bestehen nicht nur zu einer Parlamentspartei innerhalb der Europäischen Union entwickelt, sondern tritt auf dem gesamten Kontinent als Förderer christdemokratischer Ideen auf. Insbesondere in den mittelosteuropäischen Staaten hat die Europäische Volkspartei eine entscheidende Rolle bei der Transformation und Modernisierung der Parteienlandschaften gespielt.

Fundament der Zusammenarbeit bürgerlicher Parteien in Europa ist die Christdemokratie. Sie wird in politischen Abhandlungen heute als Politik der Mitte, des Zentrums, bezeichnet. Nicht nur im philosophischen Sinne trifft diese Einordnung den Kern christdemokratischer Anliegen. Die Balance zwischen Freiheit und Verantwortung, wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Gerechtigkeit, Kirche und Staat, Ökonomie und Ökologie, Vergangenheit und Zukunft, Nation und Europa – in all diesen Spannungsverhältnissen, die unsere Gesellschaft prägen, bildet die Christdemokratie die Mitte politischer Möglichkeiten. Alternativen, die eine einseitige Entscheidung zugunsten einer dieser Varianten fordern, sind dem christdemokratischen Verständnis somit fremd. Als Christdemokraten fühlen wir daher ein tiefes Misstrauen gegen alle Formen des Radikalismus und Extremismus. Freiheit und Verantwortung sind die Grundlagen für die Gestaltung des Persönlichen, private Entfaltung und soziale Gerechtigkeit prägen die Soziale Marktwirtschaft, und Nation und Europa bilden die Grundlagen des Modells der europäischen Integration, die nicht dem Zentralismus, sondern dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet ist. Die Vorstellungen von Christdemokraten sind im Wesentlichen Modelle der Versöhnung und der Balance, die das allgemeine Interesse in der Gesellschaft zu ergründen suchen. Die politische Grundlage der Europäischen Volkspartei ist daher kein Zufall, sondern die logische Konsequenz unseres Denkens und unserer politischen Überzeugungen. Sie hat somit einen Weg genommen, der einerseits die Traditionen der Christdemokratie bewahrt, aber zugleich eine Öffnung hin zu säkularen Parteien der politischen Mitte ermöglichte. Auf diese Weise ist die Europäische Volkspartei die stärkste Kraft im Europäischen Parlament geworden und hat diese Position bereits mehrfach behauptet. Von 1999 bis 2007 durfte ich diese stärkste politische Kraft im Europäischen Parlament als ihr Vorsitzender führen.

 

Werte in den Kontext der Gegenwart stellen

Unsere politische und moralische Aufgabe für die Zukunft besteht nun darin, das Erbe unserer christlich-demokratischen Überzeugungen zu wahren und unseren Werten treu zu bleiben: der Einigung unseres Kontinents auf der Grundlage der Würde des Menschen, der Freiheit, des Friedens, der Demokratie, des Rechts sowie der Prinzipien von Solidarität und Subsidiarität. Im Zuge zunehmender Säkularisierung verringert sich die Stammwählerschaft christdemokratischer Parteien. Es gilt daher, die Werte unserer Parteienfamilie in den Kontext der heutigen Zeit zu stellen und sie auch gegenüber Kritikern unserer Politik entschlossen zu verteidigen. Wenn die Vertreter der Europäischen Volkspartei ihre Politik an diesen Grundwerten ausrichten, wird die EVP auch in Zukunft Europa entscheidend mitgestalten.

Die Zukunftsfähigkeit hängt jedoch auch von der Fähigkeit zur Anpassung an neue Herausforderungen ab. Dies war stets die Stärke der Europäischen Volkspartei, geht ihre Gründung doch bereits auf eine solche Notwendigkeit zurück. In den vergangenen Jahrzehnten hat sie zudem mehrere Zusammenschlüsse und Trennungen überstanden. Ein derart großes Bündnis mit unterschiedlichen politischen Parteien unterliegt einem ständigen natürlichen Wandel. Zukunftsfähigkeit heißt somit auch Handlungsfähigkeit in den eigenen Reihen. Die Europäische Volkspartei im 21. Jahrhundert muss daher in ihren Entscheidungsfindungen immer wieder Handlungsfähigkeit beweisen. Dies erfordert nicht zuletzt die Bereitschaft der Mitgliedsparteien, sich der gemeinsamen europäischen Sache zu verschreiben. Mitgliedschaften von Parteien, die sich gegen Zusammenarbeit und die Ideale der Europäischen Volkspartei wenden, darf es in der EVP nicht geben.

 

Mit Mut und Weitsicht umsetzen

Konrad Adenauer hat einmal gesagt, wenn die meisten Politiker nicht mehr daran glauben, dass ein Ziel erreichbar ist, dann begänne erst die richtige Arbeit. Dies ist auch meine Erfahrung. Die Wahrnehmung Konrad Adenauers gilt in ganz besonderer Weise für das europäische Einigungsprojekt und die Arbeit einer europäischen Parteienfamilie. Die europäische Politik hat heute die wohl größten Herausforderungen seit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im Jahre 1954 zu bewältigen. Die Fragen der Einwanderung und die Bekämpfung des Terrorismus sind dafür nur einige Beispiele. Wir dürfen dabei niemals vergessen, dass die Würde jedes einzelnen Menschen immer im Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns stehen muss. In der Bewahrung und Durchsetzung unserer Werte und Überzeugungen sind schließlich Mut und Weitsicht notwendig – innerhalb und außerhalb der Europäischen Volkspartei. Die kleinen Schritte sind dabei ebenso bedeutsam wie große Entscheidungen. Wichtig ist und bleibt, dass die Richtung stimmt: ein Europa der politischen Mitte, das sich auf Freiheit, Frieden und Einheit gründet.

 

Hans-Gert Pöttering, geboren 1945 in Bersenbrück, Mitglied des Europäischen Parlaments (1979–2014), Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion (1999–2007), Präsident des Europäischen Parlaments (2007–2009), Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.