Asset Publisher

Der 100. Deutsche Katholikentag als Demonstration für den Dienst am Menschen

Asset Publisher

Zum 100. Mal nach Mainz 1848 findet – vom 25. bis zum 29. Mai 2016 – der Deutsche Katholikentag statt. Die erste dieser Versammlungen des Laienkatholizismus in Deutschland stand unter dem Zeichen des Revolutionsjahres. Die bürgerliche Koalitionsfreiheit war soeben errungen worden, und die neuen Verbände und traditionellen kirchlichen Vereinigungen verschafften sich eine Stimme in der Öffentlichkeit. Nach 1871, im neugegründeten kleindeutschen Reich und in seinem „Kulturkampf“, waren Katholikentage eine Möglichkeit, sich als ein Drittel Katholiken gegenüber zwei Dritteln Evangelischer in einer „Heerschau“ vernehmbar zu machen. Die Entwicklung eines politischen Katholizismus, die Selbstbehauptung und sozialpolitische Wirksamkeit bis zum Nationalsozialismus: Das alles spiegelt sich in der Geschichte der Katholikentage.

Nach 1945 trennten sich die Wege eines westdeutschen Katholizismus mit seiner konfessionellen Verteilung von 50:50. In der Sowjetischen Besatzungszone mit ihren Diasporagebieten bildeten die Katholiken eine extreme Minderheit. Die Verhältnisse haben sich im wiedervereinten Deutschland erheblich gewandelt: 1997 war ein Drittel der Bevölkerung katholisch, daneben aber ein weiteres Drittel evangelisch und ein Drittel andersoder nichtglaubend. Die deutsche Gesellschaft ist nicht allein weniger konfessionell, sie ist auch deutlich pluraler geworden. Früher fremde Religionen sind wie esoterische Weltanschauungen inzwischen eine alltägliche Erfahrung. Heute sind wir in Deutschland – in stark gerundeten Zahlen – dreißig Prozent Evangelische, dreißig Prozent Katholische, dreißig Prozent Nichtglaubende, fünf Prozent Muslime und fünf Prozent Andersglaubende.

In Leipzig, dem Ort des 100. Deutschen Katholikentags, stehen wir nun wieder einer anderen Öffentlichkeit gegenüber, in der nur zwanzig Prozent Getaufte leben, darunter 4,3 Prozent katholische Christen. Achtzig Prozent sind nicht eigentlich Atheisten, sondern nehmen eher eine indifferente Haltung einem Glauben gegenüber ein, den sie zumeist nicht kennen. Wir finden auf der einen Seite einen aggressiven Säkularismus mit scharfen Angriffen nicht allein auf die Kirchen, sondern überhaupt auf religiös begründete Argumentationen, wie wir es etwa in der Debatte um den geschäftsmäßigen assistierten Suizid erlebt haben. Verstärkt wurde diese Richtung nicht zuletzt durch Debatten des Jahres 2010 um die Missbrauchsskandale und die Finanzdebatten des Jahres 2014. Die Indifferenten erleben Religion kaum als etwas, was als Verlust zu erachten wäre: Mit dem Ausspruch „Ich glaube nichts – mir fehlt nichts“ sind diese charakterisiert.

Seit ihrem Beginn 1848 war es Ziel der Katholikentage, sich für die Menschen einzusetzen, für ihre Glaubens- und Meinungsfreiheit, für ihre sozialen und wirtschaftlichen Rechte, für ihre Bildung, für den Schutz ihres Lebens und für die Achtung ihrer Menschenwürde. Stets stand der Mensch mit seiner Freude und Hoffnung, mit seiner Trauer und Angst im Mittelpunkt, immer vor dem Hintergrund der Probleme, der Herausforderungen und der Chancen der jeweiligen Zeit. Das wird auch beim 100. Deutschen Katholikentag wieder so sein.

 

Das Motto

„Seht, da ist der Mensch“, lautet die zentrale Botschaft, die wir über die Einladung gestellt haben. Sie ist Leitwort und thematische Richtschnur zugleich. Ganz bewusst wurde für diesen Jubiläumskatholikentag ein Leitwort gewählt, das von höchster Aktualität ist, zugleich aber auch als Summe aller Leitworte der vergangenen Jahrzehnte verstanden werden kann. Es zitiert die Worte, mit denen in der Bibel Pilatus den gefolterten und verspotteten Jesus präsentiert.

