„Aus der Geschichte lernen“ lautet eine Formulierung in zahlreichen Reden zu Gedenktagen. Gebildeter klingt es mit Cicero auf Latein: „historia magistra vitae“, Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens. Am häufigsten wird diese Aufforderung – zumindest in Deutschland – vermutlich auf den Nationalsozialismus bezogen. Um eine Wiederholung seiner Schrecken zu vermeiden, gelte es, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen.
Der genaue Blick entlarvt jedoch die Dürftigkeit dieser Position. Zunächst in Bezug auf das Konkrete: Soll wirklich erst die Erfahrung des sechsmillionenfachen Mordes an den Juden die Lehre von der moralischen Unzulässigkeit eines Genozids vermitteln? Hätten nicht die basalsten Gebote menschlichen Zusammenlebens ausreichen müssen, um die Shoah zu verhindern?
Und hilft die Kenntnis des Organigramms des Reichssicherheitshauptamtes, von Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts oder der Entstehungsgeschichte der SA, ein erneutes Abgleiten in die Barbarei unmöglich zu machen? Das simple Lernen aus der Geschichte im Sinne der Vermeidung bereits begangener Fehler bricht sich offensichtlich auch an der menschlichen Psyche. „Erfahrungen vererben sich nicht. Jeder muss sie allein machen“, fasste Kurt Tucholsky zusammen. Freudig-zuversichtlich schwören sich Jahr für Jahr Hunderttausende junger Menschen in Deutschland Treue, „bis dass der Tod uns scheidet“, obwohl die Scheidungsstatistik zur Skepsis mahnt. Nach gleichem Muster werden die eigenen Risiken durch Rauchen oder Extremsportarten unterbewertet. Die kompilierten Erfahrungswerte der Allgemeinheit mit dem eigenen Leben in Verbindung zu bringen, scheint den menschlichen Geist zu überfordern. Die Versuchung, Begründungen zu entdecken, die den Einzelnen zur Ausnahme von der Regel machen, scheint groß zu sein – selbst für Profis. Unter dem Titel Dieses Mal ist alles anders erzählen die Harvard-Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff die Geschichte der großen Finanzkrisen der letzten achthundert Jahre. Trotz ähnlich ablaufender Zyklen, trotz ähnlicher Krisenanzeichen retteten sich Anleger Mal für Mal in die Autosuggestion, die Lehren der Vergangenheit auf die eigene Situation nicht anwenden zu müssen.
Nur hinkende Vergleiche?
Die Einsicht in die Anfälligkeit ihrer Landsleute für politische Verführung veranlasste die Mütter und Väter des Grundgesetzes, die Lehren aus dem Scheitern der ersten deutschen Demokratie in den Institutionen der Bundesrepublik zu verankern. In vielerlei Hinsicht liest sich die De-facto-Verfassung der jungen deutschen Demokratie wie eine Auseinandersetzung mit der Weimarer Reichsverfassung, genauer gesagt mit den Elementen, die den Aufstieg Hitlers begünstigt haben: Statt eines starken Reichspräsidenten setzt das Grundgesetz auf ein Staatsoberhaupt, dessen Kompetenzen sich weitgehend im Repräsentativen erschöpfen. Anders als zu Weimarer Zeiten waren Plebiszite nicht vorgesehen. Die Auflösung des Parlaments wurde erschwert. Vertrauen, dass ihre Mitbürger die Lehren aus der Geschichte gezogen hatten, zeigten die Mitglieder des Parlamentarischen Rats also ausdrücklich nicht.
