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Über Freunde und Feinde des Liberalismus

Annelien de Dijn: Freedom. An Unruly History, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts/London 2020, 432 Seiten, 31,50 Euro. Kenneth Dyson: Conservative Liberalism, Ordo-liberalism, and the State. Disciplining Democracy and the Market, Oxford University Press, Oxford 2021, 591 Seiten, £ 110,00.

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Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter des Liberalismus, so die allgemeine Ansicht der Historiker. Obwohl der Liberalismus von Reaktionären und radikalen Demokraten unter Druck gesetzt wurde, seitdem er das Licht der Welt erblickt hatte, war er doch stark genug, dem Jahrhundert seinen Stempel aufzudrücken. Damals, so schrieb Wilhelm Röpke 1950 in Maß und Mitte, sei „Liberalismus“ etwas gewesen, „wozu man sich mit Stolz bekannte“. Nun aber sei es nicht leicht, „noch Länder zu finden, in denen das Wort ‚Liberalismus‘ seinen alten, vollen Klang behalten hat“. Immer mehr Menschen verbänden den Begriff jetzt mit „egoistischer Engherzigkeit, satter Bürgerlichkeit, sozialer Härte, der Unempfindlichkeit gegenüber den Geboten der Gemeinschaft, der Unmännlichkeit, zersetzender Asphaltkultur, geistiger Vergreisung und ödester Diesseitigkeit“.1 Röpke selbst lebte und arbeitete dafür, dieser Tendenz etwas entgegenzusetzen. Dabei wusste er, dass das Problem des Liberalismus, abgesehen von derlei negativen Zuschreibungen, auch darin bestand, dass es selbst unter Liberalen keine Einigkeit darüber gab, was Liberalismus eigentlich war oder sein sollte. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Was also ist Liberalismus? Angesichts der geschilderten Unübersichtlichkeit ist es kühn, eine auf das Wesentliche reduzierte Definition zu wagen. Aber versuchen wir es: Liberalismus ist eine Geisteshaltung, deren Vertreter danach streben, ein Höchstmaß an Freiheiten für das Individuum zu verwirklichen, ohne dabei die für das menschliche Zusammenleben notwendigen Ordnungsstrukturen zu zerstören. Je nach Strömung wird der eine oder andere Aspekt in den Vordergrund rücken.

Genau diesen Liberalismus nimmt die niederländische Ideenhistorikerin Annelien de Dijn in ihrem Buch Freedom. An Unruly History ins Visier. Es geht ihr um nicht weniger, als zu zeigen, dass der westliche, also liberale Freiheitsbegriff, in dessen Zentrum die Entfaltung des Individuums steht, eine Konstruktion von Demokratiefeinden sei. Dieser im Zeitalter der Französischen Revolution entstandene Freiheitsbegriff, der persönliche – oder bürgerliche – und politische Freiheiten unterscheide, habe sich an die Stelle eines älteren Freiheitsbegriffs gesetzt, der nicht die Unabhängigkeit der Person, sondern deren Teilhabe an der politischen Macht in den Vordergrund rücke.

 

Freiheit im Dienste der Herrschenden

 

Dieses Unterfangen ist einerseits beeindruckend, weil es de Dijn gelingt, auf relativ knappem Raum – anders, als sie meint, sind 403 Textseiten für ein solches Thema nicht besonders lang – eine Ideengeschichte des Freiheitsdenkens zu präsentieren, die vom fünften Jahrhundert vor Christus bis in die heutige Zeit reicht. Dabei zeigt sie eine breite Kenntnis der Stellungnahmen und Debatten über das Thema Freiheit und entwickelt eine stringente sowie in sich schlüssige Argumentation, ohne sie freilich in den politischen und sozialen Kontext der jeweiligen Epoche einzuordnen. Andererseits ist diese Darstellung der Geschichte der Freiheitsvorstellungen bei Weitem nicht so originell, wie die Stimmen auf dem Buchrücken behaupten.

