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Die Wahrheit liegt auf dem Platz

Fußballweltmeisterschaften und Politik

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Was sind die wichtigsten Gründe dafür, dass die FIFA-Weltmeisterschaften auf allen Kontinenten Menschen in ihren Bann schlagen? Warum sind sie zu einem transnationalen Medienereignis avanciert, das – abgesehen von „weißen Flecken“ wie Südasien – weltweit im vierjährigen Turnus vier Wochen lang für unerschöpflichen Gesprächsstoff sorgt?

Dass sich sportliche Großereignisse zu politischer Selbstdarstellung eignen, kann diesen Siegeszug nicht hinreichend erklären. Gewiss haben insbesondere autoritäre Regime Weltmeisterschaften zur Imagepolitik missbraucht. So hat das faschistische Italien 1934 in der im eigenen Land ausgetragenen WM eine willkommene Gelegenheit zur Profilierung erblickt – mit dem Sieg der „Squadra Azzurra“ als Krönung. Die argentinische Militärjunta verfuhr 1978 ähnlich; auch dieses Mal trug das gastgebende Team den Sieg davon.

Als kulturpolitische Imageoffensive können jedoch auch Turniere gelten, die von Gastgeberländern ausgerichtet wurden, die der Welt ein neues Gesicht zeigen wollten. Zweifellos gehört die Weltmeisterschaft 2006 dazu, als Deutschland die Einladung aussprach, „zu Gast bei Freunden“ zu sein, und es gelang, beträchtliche Sympathiegewinne durch eine organisatorisch perfekte und fußballerisch spannende Weltmeisterschaft zu generieren. Vier Jahre später unternahm Südafrika einen ähnlich gelagerten Versuch, dessen Ergebnis allerdings bei Weitem nicht an das deutsche Exempel heranreichte.

Kulturelle Strahlkraft

Darüber hinaus spielen Weltmeisterschaften im nationalen Diskurs von Staaten eine herausragende Rolle – als Projektionsfläche für nationale Selbstzuschreibungen. Fußball ist die einzige Sportart, die zu einem Seismografen für kulturelle Selbstverständigungsprozesse avanciert ist, und bei Weltmeisterschaften kann sich dieses Potenzial landesweit entfalten. Ein Streifzug durch vier im Fußball besonders erfolgreiche Nationen zeigt: Brasilien hat spätestens seit dem Gewinn der Weltmeisterschaft 1958 den Fußball zu einem nationalen Exportgut erster Güte erhoben. Frankreich wiederum, bei Weltmeisterschaften bis 1998 nie bis ins Endspiel vorgedrungen, nahm seinen Triumph im eigenen Land („on a gagné“) zum Anlass, den 3 : 0-Erfolg gegen Brasilien als Resultat eines gelungenen Integrationsprozesses zu verklären – standen in der siegreichen Elf doch Spieler, die selbst oder deren Vorfahren in Polynesien, Armenien, Nordafrika oder Westafrika geboren wurden. Zwölf Jahre später wurde allerdings gerade diese Diversität als Hauptursache dafür ins Spiel gebracht, dass die „Équipe Tricolore“ in der Vorrunde in Südafrika sang- und klanglos ausschied und zudem abseits des Platzes durch Fehlverhalten auffiel. Die Niederländer haben ihre beiden Endspielteilnahmen der Jahre 1974 und 1978 als Ausdruck einer betont lockeren, antiautoritären Einstellung der niederländischen Gesellschaft ausgegeben. Und Italien konnte sich über das vielfach beklagte Staatsversagen lange dadurch hinwegtrösten, dass wenigstens im Fußball das Land noch Weltspitze war – der Sieg im Finale in Berlin 2006 schien dies markant zu bestätigen.

Der deutsche Fall bietet besonders reichhaltiges Anschauungsmaterial für die kulturelle Aufladbarkeit der Bühne „Weltmeisterschaft“. Dass am 4. Juli 1954 im Berner Wankdorf-Stadion der junge bundesdeutsche Staat eine kulturelle Fundierung mithilfe des Fußballs erhielt, ist mittlerweile gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis. Auch der Umgang mit der deutschen Teilung lässt sich ablesen an der Art und Weise, wie auf das sportlich relativ bedeutungslose Aufeinandertreffen der Teams beider deutscher Staaten bei der Weltmeisterschaft 1974 reagiert wurde. Das 0:1 – erzielt durch den legendären Treffer von Jürgen Sparwasser vom 1. FC Magdeburg – wurde in der DDR als Beleg dafür ausgegeben, dass sie auch auf dem Felde des Fußballs mit der „kapitalistischen“ Konkurrenz im Westen mithalten könne. In der Bundesrepublik waren die Begleitumstände dieses Spiels beredter Ausdruck einer zunehmenden Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen Teil Deutschlands, der aus dem Gesichtskreis einer ausschließlich im geteilten Deutschland sozialisierten Generation – zu der auch alle eingesetzten westdeutschen Spieler zählten – zunehmend verschwand. Dass allein Bundestrainer Helmut Schön, ein gebürtiger Dresdner, eine gesamtdeutsche Vita repräsentierte, war nicht mehr als ein zunehmend exotisch werdender Farbtupfer einer fußballerischen Selbstbespiegelung, die darin kulminierte, dass in den 1980er-Jahren dem Gros der Stadionbesucher und der „National“-Spieler der Text der Nationalhymne unvertraut war, die ja „Einigkeit … für das deutsche Vaterland“ als hehres Ziel proklamierte.

