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Medienkulturen jenseits des Westens

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„Sogar wenn ich schlafe, bin ich verbunden. Ich bin jeden Tag, jede Stunde online“, sagt Pablo, ein junger Mann, der als Hilfsmechaniker in einer Favela arbeitet, einer informellen Siedlung für Menschen mit geringem Einkommen im brasilianischen Belo Horizonte. Seinen Facebook- und WhatsApp-Account checkt er ständig, um nur ja nichts zu verpassen. Mit seiner Leidenschaft für Digitales steht er bei Weitem nicht allein.

Krista, eine junge Frau aus dem Dorf Onamafila in Namibia, ist fest entschlossen, sich ihre „Dosis Digitales“ zu sichern, selbst wenn es für sie aufwendig ist. Weil das Netz in ihrem Dorf tagsüber nur sehr schwach zu empfangen ist, muss sie mehrere Standorte testen und nachts sogar auf Bäume klettern, um guten Empfang zu erhalten. „Selbst wenn man ein Handy hat, kann es passieren, dass man es eine oder zwei Wochen nicht benutzen kann, weil es kein Netz gibt […] Manchmal haben wir Netzempfang an einer bestimmten Stelle auf dem Acker eines Nachbarn, aber man muss etwa um Mitternacht dort sein, was sehr riskant ist, weil es hier in der Gegend wilde Tiere gibt.“

Das Risiko ist es ihr allerdings wert, weil sie so kostenlos Talkshows auf ihren Lieblingssendern, wie beispielsweise NBC Oshiwambo und Omulunga Radio, hören kann. Um auf diese Angebote zugreifen zu können, benötigt man nur ein Signal, denn die Handys sind in der Basisversion mit Radioempfängern ausgerüstet. Diese Unterhaltungsmöglichkeit kostet also nur die verpasste Nachtruhe.

Ich selbst bin Digitalanthropologin und habe etwa zwei Jahrzehnte mit der Erforschung verbracht, wie junge Leute, die in prekären Umständen auf der Südhalbkugel der Erde leben, digitale Medien nutzen. Dabei hat sich im Lauf der Jahre klar herausgestellt, dass diese jungen Leute alle von ihrem Streben nach digitaler Freizeitgestaltung, nach Unterhaltung, nach sozialen Kontakten, nach Liebe und Romantik angetrieben werden – ob sie nun aus einer brasilianischen Favela stammen oder aus einem Dorf in Namibia.

 

Schneegestöber aus TikTok-Videos

 

Diese jungen Leute sind zunächst einmal wie alle Teenies – mit entsprechenden Wünschen, trotz aller sozioökonomischen Zwänge. In dieser Hinsicht haben sie mehr mit einem Teenager in einer Bostoner Vorstadt oder einer Stadt in Deutschland gemeinsam als mit Erwachsenen im eigenen Umfeld. Ihr Ziel ist es, sich online zu verwirklichen und Inhalte sowie eine Gemeinschaft zu finden, die sie ansprechen. Rodrigues, ein junger Mann aus einer Favela in Rio de Janeiro, fühlt sich zu Hause, wenn er online ist.

„Viele würden mich als einen Verbrecher bezeichnen […] für diejenigen, die wissen, wie man das soziale Netzwerk nutzt, für diejenigen, die die virtuelle Welt im Allgemeinen nutzen, um über diese Dinge [über die systematische Diskriminierung] zu sprechen, ist es [das Netzwerk] also gut. Denn an vielen Orten, zu denen wir gehen, um über diese Dinge zu sprechen, klopfen wir an die Tür, und man schlägt uns die Tür vor der Nase zu. Wir können dann nicht miteinander darüber reden. Aber das soziale Netzwerk ist [für uns] da, und man kann sagen, was man will.“

