Die Bundesrepublik Deutschland hat sich bereits im Grundgesetz dazu bekannt, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Wie kaum ein anderer Staat hat sie von den Strukturen und der Ordnung profitiert, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgebaut und etabliert wurden. Durch die Einbindung in die Westeuropäische Wirtschaftsunion, in die Montanunion und später in die Europäischen Gemeinschaften konnte die Bundesrepublik ihre Wirtschaft wieder aufbauen. Es grenzt an ein Wunder, wie schnell Deutschland nach der Zerstörung des Landes an die frühere Leistungsfähigkeit anknüpfen, zu führenden Industrienationen aufschließen und diese zum Teil überflügeln konnte. Es hätte viele Gelegenheiten gegeben, der neuen Konkurrenz aus Deutschland mit Blick auf die Kriegsverantwortung Steine in den Weg zu legen – keiner unserer Partner im Westen tat es.
Die deutsche Wirtschaft profitiert bis heute in besonderer Weise von den offenen Märkten und der engen Verflechtung mit den Staaten Europas und dem Rest der Welt. Sie sind Grundlage für die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und für den Wohlstand, der dadurch möglich wurde. Insofern ist die Zunahme protektionistischer Tendenzen und neuer Nullsummenrechnungen auf der Welt besorgniserregend.
Zugleich greift das chinesische Modell staatlich gelenkter Planwirtschaft signifikant in das bisherige, von Wettbewerb, Innovationen und dem Schutz von Urheberrechten geprägte Weltwirtschaftssystem ein und stellt eine weit größere Herausforderung und zum Teil Bedrohung für deutsche Unternehmen dar, als die meisten heute schon wahrhaben wollen. In der chinesischen „Zentralverwaltungswirtschaft“, so würde es Walter Eucken heute formulieren, gilt das Primat der Politik – auch für Wirtschaftsentscheidungen des sogenannten Privatsektors.
Diese Entwicklungen bedürfen der Antwort einer offensiveren Europäischen Union (EU). Denn Handelspolitik ist ein Eckpfeiler der internationalen, regelbasierten Ordnung. Faire Regeln und faires Agieren sind Voraussetzungen für die Akzeptanz von Freihandel. Die Handelspolitik ist das Politikfeld, in dem die EU die größte Geschlossenheit zeigt und die stärkste Schlagkraft besitzt. Jüngste Erfolge, wie der Abschluss des weltweit umfangreichsten bilateralen Freihandelsabkommens zwischen der EU und Japan, setzen Ausrufezeichen für einen entschiedeneren Handlungs- und Gestaltungswillen. In China, aber auch in den USA fordert dieser Schritt Respekt ab.
Zeitenwende in der Sicherheitspolitik
Was die europäische Integration für unsere Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet, gilt für die Nordatlantische Vertragsorganisation (North Atlantic Treaty Organization, NATO) mit Blick auf unsere Sicherheit. Die weitsichtige Entscheidung Konrad Adenauers, die Bundesrepublik Deutschland fest im westlichen Bündnis zu verankern und in die NATO zu führen, hat über Jahrzehnte signifikant zur Sicherheit Deutschlands beigetragen. Mehr noch: Geschützt durch potente Partner, die bereit waren, erhebliche Mittel auch für die Sicherheit Deutschlands aufzuwenden, konnten wir uns in einer Zone der Sicherheit wiegen, die es uns über lange Zeit ermöglicht hat, sicherheitspolitische Verantwortung auf die Schultern anderer zu übertragen.
Diese Zeiten gehen zu Ende. Mit der Stärkung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, spätestens jedoch mit dem Vertrag von Lissabon, ist die EU zu einem wesentlichen Akteur und in turbulenten Zeiten zu einem Eckpfeiler für eine internationale, regelbasierte Ordnung geworden. Doch die Erwartungen an diese Rolle steigen von Tag zu Tag – und mit ihr die Erwartungen an Deutschland, den wirtschafts- und einwohnerstärksten Mitgliedstaat der Europäischen Union.
Nicht nur der schleichende Rückzug der USA als Ordnungsmacht in allen Teilen der Welt, sondern auch der stetige wirtschaftliche, politische und zunehmend militärische Aufstieg Chinas und nicht zuletzt das neuerlich aggressiv-revisionistische Auftreten Russlands stellen die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union immer mehr auf die Probe. Der Bruch des Vertrags über das Verbot von bodengestützten atomaren Mittelstreckenraketen (Intermediate Range Nuclear Forces, INF) durch Russland ist – wie schon die Verletzung der Grenzen der Ukraine im Jahr 2014 und damit der Charta von Paris – eine Zäsur für die Sicherheit Europas. Wir müssen uns erneut intensiv mit einem Thema beschäftigen, das uns in den letzten Jahrzehnten allzu selbstverständlich erschien: die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und Europas.