Der Blick auf den geschundenen Menschen ist zugleich der Blick auf unseren Herrn und Gott.

„Seht, da ist der Mensch“ ist zudem Zeitansage und Zukunftsprogramm. Den jeweils individuellen Menschen in den Mittelpunkt des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Handelns zu stellen, ist eine der zentralen Aufforderungen der Gegenwart. Häufig haben Menschen den Eindruck, dass Macht und Einfluss, Geld und Kapital, Konsum und Wohlstand wichtiger als alles andere sind. Es geht uns darum, den Schwachen zu helfen, Strukturen zu verändern, Interessenkonflikte aufzuzeigen, Menschenwürde zu thematisieren. Die Veranstalter des Katholikentags sind davon überzeugt, dass der Mensch neu in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen und politischen Planens und Handelns gerückt werden muss. Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst und Kultur sind dazu in umfassender Weise herausgefordert.

Sowohl der wissenschaftlich-technische Fortschritt als auch die Globalisierung der Kultur- und Wirtschaftsräume stellen uns heute und in Zukunft vor nie dagewesene Herausforderungen. Nicht zuletzt der gegenwärtige Flüchtlingsstrom zeigt: Die Eine Welt ist bei uns angekommen. Welche Lösungsbeiträge wir als katholische Frauen und Männer einbringen können, das soll auf dem diesjährigen Katholikentag beraten werden.

Der Katholikentag in Leipzig wird ganz wesentlich von dieser Perspektive der gemeinsamen Aufgaben und Dienste, die Christen mitgestalten wollen, geprägt sein. Nicht Kircheninteressen oder unsere Interessen als Christen stehen im Vordergrund, sondern die gemeinsame Verantwortung für die jetzigen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf Menschen in aller Welt und für die nachkommenden Generationen. Diese Aufgaben brauchen viel Sachkompetenz, viel Engagement, einen langen Atem.

 

Hüter der Solidarität

Die Kirchen treffen trotz aller zunehmenden Säkularisierung auf eine große Offenheit und ein großes Interesse an ihren Argumentationen. In dem Markt der Möglichkeiten sind die Kirchen gefragt als Hüterinnen der Quellen gesellschaftlicher Solidarität, von denen Jürgen Habermas mahnend spricht. Obwohl wir uns auf einem Markt der Möglichkeiten bewegen, sind alle die Kräfte gefragt, die zu einer Kohärenz in der Gesellschaft beitragen können. Nicht erst die schärfer werdenden Auseinandersetzungen im Gefolge der Flüchtlingsproblematik zeigen die Notwendigkeit von Instanzen, die zur Übereinkunft auf einer gemeinsamen Wertebasis beitragen können.

Ganz besonders sind Beiträge zum ethischen Diskurs gefragt. Wenn wir noch einmal auf die sogenannte „Sterbehilfe“-Debatte schauen, erkennen wir, dass die intensive, argumentative Aktivität der Kirche und nicht zuletzt des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) zu einer deutlichen Versachlichung der Debatte beitragen konnte. Es gibt allerdings Bedingungen dieses Auftretens: Wollen katholische Frauen und Männer glaubwürdig auftreten, dann gelingt das nur, wenn sie dies nicht auftrumpfend, nicht besserwisserisch, nicht autoritär, sondern dialogisch, argumentierend, anbietend, partnerschaftlich tun.

 

Die „wahre Macht“

Das Grundmotto der politischen Aktivitäten des ZdK und der Kirche allgemein ist der Gedanke des Dienstes. Bereits in seiner „Mannheimer Erklärung“ hat das ZdK 2012 diesen Gedanken besonders herausgearbeitet. Seit seiner Wahl im März 2013 hat Papst Franziskus dieses Thema zum Kern seines Pontifikats gemacht. Einer seiner Buchtitel lautet: „Die wahre Macht ist der Dienst“. Christen, so sagt der Papst, erkennt man daran, dass sie nach dem Beispiel Jesu anderen Menschen dienen. Denn der „Dienst“ gehört zum Kern des Christentums.

