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Über die neue Relevanz der deutschen Kolonialgeschichte

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Nach eigenem Verständnis haben es die Historiker als Vertreter einer „Leitwissenschaft“ wieder einmal geschafft: Ein verdrängter und beschwiegener Gegenstand ist aus den Tiefen der Vergangenheit geholt worden. Und nun halten sie ihn einer noch ratlosen Gesellschaft vor. Gemeint ist der Kolonialismus, in den auch Deutsche weit tiefer verstrickt waren, als uns heute lieb sein kann. In der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur gab es oft nur das vage Bild einer vergleichsweise kurzen deutschen Kolonialherrschaft, mit überschaubarem Landbesitz und einer vermeintlich hohen Zustimmung der Kolonisierten.

Dieser bequemen Verharmlosung der deutschen Kolonialgeschichte widersprechen Fachwissenschaftler seit langer Zeit, auch solche aus den ehemals großen Kolonialmächten Frankreich und England – jenen Ländern also, die dem Deutschen Reich 1919 die Unfähigkeit als Kolonialmacht ins Stammbuch geschrieben hatten. Im Versailler Vertrag wurde zwar die Alleinschuld des Deutschen Reichs am Kriegsausbruch und das Abtreten seiner afrikanischen und asiatischen Kolonien festgeschrieben, die Feststellung des deutschen Scheiterns als Kolonialmacht fand hingegen nur über die politische Publizistik in die Köpfe – in denen sie sich als Legende von der Anmaßung der Pariser und Londoner Kolonialherren festsetzte. Der Kolonialrevisionismus der Zwischenkriegszeit und die mythisierenden Redensarten von treuen Askaris, die auch noch in der Bundesrepublik im Umlauf waren, verfestigten dieses Zerrbild eines „sauberen“ deutschen Kolonialismus.

Historiker mit Schwerpunkten in der Global-, Imperial-, Kolonial- und Genozidgeschichte beklagen längst die unkritische Haltung ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger etwa bei der Namibia-Nostalgie im Reisebüro oder dem Kitsch des Kolonialretrostils in Möbelhäusern des mittleren Preissegments. Allerdings blieben diese Monita in Deutschland bislang auf den akademischen Elfenbeinturm beschränkt.

Viel zu lange ein „blinder Fleck“

Aktuell ändert sich das grundlegend. Ursache ist ein geisteswissenschaftlicher Modernisierungsschub des akademischen Westens, der es – begleitet vom Protest zivilgesellschaftlicher Pressure Groups – aus den Fachzeitschriften über die Feuilletons in die Kultur, die Kulturpolitik und die Außenpolitik geschafft hat. Die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, Staatsministerin Monika Grütters, stellte bei der Eröffnung eines Symposiums im Deutschen Historischen Museum am 7. Juni 2018 indikativisch fest: „Viel zu lange war die Kolonialzeit ein blinder Fleck in der deutschen Erinnerungskultur.“ Wer wollte da widersprechen! Aber was folgt daraus?

Warum der Postkolonialismus in Deutschland um zwei bis drei Jahrzehnte später „durchschlägt“ als in Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika, die sich seit den 1970er-Jahren mit den Problemen der Dekolonisierung beschäftigten, liegt auf der Hand: Im Zentrum der kanonisierten Gewissheiten der deutschen Geschichte stehen seit den ausgehenden 1960er-Jahren die Verbrechen des „Dritten Reichs“. Daran schließt sich heute das Wissen um die zögerliche Distanzierung sowie späte und mühsame Aufarbeitung an. Bis in die Gegenwart sind Nationalsozialismus und Holocaust ein ständiges Diskursthema – als historisches Faktum bis zum 8. Mai 1945 und als hartnäckige, rassistische Denkgewohnheit, die noch lange in den Köpfen steckte.

Historische Forschungen und Debatten haben nicht unmaßgeblich zu einer Sensibilisierung in einem breiten öffentlichen Bewusstsein beigetragen. Allerdings beklagen einige Historiker, dass eine zu ausschließliche Fokussierung auf „die besagten 12 Jahre“ (Theodor Heuss) den Blick auf andere Epochen und Themen zu verstellen drohe, und zwar auf solche mit positiver Konnotation (deutsche Demokratiegeschichte seit 1848) wie solche mit negativer wie die seit 1990 intensiv erforschte SED-Diktatur.

