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Syriza und die Krise des griechischen Klientelismus

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Seit das „Bündnis der radikalen Linken“ Ende Januar die Parlamentswahl in Griechenland gewonnen hat, ist oft versucht worden, die Partei und ihren Vorsitzenden Alexis Tsipras zu deuten. Für was steht das Bündnis, das nach dem Akronym aus dem Griechischen als „Syriza“ transkribiert wird? Was will Tsipras, der im Alter von vierzig Jahren Regierungschef des am höchsten verschuldeten Staates Europas geworden ist?

Dass Syriza erst im Zuge der Krise von einer oppositionellen Splittergruppe zur stärksten politischen Kraft Griechenlands geworden ist, macht die Beantwortung dieser Fragen nicht einfacher. Noch im Oktober 2009, bei der letzten Parlamentswahl vor dem offenen Ausbruch der seit langem schwelenden griechischen Überschuldungskrise, hatte Syriza nur 4,6 Prozent der Stimmen erhalten. Im Januar waren es mehr als 36 Prozent. Die Syriza von 2015 hat mit der Syriza von 2009 nicht mehr viel gemein. Die „alte Syriza“ war ein elitärer Debattierclub vornehmlich Athener Linksintellektueller, deren maximalistische Ideen in der Schwerelosigkeit ihres oppositionellen Reservats verhallten. Syriza bestand aus einem Dutzend kleinster Weltanschauungszirkel, die für sich genommen politisch irrelevant und auch als loser Zusammenschluss nur von nebensächlicher Bedeutung waren. Die Partei wäre noch heute nur eine Fußnote des griechischen Parlamentarismus, hätte die Krise Griechenlands politische Landschaft nicht von Grund auf verändert.

Seit dem Zusammenbruch der Militärherrschaft 1974 hatten die konservative Nea Dimokratia und die Panhellenische Sozialistische Bewegung (Pasok) einander beim Regieren abgelöst. Griechenland war ein fest gefügtes Zweiparteiensystem. In den 1970erund frühen 1980er-Jahren waren die beiden Parteien so populär, dass sich keine dritte Kraft Hoffnung auf eine Regierungsbeteiligung machen konnte. Koalitionen fanden nicht statt. Als die absolute Dominanz von Nea Dimokratia und Pasok Ende der 1980er-Jahre langsam zu schwinden begann, sicherten sich die beiden Volksparteien ihre wechselnde Alleinherrschaft durch eine Änderung des Wahlgesetzes. Zunächst fielen vierzig, dann sogar fünfzig der 300 Parlamentsmandate der jeweils siegreichen Partei per Gesetz als Bonus zu. Die Bonusklausel sicherte beiden Parteien auch dann noch Alleinregierungen, als die Wahlergebnisse und das gesellschaftliche Klima eigentlich immer unmissverständlicher Koalitionen nahelegten. Die auf absehbare Zeit letzte Wahl, bei der eine Partei mithilfe der fünfzig Bonussitze allein eine Regierung bilden konnte, gewann 2009 die Pasok. Es ist bezeichnend, dass die Pasok 2015 nur noch 4,7 Prozent der Stimmen erhielt, also ziemlich genau das Ergebnis, das die aufstrebende Volkspartei Syriza 2009 errungen hatte. Um das Phänomen Syriza zu begreifen, muss man die Wählerwanderung verstehen, die den Niedergang der einen und den Aufstieg der anderen Partei prägte.

 

Verhängnisvolle Erwartungen

Obwohl Syriza auch von anderen politischen Kräften sowie im Lager früherer Nichtwähler Anhänger gewinnen konnte, hat sie vor allem der massenhafte Zulauf früherer Pasok-Anhänger groß gemacht – und gerade deren Erwartungen könnten ihr zum Verhängnis werden. Die „neue Syriza“ ist nämlich im Grunde eine revisionistische Partei, kann aber den Revisionismus, den viele Wähler von ihr erwarten, nicht durchsetzen. Im Duden findet sich Revisionismus definiert als „Streben nach Änderung eines bestehenden (völkerrechtlichen) Zustandes oder eines (politischen) Programms“. Das beschreibt exakt den ökonomischen Revisionismus von Syriza und die Erwartungen eines Großteils ihrer Wähler. Die beiden Memoranden zwischen Griechenland und seinen Geldgebern (von 2010 und 2012) sind von Tsipras, seiner Partei sowie deren Wählern nie als Chance oder Hilfe zur Selbsthilfe verstanden, sondern stets als ein Griechenland von seinen Gläubigern oktroyiertes Instrument systematischer Entrechtung beschrieben worden. Die Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds wurde zum Feindbild, dem man alle Übel anlastete. In diesem Narrativ hat nicht die Krise zur Troika, sondern die Troika zur Krise geführt.