Jesus selbst hat durch Wort und Beispiel das Verhältnis von Dienen und Sich-bedienen-Lassen umgekehrt. Die Haltung Jesu, „ich bin unter Euch als Diener“, bringt eine ganz neue Beziehung zwischen den Menschen zum Ausdruck. Und dieses „Dienen“ macht Menschen zu Jüngern Christi. Dienst, das ist nicht allein die Sorge um soziale Bedürfnisse, sondern meint, „dienstbar zu sein“ im umfassenden Sinn. Im Markus-Evangelium (10, 43 – 45) heißt es: „Wer bei euch groß sein will, der soll den anderen dienen, und wer der Erste sein will, der soll der Diener aller sein. Auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen.“ Damit setzt Jesus eine neue Ordnung der Rangordnung seiner Zeit entgegen. Für Christen gibt es nur einen Weg zur Größe: den des Dieners. Seine höchste Ausformung findet der Dienst für andere darin, dass er zum Christusdienst wird, weil sich Jesus mit den Geringsten gleich macht: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40).

 

Probleme innerhalb der Kirche

 

Auch innerhalb der Kirche gibt es eine Fülle von Themen, die zu diskutieren sind: Der Glaubensschwund in der Gesellschaft ist offensichtlich; dramatisch spitzt sich der Priestermangel in Deutschland zu; in neuen Großpfarreien fürchtet man Anonymität. Die Reformanfragen scheinen eindeutig: Wie geht die Kirche mit wiederverheirateten Geschiedenen um? Wann wird der historische Diakonat der Frau wieder möglich? Wie können mehr Menschen Priester werden – auch wenn sie verheiratet sind? Wie gewinnen wir eine für unsere Zeit übersetzte Sexualmoral? Anderes mehr ließe sich nennen.

Alle solche Fragen zur Struktur und Verfasstheit der Kirche müssen offen diskutiert werden. Dennoch: Diese Fragen stehen nicht an erster Stelle. Sie sind Teil in einer „Ordnung der Wahrheiten“, wie es das Konzil vor fünfzig Jahren genannt hat. Denn erstrangig ist das Ziel, dass alle in der Kirche und die Kirche als Ganzes möglichst gut ihren Dienst erfüllen können. So kann der binnenkirchliche Blick geweitet werden. Es geht nicht zuerst und vor allem um die Verfasstheit der Gemeinschaft, sondern um deren Ziel, das außerhalb ihrer selbst liegt. Die innerkirchliche Ordnung ist nicht Selbstzweck, sondern muss auf das Zentrum des Glaubens ausgerichtet sein: auf den Dienst für die Menschen und für Gott.

Wenn es gelingt, die Verengung auf die innerkirchlichen Probleme aufzubrechen, dann werden diese Themen in den angemessenen Kontext gestellt. Die neuere Kirchengeschichte hat gezeigt, dass kirchliche Ereignisse nie rein kirchliche Phänomene waren, sondern erst in ihrer Zeit zu verstehen sind. Gesellschaft und Kirche, das sind keine geschiedenen Welten, sondern verschränkt und verbunden in den einzelnen Menschen, die eben als Mann oder Frau, alt oder jung, berufstätig oder nicht, politisch oder sozial engagiert, in einer Fülle von „Identitäten“ Christen sind.

 

„Salz“ und „Sauerteig“

Das Zweite Vatikanische Konzil, das vor etwa fünfzig Jahren in Rom zu Ende ging, hat das Leitbild einer „offenen Kirche“ vor allem in seiner Pastoralkonstitution Gaudium et Spes formuliert. Diese Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils sind keine Neuerungen, sondern eher Erinnerungen an Quellen, die gelegentlich verschüttet gewesen sein mochten. So sagt der Diognetbrief, eine Schrift aus dem zweiten Jahrhundert, die Christen seien weder durch Sprache noch durch Sitten von den übrigen Menschen verschieden. Sie bewohnten keine eigenen Städte, noch führten sie ein absonderliches Leben. Jede Fremde sei für sie Vaterland und jede Heimat Fremde. Es heißt dann über ihren Dienst für die Welt, die sie mit ihrer Aktivität durchdringen sollen:

„Was im Leib die Seele ist, das sind in der Menschheit die Christen. […] Auf diesen erhabenen Platz hat Gott selbst sie gestellt, den zu verlassen ihnen nicht zusteht“ (An Diognet 6).