Antworten auf die neue nukleare Bedrohung
Der Verlust des INF-Vertrags hat das Potenzial, das Kräftegleichgewicht in Europa substanziell zu verschieben. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland scheint derzeit stärker bedroht als in den drei Jahrzehnten zuvor. Darauf bedarf es einer besonnenen, angemessenen und in der NATO abgestimmten Antwort. Keine Option des Westens darf von vornherein ausgeschlossen werden. Dies würde unsere Verhandlungsposition schwächen. Ich kann nicht verstehen, dass vonseiten der politischen Linken, auch in Teilen des Koalitionspartners SPD, reflexartig bestimmte Gegenmaßnahmen ausgeschlossen werden. Geschichte wiederholt sich nicht. Doch bewährte Strategien der Vergangenheit könnten sich auch in heutiger Zeit bewähren. Geschlossenheit ist das Gebot der Stunde.
Gleiches gilt für die fortgesetzte Beteiligung Deutschlands an der nuklearen Abschreckung der NATO. Eine nuklearwaffenfreie Welt bleibt das erklärte Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Doch wer glaubt, die richtige Antwort auf nukleare Aufrüstung in Russland und anderen Teilen der Welt sei einseitige NATO-Abrüstung, ist naiv. Solange Nuklearwaffen Teil des Bedrohungsarsenals anderer sind, muss die NATO glaubhaft nuklear abschrecken können. Und Deutschland muss als größter europäischer Partner und zentraler Pfeiler der NATO eingebunden bleiben, teilhaben und mitreden.
Wir müssen deshalb auch künftig eine lückenlose Verfügbarkeit entsprechender Trägersysteme sicherstellen. Die Weichen müssen dafür rechtzeitig gestellt werden. Dies ist zwar nicht populär, aber ein elementarer Teil verantwortungsvoller Politik für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger.
Wer diese Debatte in der vagen Hoffnung vertagen will, das Problem überhole sich, handelt unverantwortlich. Auch hier sehe ich erhebliche Schwierigkeiten mit einem Koalitionspartner, der sicherheitspolitische Verantwortung anders sieht – man könnte auch sagen: scheut.
Auch die Fähigkeiten im konventionellen Bereich der Bündnisverteidigung bestimmen das Abschreckungspotenzial der NATO. Fünf Jahre sind seit dem Bekenntnis des damaligen Bundespräsidenten, des damaligen Bundesaußenministers und der Bundesverteidigungsministerin nun vergangen, dass Deutschland und Europa in sich verändernden weltpolitischen Zeiten eine größere Verantwortung tragen müssen. Im Bereich der Sicherheit fordert dies effizientere Strukturen, aber auch zusätzliche Investitionen in unsere Verteidigung. Allein schon zur Überwindung des Modernisierungsstaus in der Bundeswehr bedarf es weiterer erheblicher zusätzlicher Mittel – wer dies als „Aufrüstung“ diffamiert, sollte sich in der Truppe umhören.
Ebenso wie alle anderen NATO-Partner hat sich Deutschland bereits im Jahr 2002 dazu bekannt, die Verteidigungsausgaben in Richtung zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) zu erhöhen. Diese Verpflichtung wurde mehrfach, zuletzt 2014 in Wales, erneuert. Wenn nach langem Gezerre innerhalb der Bundesregierung festzustellen ist, dass Deutschland bis zum Zieldatum 2024 lediglich 1,5 Prozent des BIP in die Verteidigung investiert, ist das zu wenig. Wir sollten ambitionierter agieren und die angestrebten 1,5 Prozent möglichst bereits bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2021 erreichen. Dies müssen dann auch die Haushaltseckwerte widerspiegeln. Immerhin erreichen wir 2010 schon 1,37 Prozent.
Eine NATO à la carte?
Wer Multilateralismus in Zeiten des 21. Jahrhunderts predigt, muss sich hierzu konsequent bekennen. Die NATO ist das Rückgrat der multilateralen Sicherheit. Eine NATO à la carte gibt es nicht – das dürfen unsere Bündnispartner zu Recht ausschließen. Deutschland muss hierfür nicht allein seine finanziellen Verpflichtungen einhalten – im Übrigen im ureigenen Sicherheitsinteresse. Deutschland muss sich auch solidarisch an gemeinsamen Missionen beteiligen. Dies haben wir in der Vergangenheit verantwortungsvoll getan – im Kosovo ebenso wie in Afghanistan, im Mittelmeer oder im Baltikum.
Wer sich aber die jüngste Debatte über die Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Ausbildung irakischer Streitkräfte in Erinnerung ruft, schüttelt den Kopf: Durch ideologische Bedenken der SPD gegenüber der NATO nimmt Deutschland nicht an der multilateralen, von Kanada geführten, durch den NATO-Rat politisch kontrollierten und auf ausdrückliche Einladung der irakischen Zentralregierung durchgeführten NATO-Ausbildungsmission teil. Stattdessen geht Deutschland einen Sonderweg und bildet die irakischen Soldatinnen und Soldaten im Rahmen eines bilateralen Abkommens aus. Dies kann nicht Anspruch und Verständnis des von uns propagierten Multilateralismus sein.
