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Erinnerungen und Betrachtungen

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Nordrhein-Westfalen ist ein Bindestrichland. Seine Entstehung im Jahre 1946 verdankt das Land an Rhein und Ruhr einer politischen Entscheidung der britischen Besatzungsmacht. Ihr Ziel war es, das Ruhrgebiet – einst die „Waffenschmiede“ des Deutschen Reiches – zwischen den beiden früheren preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen „einzubinden“.

Kohle und Stahl bildeten auch nach dem Zweiten Weltkrieg die wesentlichen Grundlagen der wirtschaftlichen Entwicklung des Ruhrgebietes. Ihre wirtschaftliche Macht verdankten Bergbau und Stahlindustrie einflussreichen Kartellen, in denen die Unternehmen zusammengeschlossen waren. Gemeinsam beherrschten sie den Markt. Ihre Organisation war leistungsfähiger als jede staatliche Verwaltung. Hitler boten sie die Grundlage für die Aufrüstung Deutschlands. Um jede Gefahr einer Wiederholung auszuschließen, verfügte die britische Besatzungsmacht in den Unternehmen die paritätische Mitbestimmung. An ihre Stelle trat später die erste europäische Institution in Gestalt der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Bestandteil dieses ersten bedeutenden europäischen Vertragswerkes war die Montanmitbestimmung.

 

Lebendige Eindrücke

Dem „neuen Land NRW“ begegnete ich zum ersten Mal im Jahre 1956. Ein Förderer meines Lehrers an der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität hatte mich zu einem Besuch des Reviers eingeladen. Ich sollte in wenigen Tagen die wichtigsten Bereiche von Kohle und Stahl kennenlernen. Was ich sah, war eine neue, mir unbekannte Welt. Sie ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: die Arbeit der Bergleute, die unter Tage im Licht der Grubenlampen auf ihren Helmen, bei hohen Temperaturen mit bloßem Oberkörper die Kohle mit Drucklufthämmern aus dem Berg brachen und auf Laufbänder schippten; die gefährliche Arbeit am Hochofen und der drohende Fluss des Roheisens beim Abstich des Ofens, die Walzstraßen, die glühende Stahlblöcke zu langen Bändern oder Stangen formten; die Drahtwalzstraßen, deren Arbeitsplätze angesichts der besonders gefährlichen Arbeit vielfach von Familienmitgliedern besetzt und vom Vater auf den Sohn „vererbt“ wurden. Als ich wenige Tage später das Revier wieder verließ, nahm ich lebendige und wichtige Eindrücke mit nach Wiesbaden: von der Arbeit im Revier, von seinen Menschen, aber auch von ihren Leistungen für das zerstörte Deutschland und seinen Wiederaufbau.

 

Das Ende der Kohleknappheit

Achtzehn Jahre später kehrte ich als Hochschullehrer nach Bochum zurück. Die Welt im Revier hatte sich tiefgreifend verändert. Kohle und Stahl hatten ihre prägende Kraft verloren. Das Öl begann, die Kohle zu verdrängen. Importkohle war billiger. Die Hohe Behörde der Montanunion hatte im Jahr 1956 noch eine Kohleknappheit prognostiziert. Die Prognose veranlasste den Ruhrbergbau, in den Vereinigten Staaten von Amerika Lieferverträge für Kohle abzuschließen. Aber die Prognose hatte sich als falsch erwiesen. Die technische Entwicklung hatte den Bergbau ebenso revolutioniert wie die Wirtschaft in ganz Deutschland. Das Land erlebte sein Wirtschaftswunder.

Mit der Ruhr-Universität Bochum entstand die erste Universität im Revier. Hochschulen in Dortmund und Essen folgten. Sie sollten vor allem der Jugend ein Hochschulstudium vor Ort ermöglichen. Die Bevölkerung im Revier war stolz auf ihre Universitäten und die Chancen, die sich ihrer Jugend boten. Kaiser Wilhelm II. hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts angeordnet, dass es im Revier keine Hochschulen und keine Kasernen geben solle. Man befürchtete, von ihnen könnten Unruhen ausgehen. Die blieben unter der Jugend in den 1960er-Jahren auch im Revier nicht aus. Aber die Reaktion der Älteren war anders. Sie waren aufseiten der Universität. Als Studenten in Bochum das Verwaltungsgebäude besetzen wollten, rief der Betriebsratsvorsitzende von Opel Bochum an: Ob wir Ärger hätten? Wenn ja, wolle er einen Trupp seiner Leute zum „Ordnung schaffen“ schicken!