Doch solche nationalen Selbstbespiegelungen machen nur eine und nicht einmal die wichtigste Facette der kulturellen Ausstrahlungskraft von Fußballweltmeisterschaften aus. Ihre Hauptursache liegt darin begründet, dass sich über solche nationalen Zuschreibungen hinaus ein transnationaler Diskurs etabliert hat, der die nationalen Grenzen überschreitet. Warum ist die zehnminütige Zeitspanne, in der weltweit die meisten SMS versandt wurden, die Halbzeitpause des denkwürdigen Halbfinalspiels in Belo Horizonte gewesen, als die deutsche Mannschaft mit einem 5:0-Zwischenstand das brasilianische Heimteam deklassiert hatte? Weil sich die Grenzen des Erwartbaren Sprengendes, schier Unglaubliches auf dem Rasen abgespielt hatte, das all jene zu einem Kommentar drängte, die ausgeprägtes Wissen über den Fußball besaßen.

Der Kultursoziologe Tobias Werron hat darauf hingewiesen, wie stark die Expertise des Sportpublikums – sowohl der Stadionbesucher als auch derjenigen, die am Fernseher oder am Computer Sportereignisse live verfolgen – die Deutungsmuster der Rezipienten prägt. Seit mehr als zwanzig Jahren ist weltweit ein kompetentes Fußballpublikum herangewachsen, das sich seinen eigenen Reim auf eine Fußballweltmeisterschaft macht, wobei das sportliche Geschehen den Kern dieser vielfältigen Erzählungen ausmacht. Daher sind alle Versuche von Regierungsseite oder vonseiten des Weltfußballverbandes FIFA, „Meistererzählungen“ über Weltmeisterschaften in Umlauf zu bringen, zum Scheitern verurteilt. Der von Funktionären oft bis zur Unkenntlichkeit entstellte Satz, wonach der Fußball den Fans gehöre, bewährt sich in diesem Fall ohne Einschränkungen. Mag auch die Kommerzialisierung der Weltmeisterschaften durch die FIFA weiter anwachsen: Die Deutungshoheit über ihr „Produkt“ hat diese Organisation in dem Moment abgegeben, in dem der Anpfiff zum ersten Spiel ertönt.

Fußballweltmeisterschaften besitzen ein einzigartiges Imaginationspotenzial, das den Stoff für gelegentlich mythisch aufgeladene Erzählungen bietet. Oft sind solche Narrative nationenzentriert wie das „Wunder von Bern“, die nachträgliche Überhöhung des WM-Erfolgs der Herberger-Elf 1954, welcher auf ungarischer Seite grenzenlose Trauer korrespondierte. Die bis heute nicht beendete Debatte um das legendäre Wembley-Tor im Endspiel zwischen England und Deutschland im Jahre 1966 ist ein Diskurs geblieben, der nicht über Deutsche und Engländer hinausreicht.

Mittlerweile zeichnet sich jedoch die Tendenz ab, dass bestimmte Momente einer Fußweltmeisterschaft im visuellen Speicher des Kollektivs „Fußballpublikum“ so haften bleiben, dass sie zu einem kollektiven Gedächtnis verdichtet werden. Es ist kein Zufall, dass sich solche ikonographischen Szenen um Weltstars des Fußballs ranken, die sich mit roten Lettern in die Fußballhistorie eingraviert haben, weil sie mehreren Turnieren ihren Stempel aufdrückten. Pelé kann als der erste Fußballer gelten, der seine weltweite Popularität seinem Auftreten bei Weltmeisterschaften verdankte; Maradona und Zidane gehören ebenfalls in diese Kategorie – auch deswegen, weil der tränenüberströmte Maradona nach dem verlorenen Finale von 1990 oder der seine Selbstbeherrschung verlierende Zidane im Finale 2006 eine Verletzlichkeit offenbarten, die den Spitzensportler als „normalen Menschen“ präsentierte.

Ein Blick auf Russland

Welchen Ausblick kann man vor dem Hintergrund der hier skizzierten Überlegungen auf die bevorstehende Weltmeisterschaft in Russland wagen? Dass die russische Regierung eine imageförderliche Vermarktung dieses Großereignisses anstrebt, ist ebenso wenig verwunderlich wie das Bestreben der FIFA-Spitze, ihr Produkt mit Superlativen zu versehen. Doch im Jahr 2018 wird die Vergeblichkeit solcher Bemühungen noch offenkundiger zutage treten, weil derartige Versuche diskursiver Vereinnahmung einer Weltmeisterschaft noch stärker als alle ihre Vorläufer an der Sinnautonomie des Sportpublikums und an einer zunehmend kritischen Öffentlichkeit zerschellen werden.

Welche ikonischen Bilder in diesem Sommer zu sehen sein werden, wird nicht zuletzt von der genuin sportlichen Qualität der Weltmeisterschaft abhängen. Insofern wird sich die Neugier der wahren Liebhaber des Fußballs auf den Ort des Geschehens konzentrieren, auf dem keine Tricksereien mehr möglich sind: Die Wahrheit liegt bekanntlich im Fußball immer auf dem Spielfeld!

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Wolfram Pyta, geboren 1960 in Dortmund, Universitätsprofessor für Neuere Geschichte und Leiter der Abteilung für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität Stuttgart.

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