Um die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger Europas auch künftig zu gewährleisten, setzt Deutschland verstärkt auf die „europäische Säule“: Wir stärken die NATO und zugleich die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Wir wollen die Kräfte und Fähigkeiten bündeln, um dem Ziel einer Europäischen Armee als starkem europäischem Pfeiler der NATO rasch näherzukommen. Auch für dieses europäische Sicherheitsprojekt ist die deutliche Steigerung der Verteidigungsausgaben immens wichtig.
Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit
Diplomatie, Krisenprävention und Entwicklungszusammenarbeit haben Vorrang. Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit hat Deutschland in den vergangenen Jahren Erhebliches getan und die Mittel deutlich aufgestockt. Gerade auf dem Nachbarkontinent Afrika, der die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie in einem Brennglas aufzeigt, trägt Deutschland mit einem völlig neuen Ansatz dazu bei, wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen und der sehr jungen Bevölkerung eine Perspektive in ihrer Heimat zu bieten.
Gleiches gilt für die humanitäre Hilfe, für die sich von 2006 bis 2018 die Mittel verfünfundzwanzigfacht haben! Wohl kein anderes Land der Erde hat sein internationales Engagement derartig ausgeweitet. Deutschland leistet dort Unterstützung, wo die Menschen sie am nötigsten haben, zum Beispiel in Syrien, Irak, Jemen, Kamerun oder Kolumbien, und trägt so zur Stabilisierung bei.
Aber in einer Welt von „Fleischfressern“ dürfen die robusten Elemente zur Gewährleistung unserer Sicherheit nicht vernachlässigt werden: Eine starke, handlungsfähige Europäische Union in außen- und sicherheitspolitischen Fragen fordert von Deutschland Flexibilität in weiteren Bereichen. Wir dürfen Rüstungsexporte nicht per se verteufeln, sondern müssen deren strategische Bedeutung als gestaltendes Element der Sicherheitspolitik sehen. Hierzu müssen die europäischen Rüstungsexportrichtlinien harmonisiert werden, wobei Deutschland sich dabei nicht anmaßen sollte, einen höheren moralischen Anspruch zu haben als andere europäische Staaten. Vielmehr müssen alle aufeinander zugehen.
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik muss endlich vom Einstimmigkeitsprinzip zum Mehrheitsprinzip gelangen. In der letzten Zeit war die Handlungsfähigkeit allzu oft eingeschränkt, weil einzelne Staaten ihre Vetomacht nutzten.
In einer Welt, die zunehmend von Großmächterivalitäten alten Typus charakterisiert ist, hat das Image der Vereinten Nationen, der Kerninstitution der internationalen Ordnung, gelitten. Der Krieg in Syrien, aber auch der Völkerrechtsbruch in der Ukraine haben die Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen offenbart, wenn die Interessen eines ständigen Mitglieds selbst betroffen sind. So ist es bis heute nicht gelungen, dem Blutvergießen in Syrien ein Ende zu setzen.
Deutschland im Weltsicherheitsrat
Besonders als Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in diesem und im nächsten Jahr muss Deutschland all seinen Einfluss darauf verwenden, die Vereinten Nationen so zu reformieren, dass sie handlungsfähiger werden und dadurch ihre Legitimität und Autorität als Hüterin von Frieden und Sicherheit sowie als Garantin von Menschenrechten gestärkt werden. Schließlich werden wir in einer vernetzten und verbundenen Welt die Herausforderungen der Zukunft nur gemeinsam lösen können.
Die aktuelle Krise des Multilateralismus, in der die regelbasierte internationale Ordnung auch von Freunden infrage gestellt wird, geht einher mit schwindender Akzeptanz für eine Politik, die auf Verständigung und Kompromiss setzt. Populisten präsentierten sich als starke Führer, die nationale Lösungen propagieren und in erreichten Kompromissen, etwa am Brüsseler EU-Verhandlungstisch, ein Zeichen von Schwäche sehen.
Wenn Deutschland den Multilateralismus nachhaltig stärken will, müssen wir den Wert des Kompromisses in der internationalen wie nationalen Politik wieder als die eigentliche Königsdisziplin kluger Politik erkennen und propagieren. Die Bereitschaft zur Übertragung von Souveränität ist oftmals das einzige Mittel, nationale Mitwirkung am internationalen Geschehen überhaupt noch sicherzustellen. Mit der nationalen Souveränität ist es bei den großen Weltfragen unserer Zeit – Frieden, Sicherheit, Handel, Migration und Klima – nicht weit her. Allein auf sich gestellt, könnte sich das eine Prozent der Weltbevölkerung mit deutschem Pass im 21. Jahrhundert kaum behaupten. Misstraut den vermeintlich starken Männern und vertraut einer Politik, die geduldig dicke Bretter bohrt!
Jürgen Hardt, geboren 1963 in Hofheim am Taunus, seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags, Außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag.