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Was man von Elisabeth Noelle-Neumann lernen kann

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Im Jahr 2016 wurde der Redaktion des ZDF-Magazins „Frontal 21“ ein Datensatz mit internen E-Mails der ostukrainischen Rebellen zugespielt. Darunter befand sich ein Strategiepapier russischer „Berater“. Darin hieß es: „Es sollen Aktivistengruppen für Internetkommentare in Blogs, Foren und sozialen Netzwerken aufgestellt werden […] aufgrund der Intensität ihrer Arbeit [wird] der Eindruck erweckt, die Mehrheit denkt so.“

Diese kleine Notiz ist in der Öffentlichkeit wenig beachtet worden; dabei hätte sie es verdient, in die Lehrbücher aufgenommen zu werden, denn sie ist das vielleicht aufschlussreichste Dokument zum Verständnis der Kommunikationsstrategien der Diktatoren und Populisten unserer Tage. Es ist eine kurze, aber präzise Gebrauchsanweisung zur Irreführung der Bürger und zeigt die Raffinesse und Rücksichtslosigkeit, mit der politische Akteure versuchen, die Meinungsbildung der Gesellschaft über das Internet zu manipulieren, mit der Folge einer spürbaren Veränderung der Debattenkultur.

 

Veränderter Tonfall

 

Bereits seit Jahren wird in der Öffentlichkeit die Klage erhoben, die politische Auseinandersetzung sei schärfer, die Diskussionen seien unerbittlicher geworden. Man wird schwerlich hieb- und stichfeste Beweise dafür finden können, dass dies tatsächlich der Fall ist, doch der Eindruck, dass sich der Tonfall mancher gesellschaftlicher Debatten, vor allem im Internet, verändert hat, liegt zumindest nahe. Dabei kann man durchaus charakteristische Muster identifizieren, vor allem, wenn es um die Auseinandersetzung mit den neuen populistischen Parteien und Bewegungen in Europa geht. Die Anhänger dieser Bewegungen erheben oft die Klage, es gebe „Sprechverbote“, durch die sie und ihre Meinung systematisch unterdrückt würden. Ihre politischen Gegner reagieren auf diese Bemerkungen mit Unverständnis, dem Verweis auf das grundgesetzlich garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung und werfen ihrerseits der Gegenseite vor, die Gesellschaft zu spalten, worauf diese wiederum mit Unverständnis reagiert.

Auf den ersten Blick scheinen diese Elemente der öffentlichen Auseinandersetzung – der Versuch von Propagandisten, ihre Position wahrheitswidrig als Mehrheitsmeinung erscheinen zu lassen, ihre Klage über angebliche „Sprechverbote“ und der Vorwurf der Spaltung von der Gegenseite – wenig miteinander zu tun zu haben, doch tatsächlich hängen sie eng zusammen. Wie, das lässt sich mithilfe der Theorie der Schweigespirale erklären.

Die Theorie der Schweigespirale stammt von Elisabeth Noelle-Neumann (1916–2010), der Gründerin und langjährigen Leiterin des Instituts für Demoskopie Allensbach. Sie stellte im Rahmen der Wahlforschung zur Bundestagswahl 1965 fest, dass die Vermutungen der in den Repräsentativumfragen des Instituts befragten Wähler, welche Partei die Wahl gewinnen werde, nicht mit den tatsächlichen Parteistärken übereinstimmten. Während CDU/CSU und SPD über Monate hinweg in den Umfragen praktisch gleichauf lagen, setzte sich bei der Bevölkerung die Überzeugung durch, die CDU/CSU werde die Wahl gewinnen. Dasselbe Muster wiederholte sich im Jahr 1972, nur dieses Mal mit umgekehrten Vorzeichen: Nun stieg die Erwartung, dass die SPD die Wahl gewinnen werde, steil an, obwohl die Parteizahlen eine solche Veränderung der Wahrnehmung eigentlich nicht rechtfertigten. Mit einer Serie von Prüffragen wurde schließlich festgestellt, dass 1972 die Anhänger der Union in der Öffentlichkeit praktisch unsichtbar waren, obwohl ihre Zahl nicht geringer war als die der SPD-Anhänger. Irgendetwas hatte sie so eingeschüchtert, dass sie kaum noch in Erscheinung traten. Während sich die SPD-Anhänger selbstbewusst zu ihrer politischen Haltung bekannten, Anstecknadeln trugen, Aufkleber am Auto befestigten, bei Diskussionen für ihre Haltung eintraten, blieben die CDU/CSU-Anhänger stumm.

Aus dieser Beobachtung heraus entwickelte Elisabeth Noelle-Neumann nach und nach die Theorie der Schweigespirale. Sie nahm an, dass die meisten Menschen den wahrscheinlich angeborenen Drang haben, von ihrer Umgebung, von der Gemeinschaft akzeptiert zu werden, und die gesellschaftliche Isolation fürchten. Deswegen beobachten sie laufend, wenn auch weitgehend unbewusst, das Verhalten der Menschen um sie herum und stellen fest, welche Meinungen und Verhaltensweisen von der Gesellschaft geduldet werden und welche nicht, mit welchen Meinungsäußerungen man Beifall, Schulterklopfen, wohlwollendes Nicken oder wenigstens neutrale Reaktionen auslöst und mit welchen man Widerspruch, Stirnrunzeln oder Gelächter erntet. Letztere Reaktionen sind als Isolationsdrohungen zu verstehen: Wer gegen den Konsens, die Normen, Regeln und die allgemein akzeptierte Meinung verstößt, riskiert, von der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.