Allerdings ist bisher vermutlich noch kein Staatsstreich von einer Konstitution allein unterbunden worden, und auch der Aufbau der nationalsozialistischen Diktatur nach 1933 folgte nicht den Vorgaben der Verfassung. Ohne die Wertschätzung der Bürger für die demokratische Ordnung wird selbst das Grundgesetz seine Resilienz in Krisenzeiten nicht bewahren können. Sicherlich liefert die Geschichte – genau wie der internationale Vergleich der Gegenwart – überreiche Belege für die Überlegenheit des demokratisch verfassten Rechtsstaats mit marktwirtschaftlicher Ordnung. Solcherlei historisch gestützte Erkenntnis ist sicherlich geeignet, die demokratischen Überzeugungen zu festigen. Dennoch ist die Annahme zweifelhaft, das Wissen über die Vergangenheit werde vor politischen Fehlentscheidungen mit weitreichenden Folgen für die demokratische Gesellschaft bewahren. Denn: Dieses Mal ist doch alles anders!
Und ist es das nicht auch? Sind historische Analogien meistens nicht mehr als hinkende Vergleiche mit geringer Aussagekraft für die Gegenwart? Als sich nach der russischen Annexion der Krim die Frage nach der angebrachten Reaktion des Westens stellte, warnten viele Beobachter unter Verweis auf das Münchner Abkommen 1938 vor einem Appeasement, einer Beschwichtigung. Andere verwiesen auf die Julikrise 1914 und forderten stattdessen einen verstärkten Dialog, um den unbeabsichtigten Ausbruch eines großen Krieges zu verhindern. Die Frage, welches der beiden historischen Ereignisse besser auf die Situation im Frühjahr 2014 passte, lässt sich schwer beantworten. Sie setzt zumindest eine tiefe Auseinandersetzung mit der Vorgeschichte und den Rahmenbedingungen aller drei Ereignisse voraus. Aber selbst dann liegt keine Blaupause für das richtige Vorgehen vor, und Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, schützt nicht davor, neue zu begehen.
Wichtiges Orientierungswissen
Zugleich weisen die Krimkrise und historische Analogien auf zwei Arten hin, wie tatsächlich Nutzen aus der Geschichte gezogen werden kann: Zum einen bietet die Geschichte eine beinahe unbegrenzte Zahl von Fallbeispielen zum Studium menschlichen Verhaltens, Regierungshandelns, des Ineinandergreifens struktureller und personeller Faktoren, tatsächlicher wie vermeintlicher Notwendigkeiten und vieles mehr. Den Umstand der zeitlichen Abgeschlossenheit seines Gegenstandes hat der Historiker dem zeitgenössisch arbeitenden Sozialwissenschaftler ebenso voraus wie den umfangreicheren Zugang zu den Quellen. Eine vergleichsweise vollständige Untersuchung zur krisenhaften Entwicklung 1914, wie sie etwa Christopher Clark mit seinen „Schlafwandlern“ vorlegte, wird für die Krimkrise erst in einigen Jahrzehnten möglich sein. Der Blick in die Vergangenheit kann somit die Analysefähigkeit für die Gegenwart schärfen, gleichzeitig besteht wegen der bekannten Chronologie der Abläufe die Gefahr, zeitliche Korrelationen mit Kausalitäten zu verwechseln.
Weiterhin liefert die Kenntnis der Vergangenheit wichtiges Orientierungswissen. Selbst wenn aus der Historie keine direkten Handlungsanweisungen für den Umgang mit der russischen Aggression gezogen werden konnten, so hätte die Kenntnis der russisch-ukrainischen Geschichte manche Fehlannahme verhindern können. Gebetsmühlenhaft wiederholte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Behauptung, die Östliche Partnerschaft der Europäischen Nachbarschaftspolitik richte sich nicht gegen Russland. Eine kurze Betrachtung des Geschichtsbildes von Wladimir Putin und weiter Teile der russischen Gesellschaft hätte genügt, um zu erkennen, dass dies zumindest von russischer Seite aus anders wahrgenommen wurde. Das macht die europäische Politik nicht falsch. Die mangelnde Vorbereitung auf die gewaltsame Moskauer Reaktion offenbarte aber ein gerütteltes Maß Naivität, nicht zuletzt in historischer Hinsicht.