So wurde die Annullierung der Memoranden zum zentralen politischen Versprechen von Syriza. Schon nach der Parlamentswahl im Mai 2012, als Syriza zweitstärkste Kraft wurde, leitete Tsipras aus diesem ersten Teilerfolg das Recht ab, sich über die Verträge Griechenlands mit den Geldgebern hinwegzusetzen. Durch das Wahlergebnis, so Tsipras, hätten die Griechen „das Memorandum für null und nichtig erklärt und als ihre erste Alternative eine linke Regierung gewählt, die die Kreditvereinbarungen aufkündigen wird“. Im Jahr 2012 war der ökonomische Revisionismus zwar noch nicht mehrheitsfähig, doch der talentierte Populist Tsipras hatte erkannt, welcher Weg ihn an die Macht führen würde – und er verfolgte diesen Weg konsequent.

 

„Memoranden oder Syriza!“

Im Juli 2013 hielt Syriza ihren bis heute einzigen Parteitag ab. „Glaubt mir“, sagte Tsipras in seiner Rede zum Auftakt des Kongresses, „das Mandat, das wir erhalten werden, wird respektiert werden – ob sie es mögen oder nicht. Es wird auch von Frau Merkel und Herrn Schäuble respektiert werden.“ Die Rede des Parteichefs gipfelte in der griffigen Losung „Memoranden oder Syriza!“ Der zentrale Satz der „politischen Resolution“, die auf diesem Kongress verabschiedet wurde, lautete: „Wir werden die Memoranden und die Implementierungsgesetze rückgängig machen.“ In seiner Siegesrede nach der gewonnenen Parlamentswahl am 25. Januar bekräftigte Tsipras dieses Versprechen: „Das Urteil des griechischen Volkes, euer Urteil, beendet (…) die Memoranden der Austerität und der Zerstörung! Das Urteil des griechischen Volkes macht die Troika zu einer Sache der Vergangenheit!“ Doch nun steht Tsipras vor einer unlösbaren Aufgabe: Viele seiner Wähler, vor allem jene, die von der Pasok übergelaufen sind, erwarten von ihm eine Annullierung der Memoranden und die Rückkehr zu einer Politik des Klientelismus, dessen sich einst die Pasok (aber auch die Nea Dimokratia) bediente, um ihre Popularität zu sichern. Doch Tsipras kann weder das eine noch das andere liefern: Erstens sehen die anderen Staaten der Eurozone erwartungsgemäß keinen Grund, warum sie Tsipras bei der Finanzierung seiner exzessiven Wahlversprechen unterstützen sollten. Zweitens ist das alte System des Klientelismus, dessen Rückkehr Tsipras versprochen hat (selbstverständlich, ohne es so zu nennen) nicht mehr finanzierbar. Griechenlands Krise ist nämlich im Kern eine Krise seines bisherigen Geschäftsmodells, des Klientelismus.

Es ist ein Geschäftsmodell mit einer wenig ruhmreichen, aber langen Geschichte.

Als die Griechen ab 1822 schrittweise ihre Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich errangen und mit Unterstützung der Großmächte einen eigenen Staat schufen, lebte ein Großteil der griechischen Eliten außerhalb dieses neuen Gemeinwesens. Nach Nafplion wurde Athen zur Hauptstadt, nachdem es im Laufe der Jahrhunderte unter römischer, venezianischer und osmanischer Herrschaft gestanden hatte; bis zur Gründung des neuen Griechenland war das einstige Zentrum zu einer bäuerisch geprägten Kleinstadt vor imposanten antiken Ruinen geschrumpft. Die Zentren der griechischen Geschäftswelt und Intelligenz waren Istanbul (Konstantinopel) und Izmir (Smyrna). Auch in Odessa oder in Alexandria gab es eine große griechische Diaspora, und selbst Thessaloniki, heute die zweitgrößte Stadt Griechenlands und damals wesentlich bedeutender als Athen, lag bis zu den Balkankriegen von 1912/13 außerhalb des neugriechischen Kleinstaates. In diesem Agrarstaat, dessen Verwaltungszentrum erst aufgebaut werden musste, gaben lokale Führer den Ton an. Gegenüber einem schwachen Staat vertraten sie rücksichtslos ihre Partikularinteressen.

