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Wie viel vom enthusiastischen „Wir“ der Willkommenskultur noch übrig ist, wer wüsste es Ende Januar 2016 noch zu sagen? Es schwelt eine verwirrte Stimmung, in die sich auch eine „seltsame Lust am Untergang“ (Jan Fleischhauer) mischt. Gegen alle Klugheit droht allenthalben das verbindende „Wir“ dahinzuschwinden: in Europa, in Deutschland, unter den demokratischen Parteien, in der Unionsfamilie. Dabei müsste eigentlich allen klar sein, dass die höchst komplexen Anforderungen der Flüchtlingskrise den Rückzug auf einseitige Positionen nicht zulassen.

Niemand verfügt über den einen Schalter, mit dem sich per Knopfdruck alle Schwierigkeiten aus der Welt schaffen ließen. Nur das Drehen an verschiedensten Stellschrauben bietet die Gewähr, dass nicht neue, möglicherweise noch schlimmere Krisen losbrechen. Wer beispielsweise für eine nationale Obergrenze eintritt, kommt nicht umhin, die Folgen für die Balkanländer und die dort aufbrandende Flüchtlingswelle zu bedenken.

„Pulverfässer“ hat es dort zu Genüge gegeben. Bestürzend ist, wie sorglos europäische Errungenschaften derzeit für obsolet erklärt werden. Darf man denn ernsthaft annehmen, dass sich die Überlastungen durch die Flüchtlingssituation vermindern werden, wenn Europa Schaden nimmt? Kurzfristig mögen nationale Alleingänge Erleichterung schaffen, aber – voneinander losgelöst handelnd – würde die Überforderung der Einzelstaaten zwangsläufig wachsen. Bei den Fluchtbewegungen handelt es sich um ein globales Phänomen, dem sie nie und nimmer allein Herr werden könnten. Kontrollverluste drohten dann erst recht: Wer glaubt denn, dass eine von Not und Kriegen getriebene, im Aufbruch befindliche Welt „ferne Inseln der Glückseligen“ unberührt lassen würde?

Das aktuelle Drama muss nicht zur Tragödie werden. Zu „mehr Verliebtheit ins Gelingen“ rät – noch relativ einsam im derzeit düsteren deutschen Blätterwald – der Journalist Thomas Schmid mit Blick auf europäische Lösungswege und verweist darauf, dass zuweilen aus schwachen Positionen heraus mehr bewirkt worden ist als „aus dem Realismus der Abgebrühten“.

Europa steht nicht zum ersten Mal am Scheideweg. Da muss diskutiert werden, da kann man in vielen Fragen – wie etwa der deutschen und europäischen Identität sowie der Integrationsziele – unterschiedlicher Meinung sein. Dies spiegelt diese Ausgabe der Politischen Meinung besonders deutlich wider. Aber die Richtung muss erkennbar bleiben: Ein Zerfall Europas muss verhindert werden! Alles andere wäre eine Kapitulation vor der Zukunft.

Bis auf Weiteres werden deshalb bitte die Apokalypsen vertagt – die lustvoll herbeigeraunten wie die wirklich drohenden.

 

Bernd Löhmann, Chefredakteur

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