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Dass die Begriffe „Sicht“ und „Einsicht“ unterschiedliche Verwandte sein können, ist eine philosophische Urerkenntnis. Neuere Wahrnehmungsdefizite lassen es geraten erscheinen, dem für offensichtlich Gehaltenen wieder verstärkt zu misstrauen. Der für die meisten zuvor unvorstellbare Brexit, der ausgeschlossen geglaubte Wahlsieg Trumps und vor allem die bis zuletzt verdrängte Möglichkeit eines russischen Überfalls auf die Ukraine haben vermeintlich unerschütterliche Weltsichten ins Wanken gebracht.

Vieles, was abzusehen war, wurde übersehen – und so ist die Deutung, dass die Welt am 24. Februar 2022 eine andere geworden sei, die nächste Beschwichtigungsillusion. Wie sehr Fremdtäuschung und Selbstverblendung fortdauern, demonstrieren die „Versteher“ des längst zum Serienmörder gewordenen Kremlherrn in extremer Form. Sie halten am Trugbild eines harmlosen, aber in die Enge getriebenen Potentaten fest und zeigen sich gleichzeitig von dessen düsteren Atom-Drohungen höchst alarmiert.

Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Andres Kilger (CC BY-NC-SA 4.0)
Ein falscher Blick? Adolph Menzel (1815–1905), „Frauenbildnis. Fragment“, um 1846, Öl auf Leinwand auf Pappe, 42 x 29 cm.

Die verspätet ausgerufene „Zeitenwende“, die sich schon in der sicherheitspolitischen Praxis weiter verzögert, wird keine neuen Zeiten hervorbringen, sollte es nicht gelingen, das „Sehen“ zu verändern. Zum einen müsste es darum gehen, die notorischen Schattenbilder – insbesondere der alten Ostpolitik – endlich loszuwerden. Zum anderen heißt es, Abschied zu nehmen von einem einseitig technisch geprägten politischen Denken, das das Weltgeschehen für auslesbar hält und es in Prozessen zu erfassen sucht, jedoch kaum etwas beizutragen weiß, wenn sich das ideologische Weltverständnis weiterentwickelt.

Längst beeinflussen neue Denkansätze wie die Identitätspolitik die gesellschaftliche Realität. Heute zeigt sich, dass die Relevanz dieser forcierten Fortschrittsmodelle teils unterschätzt worden ist. Ihre Anhängerschaft ist inzwischen oftmals derartig mobilisiert, dass die Kritik meist entweder ähnlich erregt oder eingeschüchtert reagiert. Noch traut sich beispielsweise nur ein ziemlich einsamer Rufer – und das ausgerechnet im Spiegel –, den Anspruch einer „feministischen Außenpolitik“ als eine „Art Staatsdoktrin“ argumentativ infrage zu stellen. Wer mag dem eigentlich Guten wie Frauenrechten schon widersprechen?

Das Neue, geistesgeschichtlich vermutlich eine alttestamentarische Erfindung, ist im christlich inspirierten Denken ambivalent und bewegt sich zwischen Hoffnung und Skepsis. Die Aufgabe besteht darin, dem Neuen offen zu begegnen, möglichst integrative, aber zugleich selbstbewusste Antworten auf andere Denkansätze zu erarbeiten und – wenn es gut geht – wachen Auges selbst neu zu denken.

 

Bernd Löhmann, Chefredakteur

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