 

Der quasistatistische Sinn der Bürger

 

Die meisten Menschen haben, so die Theorie, ein sehr feines Gespür dafür, welche Meinung mehrheitsfähig ist und welche nicht. Noelle-Neumann spricht in diesem Zusammenhang vom „quasistatistischen Sinn“. Wer spürt, dass er mit seiner Meinung in der Minderheit ist, dass das Meinungsklima gegen ihn gerichtet ist, wird meistens instinktiv dazu neigen, sich mit Meinungsäußerungen in der Öffentlichkeit zurückzuhalten. Dieses Verhalten kann unter bestimmten Umständen eine Dynamik auslösen: Dadurch, dass Anhänger der einen Position eingeschüchtert verstummen, wird diese Meinung im öffentlichen Raum weniger sichtbar, die Zahl ihrer Anhänger erscheint kleiner, als sie tatsächlich ist. Andere Anhänger dieser Position finden dadurch weniger Bestätigung und werden ihrerseits zum Schweigen gebracht. Die Vertreter der Gegenposition sehen sich dagegen immer weniger Widerspruch ausgesetzt, werden immer selbstbewusster und lauter. So stecken sich die einen gegenseitig zum Schweigen an, die anderen zum Reden. Ein Spiralprozess setzt ein, der im Extremfall dazu führen kann, dass das eine Meinungslager fast ganz aus der Öffentlichkeit verschwindet und das andere das Meinungsklima gänzlich dominiert.

Solche Extremfälle der völligen Dominanz einer Meinung sind selten, doch die Dynamik des Spiralprozesses konnte von den Sozialwissenschaftlern in den letzten Jahrzehnten bei verschiedenen Gelegenheiten dokumentiert werden. Auch gegenwärtig kann man Beispiele finden, die die Existenz einer Schweigespirale zumindest wahrscheinlich erscheinen lassen. Ein Hinweis hierauf ist es meistens, wenn Menschen sich verpflichtet fühlen, offensichtlich übertriebene Aussagen zu machen oder offensiv gegen ihre eigenen Überzeugungen zu argumentieren, um nur ja nicht in den Verdacht zu geraten, man stünde auf der falschen Seite. Wenn, wie in diesem Januar geschehen, verkündet wird, Schneefall im Winter sei ein sicheres Zeichen für eine vom Menschen verursachte Klimakatastrophe, wenn CDU, CSU und SPD ihre Wahlniederlagen in den letzten Monaten damit erklären, dass sie immer noch nicht genug über das Thema Klima gesprochen (und damit Wasser auf die Mühlen der Grünen geleitet) hätten, wenn die Union auf ziemlich unqualifizierte Anwürfe eines Youtubers nicht mit klaren Gegenargumenten, sondern mit Anbiederungsversuchen reagiert, dann muss man das als Verbeugungen vor dem Zeitgeist verstehen. Lieber schadet man den eigenen inhaltlichen Interessen, als in den Geruch zu geraten, man stünde am Rande.

 

„Ketzer“ und „Avantgardisten“

 

Dieses Wechselspiel von Reden und Schweigen hat eine wichtige Funktion, denn es sorgt dafür, dass die Gesellschaft auch bei solchen Themen entscheidungsfähig bleibt, in denen kein echter Konsens möglich ist: Wenn die Minderheit schon nicht überzeugt werden kann, so wird sie doch immerhin durch sozialpsychologische Mechanismen, durch Isolationsdruck und soziale Kontrolle zum Schweigen gebracht. Wer aber die Kontrolle über diesen Mechanismus gewinnt, erhält eine bedeutende Machtposition, denn eine Meinung, die in der Öffentlichkeit im Hintertreffen ist, wird, selbst wenn sie zunächst noch die Zustimmung eines erheblichen Teils der Bevölkerung erfährt, auf Dauer tatsächlich schwächer, denn ihre Anhänger finden keine Bestätigung, keine Fürsprecher, keine Argumente. Man kann solche Prozesse als unbarmherzig empfinden, aber sie sind notwendig, denn sie halten die Gesellschaft zusammen.