„Von Windhuk nach Auschwitz?“

Daneben beansprucht seit den 2000er-Jahren die Globalgeschichte Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg einen zusehends größeren Raum. Das deutsche Kaiserreich und seine staatlichen Vorläufer wurden und werden von ihr, wenn auch nicht voraussetzungslos und wertfrei, anders als in den ideologisch aufgeladenen Sonderwegthesen als historisch eigenständige Lemmata im Wörterbuch der deutschen Geschichte betrachtet und nicht mehr auf eine Vorgeschichte des „Dritten Reichs“ reduziert. Aber auch eine entwicklungsoffene Beschäftigung mit der Zeit des Hochimperialismus kommt an dessen unstrittigen Schattenseiten nicht vorbei. Dazu zählt neben den eklatant ungleichen wirtschaftlichen Hierarchien zwischen Europa und dem globalen Süden auch der formelle Kolonialismus, in den Deutschland 1884/85 zwar erst spät, dann aber mit Macht einstieg und dessen eigentliche Hochphase es in der Zwischenkriegszeit als ein auf Europa beschränkter Akteur erlebte, der ab 1941 wahnwitzige Kolonisierungspläne in Osteuropa verfolgte.

Das Aufzeigen von ähnlichen Denkmustern hinter den Eroberungs- und Versklavungsplänen der Nationalsozialisten und der Vernichtung der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika hat dem Historiker Jürgen Zimmerer Kritik eingebracht, obwohl er weder direkte Verbindungslinien zieht noch Pfadabhängigkeiten behauptet oder einen „kausalen Nexus“ zwischen dem frühesten und dem größten von Deutschen verübten Genozid herstellt. Da er Diskussionen nicht aus dem Weg geht, wird oft übersehen, dass sein Von Windhuk nach Auschwitz? überschriebenes Buch ein Fragezeichen im Titel trägt. Jedenfalls hat er maßgeblich dazu beigetragen, dass das Interesse am deutschen Kolonialismus und an dessen unrühmlichen Höhepunkten bei der sogenannten Niederschlagung des Boxeraufstands in China im Jahr 1901, dem Völkermord in Südwestafrika 1904 oder dem Tod ungezählter Afrikaner in sinnlosen Durchhaltemanövern deutscher Verbände im Osten Afrikas während des Ersten Weltkriegs merklich gewachsen ist.

Die von Zimmerer geleitete Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ widmet sich seit 2014 mit einer Grundfinanzierung durch den Hamburger Senat und zahlreichen Drittmittelprojekten in Deutschlands handelsgeschichtlicher Hauptstadt mit regionalem Bezug dem Thema Kolonialgeschichte; ähnliche Forschungsprojekte gibt es in Düsseldorf, Freiburg, Berlin und an anderen Universitäten. Und zwar jeweils mit dem Blick auf die vergangene Kolonialgeschichte wie auch auf ihr Fortwirken in die Gegenwart.

Unkommentierte Straßennamen und Denkmäler für deutsche Generäle, die an Heldentaten nach den Maßstäben der Epoche der weißen Überlegenheit erinnern, empören heute insbesondere Vertreter von zivilgesellschaftlichen Interessengruppen, etwa afrikanisch-stämmige Deutsche. Dass aus diesem Diskursumfeld Forderungen erhoben werden, wonach Begriffe wie Afrikareisender, Entdecker und Missionar in Anführungsstriche gesetzt werden sollten, zeigt, welche Befindlichkeiten in den Einwanderungsgesellschaften der Großstädte abseits der deutschen Mehrheitswahrnehmung existieren.

Diskussion um das Humboldt-Forum

Nach den Universitätswissenschaftlern und den Medien (Spiegel-Epoche und andere Magazine haben zuletzt Themenhefte über Rassismus und Kolonialismus veröffentlicht) beschäftigt sich auch die Kulturpolitik mit der Kolonialgeschichte. Dies geschieht in klassischen Formaten wie Ausstellungen und Symposien. In der Außenwirkung am intensivsten zeigt sich dies aber in der aufgeladenen Debatte um das Humboldt-Forum, die innerhalb weniger Monate von einer Frage preußischer Fassadenrenaissance zu dem deutschen Verhandlungsort schlechthin über die (mangelnde) Rechtmäßigkeit von Museumsobjekten aus kolonialem Sammlungszusammenhang geworden ist. Die Bundesregierung hat dieses Thema explizit in den Koalitionsvertrag und in das Aufgabenportfolio des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste aufgenommen.