Was bedeutet solch ein Dienst konkret? Wie und für wen kann und muss die Kirche eine dienende Kirche sein? Zunächst ist da der einzelne Mensch, ob gläubig oder suchend, ob Getaufter, andersgläubig oder Atheist. Es geht um ein offenes Zugehen auf den, der uns begegnet, auf den „nicht ausgesuchten anderen“ (Emmanuel Levinas). Dass dies in diesen Monaten vor allem „der Fremde in deinen Toren“ ist, versteht sich von selbst. Darüber hinaus bezeugen Christen nicht nur mit Worten die „Liebe und Menschenfreundlichkeit unseres Gottes“, die in Christus erschienen ist, sondern lassen das auch praktisch werden im sozialen Dienst für Einzelne sowie für die Gesellschaft. Christen schalten sich in politische und gesellschaftliche Debatten ein und wirken mit für einen gerechten Staat und eine menschliche Gesellschaft.

 

Vielschichtigkeit des Dienstes

Kirche ist sicher nicht nur Reparaturanstalt für Lücken der Sozialordnung oder nur zuständig für die Ausführung staatlicher Aufgaben: Aber als Kirche gestalten und wirken Christen mit im Dienst in den verschiedenen Formen der Gesellschaft. Der Dienst schließt den Einsatz für die ein, die sich nur schwer oder gar nicht Gehör verschaffen können.

Der Dienst macht – schließlich – nicht an staatlichen Grenzen halt. Der Dienst erstreckt sich auf alle Menschen. Er darf nicht unterscheiden zwischen einer Gerechtigkeit für Europäer und dem Unrecht in anderen Teilen der Welt. Einsatz für weltweite Gerechtigkeit gehört zum Wesen des christlichen Dienstes. Als Kirche wissen sich Christen als Glieder einer übernationalen Gemeinschaft, die nicht wertet nach irgendwelchen nationalen Abgrenzungen. Und: Die Verantwortung erstreckt sich auf Menschen und Schöpfung gleichermaßen.

Solcher Dienst geschieht in der Kirche auf ganz unterschiedliche Weise; auffallend und – noch häufiger – unspektakulär. Diejenigen, die solche Dienste nicht zuletzt ehrenamtlich im sozialen Bereich, von Flüchtlingsheimen und Kindergärten bis zu Besuchsdiensten, im kulturellen Bereich, von den Büchereien bis zu den Chören, im kirchlichen Bereich, vom Diakonat bis zur Kirchenpflege, im persönlichen Bereich im Aufbrechen von Einsamkeit oder so viel anderes tun, verdienen Anerkennung und auch die Vermittlung ihres Dienstes in eine Öffentlichkeit, deren Medien solche Themen zumeist ausklammern.

Gläubige leben mit der Gewissheit, dass die Aufgaben, die der Dienst bedeutet, nicht allein erfüllt werden müssen. Die Bibel gibt Gewissheit: „Der Geist nimmt sich unserer Schwachheit an“ (Röm 8,26), und Jesus sagt bei seinem Abschied: „Ich bin bei euch alle Tage“ (Mt 28,20). Diese Zusage gilt nicht allein für die unmittelbar politische Wirksamkeit. Gesellschaftliche Wirksamkeit, das heißt auch: Ansprechpartner zu sein für Menschen in ihren Sorgen, in ihrer Trauer und in ihrem Glück.

 

Thomas Sternberg, geboren 1952 in Grevenbrück (Sauerland), Mitglied der CDU-Fraktion im Landtag Nordrhein-Westfalen, seit 2015 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Vorsitzender der Leitung des 100. Deutschen Katholikentages.

comment-portlet