Nicht nur die Jugend war unruhig und auf der Suche nach einer neuen Sicht der Dinge. Auch im Revier und damit in NRW war eine Revolution im Gange. Statt Kohle und Stahl standen neue Techniken, neue Industrien, Lehre und Forschung, neue Wissenschaften und damit neue Arbeitschancen auf der Tagesordnung. Sie hatten es anfangs nicht leicht, sich zu behaupten. Die Auseinandersetzung im Revier zwischen dem Alten und dem unverzichtbaren Neuen dauerte Jahrzehnte. Industrieansiedlungen wie Opel in Bochum wurden noch in den 1960er-Jahren bekämpft. In bestehenden Unternehmen und in der Montanindustrie fürchtete man, Fachkräfte an die neuen Arbeitgeber zu verlieren. Die Zeit, in der Kohle und Stahl das Kraftzentrum gewesen waren, ging zu Ende. Kohle sollte von nun an subventioniert werden, obwohl sie auf dem Weltmarkt günstiger zu haben war und offene Märkte ihre Verfügbarkeit   garantierten.

 

Zu großzügige Politik

Das Alte zu erhalten, beeinflusste die Politik von Land und Bund. Sie gab sich auf Kosten des Staates großzügig. Die Neigung der politischen Kräfte war groß, den Forderungen nach Subventionen zu entsprechen. In Nordrhein-Westfalen wurden Bundestagswahlen gewonnen oder verloren. Wie wir heute wissen, hat die Großzügigkeit der Politik die Modernisierung des Ruhrgebietes nachhaltig verzögert. Noch 1987 warb Norbert Blüm für seine Wahl zum Vorsitzenden der nordrhein-westfälischen CDU mit den Symbolen von Kohle und Stahl: der Grubenlampe und dem Asbesthandschuh des Stahlkochers.

Heute ist Nordrhein-Westfalen ein anderes Land. Die alten Besitzstände haben ihre Macht verloren. Aber die Nostalgie, die Erinnerung und die Vergewisserung einer früheren stolzen Vergangenheit dauern fort. Und mit ihr auch die Praktiken und Verhaltensweisen der alten Zeit. Willy Brandt seufzte Anfang 1977, die Verfilzung von Bürokratie, Politik und wirtschaftlichen Interessen sei in keiner anderen Gegend dichter als in Berlin und im Revier. Der Wettbewerb, die europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die zunehmende Globalisierung haben auch hier Veränderungen erzwungen.

Millionen „Gastarbeiter“ aus zahlreichen Ländern, vor allem aus der Türkei, sind seit den 1960er-Jahren dem Ruf nach NRW gefolgt. Sie halfen beim Aufbau der westdeutschen Wirtschaft. Viele sind geblieben. Sie haben das Bild der Städte verändert, erweitert und vielfach bereichert. Christen und Muslime leben seit Jahrzehnten friedlich zusammen. All das kann Gutes bewirken, wenn wir das Neue mitgestalten und ihm nicht ängstlich begegnen. Aus den Erfahrungen der Menschen in Nordrhein-Westfalen können wir für die Gegenwart viel gewinnen.

 

Zukunft und Zuwanderung

Was bedeutet das für die Zukunft Nordrhein-Westfalens? Auch sie wird durch die Entstehungsgeschichte des Landes weiter beeinflusst werden. Die Unterschiede zwischen den beiden Landesteilen und dem Revier sind ausgeprägter als in anderen großen Bundesländern wie Bayern und Baden-Württemberg. In den östlichen und westlichen Randgebieten des Landes wirken sich zudem die Nähe von Niedersachsen und die kulturellen Gemeinsamkeiten der im Westen angrenzenden Gebiete aus. Die europäische Integration hat gerade dort Affinitäten und Einflüsse der Nachbarn verstärkt. In Krisenzeiten wird es schon deshalb schwerer fallen, im eigenen Land Gemeinsamkeiten zu mobilisieren. Hinzu kommt, dass sich das Ruhrgebiet weder den Identitäten des westlichen noch des östlichen Landesteils zugehörig fühlt. Es wird deshalb auch nicht auf seine eigene, wenn auch in relativ kurzer Zeit entstandene, historische Identität verzichten. Welche Bedeutung dabei den eingewanderten Bevölkerungsteilen zukommen wird, ist schwer vorauszusagen. Bei dem türkischstämmigen Teil könnten in Krisenzeiten Einflüsse aus der Türkei die Loyalität zu Nordrhein-Westfalen beeinträchtigen. Ähnliches gilt im Blick auf die konfessionellen Unterschiede. Risiken, die sich daraus ergeben könnten, lassen sich zwar nicht voraussagen. Aber sie werden auch nicht verschwinden, wenn man sie ignoriert.