De Dijn tut letztlich nichts anderes, als die Diskussionen über das nachzuvollziehen, was andere Autoren – wie etwa Quentin Skinner – als „republikanische Freiheit“ bezeichnen, also eine Freiheit, die rein politisch ist, das heißt, nur auf die Teilhabe an der Regierung zielt. De Dijn lässt keinen Zweifel daran, dass diese Vorstellung von Freiheit die „richtige“ sei, während die Verfechter der „modernen Freiheit“, die den Zugriff des Staates auf das Individuum begrenzen wollen, dies nur im Interesse der Privilegierten täten. Als einen der Ersten, die diese Haltung eingenommen hätten, betrachtet de Dijn Edmund Burke. Echte Freiheit brach sich aus ihrer Sicht in den Atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts Bahn, die sie im Sinne John Pococks als „last great act of the Renaissance“ versteht. Burke dagegen gehört für sie zu den Denkern, die diese, von ihr mit Demokratie nahezu gleichgesetzte Freiheit im Dienste der Herrschenden bekämpften. Mäßigung, Mitte und das Bemühen, Freiheit und Ordnung miteinander zu versöhnen, werden in dieser Perspektive zu einer antidemokratischen Strategie, deren Folgen de Dijn noch heute zu erkennen glaubt.

Doch diese Burke-Interpretation, die die Verfasserin ganz ohne den aktuellen Forschungsstand vorlegt, ist weder überraschend noch zutreffend. Burke ging es darum, der englischen Verfassung die Möglichkeit zur organischen Entwicklung zu erhalten – eine Strategie, die sich im 19. Jahrhundert in Großbritannien in beiden großen Parteien durchsetzte und eine Entwicklung des politischen Systems zu einer liberalen Demokratie im Rahmen der Monarchie ohne größere Brüche ermöglichte. Auch Alexis de Tocqueville hoffte auf eine solche Entwicklung, die in Frankreich nach der Großen Revolution freilich viel schlechteren Bedingungen unterlag als in Großbritannien: Sie scheiterte dort gleich mehrmals. De Dijn missversteht Tocqueville, wenn sie schreibt, im Gegensatz zu anderen Liberalen habe er die Demokratie aus vollem Herzen begrüßt. Er hielt die Entwicklung der westlichen Gesellschaften und Staaten zur Demokratie für unvermeidlich und wollte sie so gestalten, dass es nicht zu weiteren Verwerfungen kommen würde. Auch ihm ging es darum, Freiheit, Demokratie und Ordnung in ein lebensfähiges Verhältnis zu setzen, und dazu musste die Demokratie aus seiner Sicht in gemäßigte Bahnen gelenkt werden.

 

Konservativer Liberalismus

 

Kein Wunder, dass Tocqueville zu den Säulenheiligen jener Liberalen gehörte, die der britische Politikwissenschaftler Kenneth Dyson in seiner umfangreichen Studie Conservative Liberalism, Ordo­Liberalism, and the State untersucht. Versucht de Dijn zu beweisen, dass die Liberalen des 19. Jahrhunderts echte Freiheit zurückgedrängt hätten, indem sie die Demokratie angeblich bekämpften, führt Dyson das Gegenteil vor Augen. Er zeigt, wie konservative Liberale im 20. Jahrhundert um eine stabile, gleichermaßen liberale wie demokratische politische Ordnung rangen. Im Zentrum des Buches steht der deutsche Ordoliberalismus mit seinen wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Aber Dyson hat nicht einfach das hundertste Buch über den Ordoliberalismus geschrieben, sondern ordnet ihn – und das ist in dieser Breite neu – in den Zusammenhang eines konservativen Liberalismus ein, den er als ein europäisches und atlantisches Phänomen versteht. So werden klassische deutsche Ordoliberale wie Walter Eucken, Franz Böhm und Leonhard Miksch kontextualisiert und mit soziologischen Neoliberalen wie Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke oder eher technokratischen französischen Liberalen wie Louis Rougier und Jacques Rueff verglichen.

Für diese Liberalen war der Staat, anders als de Dijn es sieht, sicher keine Leerstelle. Aus der Krise des Liberalismus, nicht zuletzt des Wirtschaftsliberalismus, in den 1920er-Jahren zogen sie die Lehre, dass er von Grund auf erneuert werden müsse. Es gelingt Dyson, die Ähnlichkeiten im Denken von Ökonomen und Politikern aus verschiedenen europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten überzeugend vor Augen zu führen. Konservativ war der von ihnen vertretene Liberalismus, weil er den Ordnungsgedanken mit demjenigen der individuellen Freiheit in der Politik und Wirtschaft verband und auf außerhalb des Liberalismus liegende moralische Ressourcen zu seiner Sicherung zurückgriff. Die Religion und ein ebenso effizienter wie effektiver Staat spielten dabei eine wichtige Rolle.

Deshalb ist es überraschend, dass Dyson auch Vertreter der Österreichischen Schule wie Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises dem konservativen Liberalismus zuordnet. Denn sie gingen von anderen Prämissen aus und glaubten nicht an die Notwendigkeit, den Markt durch staatliche Interventionen einzuhegen. Das ist die eine inhaltliche Schwäche des Buches. Die andere liegt in der Herleitung des Konzepts des konservativen Liberalismus. Dyson widmet den Vorläufern der von ihm untersuchten Denker das gesamte zweite Kapitel seines Buches, geht dabei aber recht eklektisch vor. Zwar wird Tocqueville mehr oder weniger ausführlich betrachtet, aber François Guizot und die französischen Doktrinäre, ohne die Tocquevilles Denken nicht vorstellbar wäre, werden fast gar nicht erwähnt. Auch Burke, der der Ausgangspunkt der Entwicklung des konservativen Liberalismus in Großbritannien, Amerika und Europa war, wird nicht ausreichend behandelt. Lediglich in einem kurzen Absatz über David Camerons Reform der Conservative Party im Jahr 2005 taucht Burke als Stichwortgeber auf. Dafür wird der weniger wichtige Lord Acton ausgiebig betrachtet; ein Hinweis darauf, dass sich Dyson mitunter zu sehr von den Vorlieben Hayeks leiten lässt. Und schließlich wäre es wünschenswert gewesen, wenn Dyson auch die nationalliberalen Wurzeln des deutschen Ordoliberalismus diskutiert hätte.

Verglichen mit der großen Leistung, eine Gesamtdarstellung des Denkens konservativer Liberaler im 20. Jahrhundert versucht zu haben, sind das sicher nur Petitessen. Dyson hat einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des liberalen politischen Denkens geleistet, der nicht zuletzt für die CDU-Geschichtsschreibung von Bedeutung ist. Denn Dyson macht klar, dass die CDU in hohem Maße von der euroatlantischen politischen Strömung des konservativen Liberalismus geprägt wurde.

 

Selektive Quellenauswahl

 

Kenneth Dysons Buch ist die Arbeit eines Wissenschaftlers, dem es in erster Linie um die gedankliche Durchdringung eines geistig-politischen Phänomens geht. Gleichwohl wird in diesem Buch – gewissermaßen subkutan – auch eine politische Absicht deutlich: Es führt uns vor Augen, welche wichtigen Impulse die konservativen Liberalen, vor allem die deutschen Ordoliberalen, zur Stabilisierung der liberalen Demokratien und der Marktwirtschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegeben haben. Das ist zweifellos eine weniger plakative Botschaft als diejenige, die uns Annelien de Dijn in ihrem Buch präsentiert.

So beklagt sie zum Beispiel, dass der liberale amerikanische Journalist Fareed Zakaria nur die liberale Demokratie für legitim halte, weil sie dem Volkswillen Schranken auferlege, um die Freiheit zu bewahren. Darin, nämlich in der Furcht vor der „Tyrannei der Mehrheit“, sieht sie, wie sie auch in einem Interview mit der linken amerikanischen Zeitschrift The Nation sagt, „ein Gespenst, das von privilegierten Eliten beschworen wird, die fürchten, ihre Position zu verlieren. Wenn die Geschichte überhaupt etwas lehrt, dann, dass individuelle Rechte und Freiheiten sehr viel eher von Elitenherrschaft als Volksherrschaft bedroht sind.“2

Kann man wirklich das eine gegen das andere ausspielen? Gibt es nicht so etwas wie eine demokratisch legitimierte Elitenherrschaft? Und was soll an die Stelle der liberalen, den Volkswillen beschränkenden Demokratie treten? De Dijn plädiert letztlich für eine Art „illiberale Demokratie“, ohne es auszusprechen. Können liberale Demokraten dieses Plädoyer nur deshalb mit Nachsicht betrachten, weil es nicht von rechts, sondern von links vorgetragen wird? Ganz sicher nicht. Für den Historiker wiegt die forcierte, auf einer selektiven Quellenauswahl beruhende Argumentation des Buches freilich ebenso schwer. Es ist kaum anzunehmen, dass viele Ideenhistoriker de Dijn folgen werden.

 

Matthias Oppermann, geboren 1974, Stellvertretender Leiter Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik und Leiter Zeitgeschichte, Konrad-Adenauer-Stiftung, Privatdozent für Neuere Geschichte, Universität Potsdam.

 

1 Wilhelm Röpke: Maß und Mitte, Zürich 1950, S. 10.

2 Annelien de Dijn: „What We Call Freedom Has Never Been About Being Free“. Interview mit Daniel Steinmetz-Jenkins, in: The Nation, 29.10.2020, www. thenation.com/article/culture/annelien-de-dijnfreedom-unruly-history-interview/ [letzter Zugriff: 08.09.2021; Übersetzung des Zitats durch den Verfasser].

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