 

Distanz zum Staat

Der griechenlanderfahrene Schriftsteller Edmond About schrieb in seinem drei Jahrzehnte nach der griechischen Unabhängigkeit erschienenen Buch La Grèce contemporaine über das Staatsverständnis der Griechen: „Dieses abstrakte Gebilde, das man Staat nennt, kennen sie kaum, und lieben tun sie es schon gar nicht.“

Nachdem in der Verfassung von 1864 allen männlichen Bürgern das Wahlrecht zugesichert worden war, wandelte sich unter dem Einfluss des Parlamentarismus zwar das Erscheinungsbild des Klientelismus, als bestimmendes Phänomen aber blieben „Kundenbeziehungen“ zwischen Wählern und Gewählten auf Kosten des Gemeinwohls eine alle folgenden Staatsformen und Verfassungen überlebende Konstante. Nach dem Zusammenbruch der Militärherrschaft und der Verabschiedung der demokratischen Verfassung von 1975 waren es Nea Dimokratia und Pasok, die Posten und Privilegien verteilten. Der Athener Wirtschaftswissenschaftler Panos Kazakos spricht von Umverteilungsallianzen, unter deren Einfluss Griechenland zu einem Staat geworden sei, in dem „pseudoprogressive Ideologien fast jede Forderung von Interessengruppen nach Vergünstigungen“ scheinbar rechtfertigten.

„Es entstand eine Anspruchshaltung, die keine ökonomischen Gesetze anerkannte und mit der Zeit auch den privaten Sektor erfasste“, so Kazakos. Die beiden Volksparteien wurden zu den wichtigsten Transmissionsriemen (man könnte auch sagen: Relaisstationen) des griechischen Klientelismus. Der Politologe Andreas Stergiou beschreibt die Auswirkungen dieses Systems für die Wirtschaft folgendermaßen: „Um diese Klienten alimentieren zu können und den aufgeblähten Staatsapparat zu finanzieren, musste die politische Elite neue Finanzierungsquellen erschließen. Der privaten Wirtschaft wurden andauernd neue Steuern auferlegt, wodurch sich im Gegenzug die Tradition des Steuerbetrugs massiv verschärfte. Dies endete in dem merkwürdigen Kräftemessen: Staat gegen Wirtschaft, Wirtschaft gegen Staat.“

 

Vom Klientelismus bleibt die Mangelverwaltung

Solange Griechenland auf sich allein gestellt war, schadete der Klientelismus zwar der Entwicklung des Landes, brachte es aber nicht um. Gefährlich wurde es erst, als das System des Klientelismus nach dem Beitritt Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft (EG) in die Lage versetzt wurde, gleichsam über seine Verhältnisse zu leben. Als Griechenland 1981 der EG beitrat, betrug die Gesamtverschuldung des Staates nur 28 Prozent der damaligen Jahreswirtschaftsleistung. Durch die Zugehörigkeit zur EG wuchs die Kreditwürdigkeit des Landes, und der damalige Ministerpräsident Andreas Papandreou sowie seine Partei, die Pasok, nutzten diese Entwicklung, um das klientelistische System auf Pump und mit reichlich sprudelnden europäischen Strukturfördermitteln weiter aufzubauen. Der Beitritt zur Eurozone im Jahr 2001 und die nunmehr stark gesenkten Kosten der Kreditaufnahme für den griechischen Staat verstärkten diese Praxis. Der Staat konnte sich so günstig wie nie zuvor in seiner Geschichte verschulden, und von dieser Möglichkeit machte er hemmungslos Gebrauch. Das allein wäre kein Drama gewesen, wäre dieses Geld zur Tilgung teurer Altschulden und zur Modernisierung des Staatsapparates eingesetzt worden. Stattdessen wurde es aber weitgehend für konsumtive Zwecke wie die Erhöhung von Beamtenbezügen oder teure Vorruhestandsregelungen ausgegeben – ganz so, wie es den Forderungen der meisten Wähler der jeweils regierenden Partei entsprach. Der Unterschied dieser jüngsten Phase des griechischen Klientelismus zu früheren Phasen bestand darin, dass nun immer weniger selbst erwirtschaftetes und immer mehr geliehenes Geld umverteilt wurde.