Die Belesenheit der jungen Menschen mag zwangsläufig begrenzt sein; die Auswahl an Online-Tools ist es dagegen nicht. Bei ihrer Auseinandersetzung mit der Welt nutzen sie Voice Features, Google Translate, Emojis und Memes. Facebook ist so etwas wie ihr internationaler Reisepass, obwohl es vielen dieser neuen digitalen Nutzer vermutlich nie möglich sein wird, ihr Dorf oder ihre Region zu verlassen. Ihre Phantasie wird durch ein mächtiges Gemisch aus Medienwelten befeuert, das ihnen von Facebook, WhatsApp und YouTube in mundgerechten Häppchen serviert wird: Ihr täglicher Medien-Speiseplan besteht beispielsweise aus einer kräftigen Dosis aus Bollywood- oder Nollywood-Filmen (aus Indien beziehungsweise Nigeria), einem Schuss K-Pop, wie die aus Südkorea stammende Korean Popular Music genannt wird, und einem medialen Schneegestöber aus TikTok-Videos, das alles gewürzt mit Witzen oder ermunternden Sprüchen von Facebook oder WhatsApp.

Das globale Eintauchen in die Medien mag jedem, der diese Gebiete bereist hat, als eine Selbstverständlichkeit erscheinen. Für die meisten anderen ist es eher schwer zu verstehen. Schließlich verbreiten Mainstream-Nachrichtenagenturen, Hilfsorganisationen und internationale Thinktanks schon seit Jahrzehnten die Mär vom nationalen wirtschaftlichen Wohlstand und der digitalen Kluft – wie die weltweite Ungleichheit durch den unterschiedlichen Zugang zu Technologien und die Nutzung des Internets angetrieben wird. Ganze Institutionen wurden geschaffen, um diese Trennung zwischen den Haves und Havenots der Welt zu überbrücken.

 

Friedhof der „Zombie-Apps“

 

Um die weniger reichen Nationen mit ins Boot zu holen, versprechen ihnen die Hilfsorganisationen das Heil der digitalen Inklusion. Das heißt, sie vermitteln die Illusion, dass sich die Menschen wie einst in der Glanzzeit des Computers heute in der mobilen Internet-Phase mit einem Mausklick durch das Herunterladen einer App mit einem Sprung aus der Armut befreien können. Die Welt der Apps ist gut gerüstet; tausendfach produziert sie Apps, um Bauern, Kindern oder Frauen zu zeigen, wie man Felder besser bestellen, schneller lernen oder gesünder leben kann. Dabei erscheint es den Herstellern unerheblich, dass bereits ein ganzer Friedhof solcher „Zombie-Apps“ existiert, die digitales Terrain besetzen.

Vor dem Hintergrund dieser angebotsdominierten medialen Überschwemmung ereignete sich Unerwartetes: Die Nutzer entwickelten sich zu Königen des Internets. In dem Maße, wie in den letzten Jahren auf der gesamten Südhalbkugel des Planeten Mobiltelefone und Datentarife billiger wurden, bevölkerten jedes Jahr immer mehr junge Leute aus dem globalen Süden die sozialen Medien. Laut Facebook lagen die Länder mit den meisten Nutzern bereits 2021 zumeist außerhalb des Westens; Indien, Brasilien, Indonesien und Mexiko stehen an der Spitze. Laut dem KPMG-Report Media and Entertainment von 2019 kommen die Nutzer mit dem höchsten Verbrauch an audiovisuellen Produkten aus der sozioökonomisch am stärksten benachteiligten Gruppe.

Der indische Telekomriese Reliance Jio beeilte sich, viele dieser einkommensschwachen Nutzer „abzugreifen“ und sich mit ihren Datenverbrauchsgewohnheiten zu befassen. Schon frühzeitig war man sich darüber im Klaren, dass diese jungen Leute zwar knapp bei Kasse, allerdings freigebiger bei der Nutzung von Datenvolumen zur digitalen Freizeitgestaltung waren. Jio stürzte sich auf diese Erkenntnis und trieb seine Mitarbeiter dazu an, innerhalb dieser Nutzerbasis die Reichweite nach dem ABCD-Marketingprinzip zu vergrößern, das besagt, dass die Hauptinteressen dieser jungen Menschen in den Bereichen A=Astrologie, B=Bollywood, C=Cricket und D=Devotion liegen.