Als Realien sind koloniale Objekte damit zeitversetzt, aber im Grunde parallel zum Raubgut der Nationalsozialisten zu einem Thema der „Vergangenheitsbewältigung“ geworden. Wie schwierig Rückgaben werden können, davon zeugen sowohl die ersten konkreten Debatten – etwa um die gewiss nicht in deutsche Depots und Schausammlungen gehörenden menschlichen Überreste. Zahlreich sind auch die kontroversen Einwürfe von afrikanischen Museumsleuten und deutschen Historikern. Unter ihnen sehen nicht wenige in einer vollständigen Rückgabe geraubten oder erpressten Museumsguts eine ebenso eindimensionale Handlung wie im seinerzeitigen europäischen Sammlungswahn: Die schwierige gemeinsame Verflechtungsgeschichte könnte durch das pauschale Leeren von ethnologischen Museen und Archiven eher verschüttet und negiert als aufgearbeitet, problematisiert und für eine gemeinsame Zukunft nutzbar gemacht werden.

Aber noch sehen nicht alle Fachleute die Dinge so nüchtern und differenziert. Reduzierungen komplexer (kolonial-)historischer Zusammenhänge zur Erklärung gegenwärtiger Migrationsursachen finden sich auch in wissenschaftlichen Kontexten. So heißt es 2018 im Klappentext eines Katalogs zur Ausstellung über Rassismus im Hygiene-Museum in Dresden, dort sei ein „Kapitel ... der rassistischen Herrschafts- und Ausbeutungspolitik des Kolonialismus gewidmet, deren Folgen bis zu den Fluchtbewegungen unserer Tage nachwirken.“ Man könnte in solchen Vereinfachungen eine Katalysatorwirkung der Flüchtlingsdebatte für den Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte erkennen.

Ende der kolonialen Amnesie

Die damit verbundenen Aufgeregtheiten sollten einer sachlichen Auseinandersetzung weichen. Um bei der medizinischen Metapher von Jürgen Zimmerer zu bleiben: Die „koloniale Amnesie“ scheint überwunden. Die Erinnerungen kommen nicht nur wieder, sondern die Bilder des verdrängten Vergangenen finden Eingang in den Erinnerungshaushalt einer grundlegend gewandelten Gesellschaft. Man sollte freilich aufpassen, dass aus dem gelegentlich erhöhten Ruhepuls keine Neurasthenie wird, jener unselige, nervöse Epochengrundzug des in seinen Maßlosigkeiten zu Recht inkriminierten Zeitalters des Hochimperialismus. Schließlich verhandelt die Kolonialgeschichte nichts weniger als die Geschichte der Gegenwart, die unzweifelhaft eine Geschichte der Globalisierung ist.

Was aus den gegenwärtigen Forderungen, Statements und Bekenntnissen zu Schuld und Verantwortung konkret abgeleitet werden wird, muss die Politik in Bund und Ländern zeigen. Nur von dort können Lösungen angestoßen werden, das geltende Völkerrecht bietet nach Auskunft von Experten gerade keine Restitutionsgrundlage. „Heilen“ können hier also nicht die Juristen, sondern kann nur der politische Wille der Wähler. Historiker können diese Prozesse mit Expertise untersetzen. Man sollte von ihnen aber nicht die Rolle des Lehrmeisters im Sinne Ciceros verlangen. Das wusste Jacob Burckhardt schon im 19. Jahrhundert besser, wenn er glaubte, das Wissen um Geschichte mache nicht „klug, für ein andermal“, sondern „weise für immer“. Direkte Handlungsanweisungen lassen sich aus der Kenntnis der Vergangenheit also nicht auf gegenwärtige oder künftige Herausforderungen übertragen, allenfalls allgemeine, und diese seien, je mehr historisches Wissen man habe, umso schwieriger ins tägliche Agieren zu übertragen.

Mit der gegenwärtig erreichten Übereinkunft zwischen Fachwissenschaft und (Kultur-)Politik, wonach der Kolonialismus innerhalb der europäischen Geschichte auf die Seite der Verfehlungen gehört, deren Konsequenzen man sich stellen sollte, hat man eine Agenda gesetzt, deren Inhalte noch vage sind. Zu ihrer verantwortungsvollen Ausformulierung und anschließenden Umsetzung gehören eine von tagespolitischen Instrumentalisierungen in der Flüchtlings- und Integrationspolitik freie, dauerhafte finanzielle Ausstattung und ideelle Unterstützung durch staatliche Instanzen und Würdenträger.

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Ulf Morgenstern, geboren 1978 in Dresden, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Otto-von-Bismarck-Stiftung, Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Universität Hamburg.

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