Wenn laut William Faulkner „das Vergangene … noch nicht einmal vergangen“ ist, sondern bis heute Realität wie Wahrnehmungen gleichermaßen prägt, ist die Kenntnis der Geschichte zum Verständnis der Gegenwart unumgänglich. Das betrifft besonders die Vergangenheit des eigenen Landes, und zwar nicht nur, um zu begreifen, woher man kommt, sondern auch, um zu verstehen, wie man von anderen wahrgenommen wird.
Historische Sensibilität ist unabdingbar
Die Aussage Alexander Gaulands, die NS-Zeit betreffe „unsere Identität heute nicht mehr“, ist nicht nur infame Apologetik, sondern offenbart auch einen doppelten Fehlschluss:
Erstens zeigt bereits das Bedürfnis, eine derartige Behauptung aufzustellen, ihre Haltlosigkeit. Eine vergleichbare Bemerkung über die Schlacht im Teutoburger Wald oder Heinrich I. hätte Achselzucken (unter Teilen der AfD-Anhänger vielleicht jedoch Entsetzen) ausgelöst. Im Falle des „Dritten Reichs“ wusste jedoch jeder, wovon eigentlich die Rede war.
Zweitens besteht Identität ebenso aus Eigen- wie aus Fremdwahrnehmung. Zwar mag es angenehm sein, sich als den hilfsbereiten Jahrgangsbesten zu sehen, der andere immer hat abschreiben lassen. Wenn einen aber die Klassenkameraden vor allem für einen selbstbezogenen Streber halten, hat das Auswirkungen auf die eigene Identität. Schon für sich genommen ist Gaulands Versuch, sich eine eigene historische Wirklichkeit zu basteln, in der Friedrich II. und Bismarck vorkommen, Hitler aber nicht, zum Scheitern verurteilt. Erst recht wird es nicht gelingen, den Nachbarländern eine solche Sicht auf die deutsche Geschichte vorzuschreiben.
Angesichts der Monstrosität der deutschen Besatzungsverbrechen und des millionenfachen Völkermords wird die Erinnerung an das „Dritte Reich“ die an Konrad Adenauer oder Willy Brandt wohl dauerhaft überlagern. Das bedeutet – anders als von rechter Seite unterstellt – keine ständige „Schuldkultur“, wohl aber historische Sensibilität. Wer heute als Deutscher in Polen, Belarus, der Ukraine oder Russland unterwegs ist – um die Länder zu nennen, die wahrscheinlich am stärksten unter den Nationalsozialisten gelitten haben –, wird fast ausschließlich positive Reaktionen erfahren. Das gilt auch für Israel, das Land der Überlebenden des Holocausts und ihrer Nachfahren. Neben Anerkennung für die Politik der Bundesrepublik und die wirtschaftliche Stärke unseres Landes liegt dies zu einem entscheidenden Teil auch daran, dass Deutschland und die Deutschen die historische Schuld akzeptiert haben und eben nicht versuchen, sie zu verharmlosen.
Alles andere als banal
Für den Einzelnen bedeutet dies, das notwendige Fingerspitzengefühl aufzubringen, das wiederum ohne historische Kenntnisse nicht zu haben ist. Wenn ein israelischer Gesprächspartner einem deutschen Touristen aus Frankfurt erzählt, auch die eigene Großmutter stamme aus dieser Stadt, ist das keine Aufforderung zur Reue, sondern eine Betonung von Gemeinsamkeiten. Dennoch erwartet er genug Geschichtsbewusstsein von seinem Gegenüber, die Frage nach dem Grund für die Auswanderung nicht zu stellen. Und im gleichen Sinne darf ein Pole oder Russe grundlegende Kenntnisse etwa über die Niederschlagung des Warschauer Aufstands oder die Belagerung Leningrads erwarten. Auch zum Vermeiden von Fettnäpfchen studieren wir Geschichte. Und das ist weit weniger banal, als es sich anhört.
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Alexander Brakel, geboren 1976 in Bonn, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem, Israel.