 

Suche nach Privatheit

 

Wir haben es hier mit einer Freizeit-Wasserscheide zu tun. Die Zukunft des Internets wird bestimmt durch die Herausbildung neuer Bruchlinien, die eventuell nicht in die traditionelle Unterscheidung von Nord- und Südhalbkugel passen (der Westen einerseits und alles andere andererseits). Stattdessen gelten möglicherweise Trennlinien, die auf Alter, Geschlecht, Herkunft oder anderen bereichsübergreifenden Identitäten basieren und von denen es abhängt, wem welche digitalen Freizeitaktivitäten offenstehen.

Auf der Südhalbkugel leben viele Jugendliche in Großfamilien, in denen oftmals mehrere Generationen in einem Raum zusammenleben. Wenn sie zu Hause sind, stehen sie unter der Beobachtung ihrer Familien; halten sie sich woanders auf, werden sie von den Nachbarn beobachtet, denn sie leben dicht gedrängt in Vierteln mit wenig öffentlichem Raum. Oft haben sie keine Möglichkeit, für sich zu sein. Kein Wunder also, dass sie versuchen, online zu „entfliehen“ und sich in der vermeintlich privaten Umgebung von Instagram, Facebook Messenger oder WhatsApp zu verwirklichen.

In einem politischen Klima, in dem Medienplattformen wegen möglicher Datenschutzverletzungen kritisch beurteilt werden, ist der Gedanke, dass sie dennoch mehr Privatsphäre gewähren können, außergewöhnlich. Tatsächlich aber ist Privatsphäre ein relativer Begriff. Darüber hinaus ist sie ein Luxus, den sich nur sehr wenige Jugendliche in ihrer prekären Lage leisten können. In Wahrheit verhalten sie sich trotz der permanenten sozialen Beobachtung außerordentlich ungezwungen in der Öffentlichkeit. Warum gehen sie dieses Risiko ein? Der Grund liegt in einem Wort: Liebe.

Jungsein bedeutet, sich verlieben zu wollen. Das gilt noch viel mehr in Kulturen wie Südasien oder Afrika südlich der Sahara, wo Ehen normalerweise arrangiert werden. Viele junge Leute haben sich damit abgefunden, möchten aber dennoch eigene Erfahrungen mit Beziehungen sammeln. In Regionen wie zum Beispiel dem Nahen Osten oder Südasien kann sich ein junger Mann normalerweise nur schwer mit einem Mädchen unterhalten, das nicht zur Familie gehört. Beispielsweise Surain, ein junger Mann aus Isnapur, einer kleinen Stadt in Indien: Er arbeitet in Teilzeit im Handyladen seines Onkels. Früher war er sehr schüchtern, wenn es darum ging, sich mit einem Mädchen zu unterhalten. Nicht einmal „Guten Tag“ konnte er ihr sagen.

Facebook hat das verändert, es hat sein Leben umgekrempelt. Er lernte dort ein Mädchen kennen, und sie verliebten sich. Weil sie nicht denselben Glauben hatten, mussten sie weglaufen, um zu heiraten. Die Ehe war für die jungen Leute – Mitte zwanzig – nicht einfach: „Wenn mich jetzt jemand (online) um Hilfe bittet, frage ich als Erstes, handelt es sich um ein Beziehungsproblem? Falls ja, gehe ich nach Hause [bin ich raus]. Facebook hat viel Schlimmes angerichtet, aber wir mögen es trotzdem [lacht].“ Facebook ist ihr Tinder, Grindr und Bumble in einem.

 

Digitale Romantikwirtschaft

 

Surain hatte allerdings noch Glück. Viele junge Männer wie er geben perfekte Zielscheiben für Liebesbetrüger im Internet ab. Jedes Jahr sind diese Schwindler fleißig dabei, solche digitalen Neulinge um ihr Geld zu erleichtern. Mithilfe gefälschter Facebook-Profile von hübschen Mädchen freunden sie sich mit ihnen an, und wenn sie erst einmal ihre „Freundin“ geworden sind, bitten sie um mobile Zahlungen. Bots schicken ihnen im Chat Nachrichten mit sexuellem Inhalt und lenken sie auf Porno-Seiten, damit sie „männlicher“ werden. Apps wie L’Amour versprechen ihnen, dass sie „eine Freundin innerhalb einer Woche“ finden und so der „nächtlichen Einsamkeit“ entrinnen können. Sind sie erst einmal am Haken, steigen die Kosten aufgrund weiterer Features. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass es in Indien und China jeweils siebzig Millionen mehr Männer gibt als Frauen. Einerseits besteht in diesen Ländern aufgrund tief verwurzelter Vorurteile in den jeweiligen Gesellschaften ein großer Frauenmangel; andererseits gibt es ein starkes Bedürfnis, zu lieben und geliebt zu werden.