Diese Aspekte der Theorie der Schweigespirale sind vielen Politikern und Sozialwissenschaftlern bekannt. Auch Journalisten kennen das Prinzip in der Regel gut, auch wenn sie es in der Öffentlichkeit meist nicht gern zugeben, denn es ist ein wesentliches Element der gesellschaftlichen Macht der Massenmedien. Weniger beachtet wird dagegen ein nicht unbedeutender Seitenaspekt der Theorie: In ihr wird angenommen, dass zwar die meisten Menschen dazu neigen, zu verstummen, wenn sie sich in der Minderheit fühlen, aber nicht alle. Eine kleine Gruppe in der Bevölkerung reagiert nicht auf Isolationsdrohungen, hat keine Isolationsfurcht. Noelle-Neumann nennt sie „Ketzer“ und „Avantgardisten“. An anderer Stelle spricht sie vom „harten Kern“, der immer, auch in Situationen stärksten Isolationsdrucks, unangefochten bleibt. Diese Menschen treten unbeirrt für ihre Haltung ein, auch dann, wenn sie dafür heftigsten Widerspruch ernten. Das versetzt sie in eine besonders starke Position, denn sie reden selbstbewusst, als wären sie mit ihrer Meinung in der Mehrheit. Das wiederum beeindruckt andere: Die Ketzer halten sich nicht an die Regeln des Spiels von Isolationsfurcht und Isolationsdrohungen, aber ihr Publikum tut es. Wer nur laut genug schreit, wird Gefolge finden. Wer Isolation nicht fürchtet, kann das Meinungsklima verändern.

 

Spaltung der Gesellschaft

 

Vor diesem Hintergrund werden nun die Elemente der neuen Debattenkultur in Deutschland und anderen Ländern Europas verständlich: Die Klagen etwa der Anhänger der Alternative für Deutschland (AfD) über angebliche Sprechverbote beziehen sich nicht auf die juristische Ebene. Natürlich wissen die Klagenden, dass es kein Gesetz gibt, das ihnen ihre Meinungsäußerungen verbietet. Deswegen sind auch Verweise auf die im Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit sinnlos. Stattdessen geht es um die „ungeschriebenen Gesetze“, die gesellschaftlichen Sanktionen, die Ächtung, die man erfährt, wenn man gegen den gesellschaftlichen Konsens verstößt. Dies wird von den Betreffenden als schwerwiegender und demütigender empfunden als irgendwelche rechtlichen Konsequenzen.

Auch die Empfehlung der russischen „Berater“ der ukrainischen Rebellen lässt sich nun leicht einordnen: Sie ist nichts anderes als eine Anleitung zur Manipulation des „quasistatistischen Sinns“ der Bürger, geleitet von der Erkenntnis, dass der Eindruck, man sei mit einer Position in der Mehrheit, der Schlüssel zur Erringung der Übermacht in der öffentlichen Meinung ist. Diejenigen, die wöchentlich in Dresden „Wir sind das Volk“ rufen, mögen dies vielleicht wirklich glauben. Doch diejenigen, die sie aufhetzen, wissen höchstwahrscheinlich genau, dass das nicht die Wahrheit ist. Sie wissen aber, dass ihre einzige Chance, die Macht im Land zu erringen, darin besteht, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Denn wenn ihnen dies gelingt, werden ihnen Heerscharen von arglosen Unpolitischen, Ängstlichen und Opportunisten zulaufen, und dann wäre der Zeitpunkt nicht mehr weit, an dem sie wirklich die Mehrheit der Bevölkerung auf ihre Seite ziehen könnten.

Die größte Gefahr für diese Strategie ist der Verweis auf die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse, der deswegen mit der größten Entschlossenheit bekämpft wird. Als der Autor dieses Artikels im Vorfeld der letzten Bundestagswahl in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt in einer eigentlich nebensächlichen Randbemerkung auf die Tatsache hinwies, dass es sich bei den AfD-Anhängern um eine Minderheit handelt, erschienen in der Internetausgabe der Zeitung binnen weniger Tage rund 950 größtenteils aggressive Kommentare voller Fälschungsvorwürfe und „Lügenpresse“-Beschimpfungen. Dass eine solche, eigentlich banale und leicht überprüfbare Feststellung derart maßlose Reaktionen auslöste, wird erst verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass sie das Fundament der Argumentationsstrategie der Partei angriff, die Erzeugung der Illusion, man befände sich in der Mehrheit.

Und der Vorwurf der Spaltung? Er ist in einem Maße wahr, wie es denjenigen, die ihn erheben, vermutlich kaum bewusst ist. Das Wechselspiel von Reden und Verstummen, von Isolationsdruck und Isolationsfurcht dient, wie beschrieben, dem Zusammenhalt der Gesellschaft. Wer diesen Mechanismus aber erst einmal durchschaut hat, kann ihn durchbrechen. Er kann, die eigene Isolationsfurcht überwindend, bewusst die Rolle des „Ketzers“ einnehmen und sich damit dessen Macht zunutze machen. Wer nur beharrlich und laut genug „Wir sind das Volk“ ruft, wird früher oder später Anhänger um sich scharen und damit seine Position in der öffentlichen Meinung stärken. Doch wenn sich das allgemeine gesellschaftliche Klima in eine andere Richtung bewegt, setzt er damit auch den Mechanismus außer Kraft, der dazu dient, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Wer bewusst gegen die Schweigespirale vorgeht, befördert also, ob er will oder nicht, die gesellschaftliche Spaltung.

 

Thomas Petersen, geboren 1968 in Hamburg, Kommunikationswissenschaftler und Meinungsforscher, Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allensbach (IfD).

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