Droht das Ende jeglicher Normalität? Die Apologeten des digitalen Gezeitenwechsels sehen die Gegenwart schwinden. Nichts sei mehr selbstverständlich, stabil, verlässlich. Nehmt Abschied, lautet die einseitige Botschaft! Dass das Land ökonomisch wie sozial ziemlich gefestigt dasteht, ist in einer Nachruf-Gesellschaft nicht von Belang. Allein die – je nach Ausgangsposition – trostlosen oder glänzenden Aussichten fallen ins Gewicht.
Unübersehbar sind Erosionsprozesse. Barack Obama beschrieb kürzlich den Zu- stand der US-amerikanischen Politik als „nicht normal“. Verstörender waren die Ereignisse in Chemnitz, bei denen die legitime Demonstration durchaus berechtigter Sorgen und rechtsextreme Ausschreitungen bedenklich nahe beieinanderlagen. Ist Ausrasten jetzt normal, wie es ein AfD-Vertreter rechtfertigend erklärte?
Dass die Stimmung schlechter ist als die objektive Lage, mag pauschal zutreffen – auch beim Thema Innere Sicherheit. Aber was hilft das schon? Nichts wäre sträflicher, als den Unmut für ein großes Missverständnis zu halten. Wer darauf noch dazu im Ton enttäuschter Vorgesetzter reagiert, die es besser wissen und die Harthörigkeit ihrer Untergebenen beklagen, mehrt den Verdruss. Der aus der Wahrnehmung von Herabsetzungen gespeiste Widerwille gegen alle, die das Sagen haben, zieht das Band zu den Populisten und Extremen, das es zu kappen gilt.
Politik und politische Bildung stehen vor der Aufgabe, ausgerechnet die zunehmende Zahl der „Normal-Aussteiger“ ansprechen zu müssen, die von ihr nichts mehr wissen wollen. Vereinnahmende Volkspädagogik, die gute Absichten und Stimmungen – oder gar sogenannte neue Narrative – unter den Leuten verbreitet, löst eher allergische Reflexe aus. Statt wohliger Darstellungspolitik bietet eine problemorientierte und bürger- zentrierte Politikvermittlung weit mehr Chancen, erfolgreich Kontaktflächen auf Augenhöhe zu schaffen. Nicht Umarmung ist das Ziel, sondern die Aktivierung bürgerschaftlicher Laienkompetenz.
Politikvermittlung setzt voraus, dass es etwas Substanzielles zu vermitteln gibt. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn auch die Politik und ihr Umfeld sind nicht frei von der Sucht nach Klickzahlen, Trends und stetig neuen Reizen, die die Aufregungsdemokratie auf Hochtouren hält. Es geht, so widersinnig es klingt, um eine Re-Politisierung von Politik, um Konzentration und Klarheit – um Normalisierung.
Zweifellos ist „normal“ kein wählersoziologisch valider Begriff. Doch gebräuchlich wird er genau dort, wo sich die Frage demokratiefeindlicher Entgrenzung stellt. Zeigt das nicht, wie wichtig es ist, bürgerschaftliche Normalität abzubilden und zu vertreten – selbst wenn sie noch so diffus erscheint? Wenn im Zeitalter der Digitalisierung das Undenkbare Normalität wird, könnte das Normale die neue Utopie der Volkspartei der Mitte sein.
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Bernd Löhmann, Chefredakteur