Bei Mädchen ist das Privacy-Risiko noch weitaus höher, weil durch jeden kleinen Ausrutscher im Internet, sei es ein „freizügiges“ Selfie, ein „allzu sozialer“ Kommentar oder einfach die Tatsache, dass man in einem sozialen Netzwerk vertreten ist, ihr Ruf oder sogar ihre Heiratsaussichten gefährdet werden könnten. Ihr Privatleben gehört nicht ihnen, sondern ihren Familien, deren Ehre mit dem Verhalten ihrer Töchter verknüpft ist. Viele dieser Mädchen betrachten den Umgang mit sozialen Medien als etwas für „reiche junge Frauen“, der mit moralischer Schwäche einhergeht. Rizwana, ein Teenager aus einem Slum in Delhi, erklärt die Logik ihres Wunsches, gleichzeitig anwesend und abwesend sein zu wollen, so: „In einer reichen Umgebung dürfen Mädchen alles, und niemand wirft ihnen etwas vor. Für jemanden, der aus meiner Gesellschaftsschicht stammt, gelten solche Mädchen als charakterschwach. Ich will nicht sein wie sie. Ich will das Telefon benutzen, aber nur, um zu sehen, was die anderen machen, und vielleicht ihre Fotos zu liken, damit sie wissen, dass ich auch in den sozialen Medien präsent bin.“

Dies erklärt den stetigen Rückgang der Nutzung sozialer Medien durch Mädchen und Frauen trotz verbesserter Zugangsmöglichkeiten. Wie dem auch sei – wenn man wirklich verstehen will, was Privatheit außerhalb des Westens bedeutet, darf man die digitale Romantikwirtschaft nicht außer Acht lassen.

 

Nächster Medientrend nicht aus dem Westen

 

Laut dem Digital 2021 Global Overview Report zu globalen Medientrends wird „der nächste große Trend im digitalen Bereich nicht aus einem westlichen Markt kommen“. Selbst die Medienfreaks aus dem Silicon Valley empfehlen einen Blick über den eigenen Tellerrand, wenn man das künftige Verhalten des Publikums verstehen will. Auch Risikokapital-Investoren schauen nicht mehr allein auf den Westen. Für sie liegt China im Handel mit FinTech-Startups um etwa ein Jahrzehnt in Führung. Wo westliche Medien noch zögern, ihre Zehen ins Wasser zu stecken, sind Länder wie Indien oder China bereits im Kopfsprung eingetaucht und kümmern sich um „die nächste Milliarde Nutzer“, die zwar mit ihren begrenzten Ressourcen wirtschaftlich am Rand stehen, aber hoch motiviert sind – eine aufstrebende Klasse.

Etablierte Technologietitanen wie Microsoft, Amazon, Facebook, Google und Apple haben ihre Plattformstrukturen für ihre Nutzer weltweit mithilfe geringfügiger Änderungen vervielfacht. Von Tech-Start-ups jedoch, insbesondere denen auf der Südhalbkugel, können wir radikale Umbrüche erwarten. Mit dem Ohr am Puls der lange ruhig gebliebenen Märkte könnten sie dem Begriff „Co-Design“ eine Bedeutung jenseits des Schlagworts verleihen. Der Gedanke einer Kultur – in vollem Umfang ihrer soziolinguistischen und kontextuellen Vielfalt – könnte endlich zu seinem Recht kommen.

 

Payal Arora, geboren 1975 in Bengaluru (Indien), Digitalanthropologin, Professorin am Lehrstuhl für Technologie, Werte und Medienkulturen, Erasmus-Universität Rotterdam, Autorin und Beraterin.

 

Literatur

Payal Arora: The next billion users: digital life beyond the West, Harvard University Press, Cambridge/Massachusetts 2019.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Becker, Germersheim