 

Ära oder Episode

Syriza hat mit dem Problem zu kämpfen, dass ein erheblicher Teil der Wähler dieser „neuen Pasok“ nicht nur erwartet, dass Tsipras die Einschnitte der vergangenen Jahre rückgängig macht, sondern auch, dass das alte Umverteilungssystem wieder in Kraft gesetzt wird – auf welche Weise auch immer. Nur werden Regierende in Athen, unabhängig von ihrer politischen Färbung, auf absehbare Zeit kaum etwas zu verteilen haben. Syriza ist eine klientelistische Partei im postklientelistischen Zeitalter, sie muss Mangelverwaltung betreiben und hat wenig zu verschenken. In den kommenden Wochen und Monaten wird das immer deutlicher werden. Dann könnte recht bald abzusehen sein, ob man einmal von einer Ära oder doch nur von einer Episode Tsipras sprechen wird. Um eine Ära zu begründen, müsste Alexis Tsipras jene Reformen angehen, die seine Vorgänger nicht wagten. Das beträfe zum Beispiel die Besteuerung griechischer Reeder und der orthodoxen Kirche, aber auch ein Vorgehen gegen das korrupte Dreieck von Baukonzernen, Medienhäusern und Politik bei der Vergabe öffentlicher Ausschreibungen. Doch angesichts der beschriebenen Erwartungshaltung seiner Wähler gehört derzeit eine Menge Phantasie zu der Vorstellung, dass einmal von einer „Ära Tsipras“ die Rede sein könnte.

Möglich ist immerhin, dass sich nach einem absehbaren Auseinanderbrechen der Syriza in zwei oder mehrere Teile eine neue Koalition zum Erhalt von Griechenlands Mitgliedschaft in der Eurozone zusammenfindet. Sie bestünde aus dem gemäßigten Flügel von Syriza, der proeuropäischen Partei „To Potami“ („Der Fluss“) sowie möglicherweise auch den beiden Altparteien Nea Dimokratia und Pasok. Das wäre eine seltsame Koalition – aber Griechenland durchlebt auch ungewöhnliche Zeiten.

Immerhin hat Athens Mitgliedschaft in der Eurozone wichtige Befürworter. Nicht zuletzt Bundeskanzlerin Angela Merkel hat wiederholt vor den politischen Risiken eines griechischen Ausscheidens aus der Eurozone gewarnt. Zwar mag die Angst, ein „ausgestoßenes“ Griechenland könne Moskaus Einflusssphäre anheimfallen, übertrieben sein. Soll etwa Russland künftig Athens Haushaltsdefizit ausgleichen? Dennoch ist der Gedanke erschreckend, Griechenland könne sich, wie während der Militärdiktatur, aus der Eurozone und dem Verbund demokratischer Staaten verabschieden. Griechenland wurde 1981 gegen die ausdrücklichen Warnungen der damaligen Kommission, die das Land nicht für beitrittsreif hielt, in die EG aufgenommen – aus politischen Erwägungen. Grenzend an die Türkei und drei kommunistische Staaten (Bulgarien, Jugoslawien, Albanien) wollten vor allem Bonn und Paris Griechenland an den Westen binden. Zwar haben sich die Umstände seither geändert, dies aber keineswegs zugunsten jener, die ein Ausscheiden Athens aus der Eurozone für risikolos halten. Die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer, die Tendenzen zur Entdemokratisierung in der Türkei, die schwachen Staaten des Balkans, all das spricht dafür, Griechenland in der Eurozone zu halten. Ob das gelingt, hängt freilich von der Regierung in Athen ab. Denn auch eine griechische Mitgliedschaft in der Eurozone bringt politische Kosten mit sich – die einige Regierungen womöglich nicht mehr zu tragen bereit sind, wenn die Regierung Tsipras den Kurs ihrer ersten Wochen beibehält.

 

Michael Martens, geboren 1973 in Hamburg, seit 2009 Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in Istanbul.

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