Nicht nur die Zukunftsaussichten Nordrhein-Westfalens, sondern die ganz Deutschlands und Europas werden durch die demografische Entwicklung wesentlich beeinflusst. Das gilt zum einen für den europäischen Binnenraum. Die europäische Bevölkerung wird bis 2050 zwar annähernd konstant bleiben, aber signifikant altern. In NRW wird sie schrumpfen, es sei denn, ihr Rückgang wird durch weitere Zuwanderung ausgeglichen. Prognosen sind jedoch schwierig, denn niemand kann sicher sagen, welche Auswirkungen die Zuwächse der Bevölkerungen Afrikas und des Mittleren Ostens in den kommenden 25 Jahren für Europa haben werden. Die afrikanische Bevölkerung wird bis 2050 auf rund 2,3 bis 2,4 Milliarden anwachsen. Sie wird vor allem wesentlich jünger sein als die europäische. Ob eine Völkerwanderung von Afrika nach Europa gleichwohl vermieden werden kann, wird davon abhängen, ob es gelingt, in absehbarer Zeit die Lebensverhältnisse auf dem afrikanischen Kontinent, vor allem in Nordafrika, wesentlich zu verbessern. In jedem Fall wird das demografische Ungleichgewicht zwischen Europa und Afrika Deutschland und die Europäische Union vor neue, in ihren Dimensionen unbekannte Aufgaben stellen. Dem größten Bundesland NRW werden daraus nicht nur neue Lasten, sondern auch neue Chancen erwachsen.

NRW war von Anfang an ein bedeutsamer Standort für Energietechnik, -versorgung und -forschung. Im Forschungszentrum Jülich wurden bahnbrechende Erkenntnisse gewonnen, auch im Bereich der Kernkraft. Diese Forschungen hatten zur Entwicklung von Kernreaktoren geführt, deren physikalische Beschaffenheit eine Kernschmelze ausschließt. Die Arbeiten wurden Ende des letzten Jahrhunderts beendet. Die Forschung aufzugeben, war ein Fehler. Deutschland hat sich damit von einer wissenschaftlichen Entwicklung verabschiedet, auf die unsere Erde bei acht Milliarden Bewohnern kaum verzichten kann. Ähnliches gilt für Fragen der Endlagerung radioaktiver Abfälle. Nordrhein-Westfalen sollte prüfen, ob das Forschungsverbot trotz der Schwierigkeiten, die mit der Sicherung der Energiegrundlast nach dem Verzicht auf Kohle verbunden sein werden, aufrechterhalten werden soll.

 

Generationengerechtigkeit

Zu den Zukunftsaufgaben des Landes gehört sein Beitrag zur Sicherung der sozialen Systeme. Nordrhein-Westfalen kann für sich in Anspruch nehmen, dass nicht nur die Mitbestimmung, sondern auch die ersten politischen Gedanken und Grundlagen unseres heutigen Sozialsystems dort entwickelt wurden. Hierzu gehören beispielsweise die Düsseldorfer Leitsätze der CDU aus dem Jahr 1949. Der Einfluss des Landes auf die Grundlagenbeschlüsse, die Bundestag und Bundesrat 1958 zu den Sozialversicherungen fassten, wird auch heute gebraucht. Denn zunehmend wird auf überparteilicher Ebene sichtbar, dass die Auswirkungen der heutigen sozialen Ordnung die Leistungsfähigkeit Deutschlands zu überfordern drohen.

Ein Zukunftsthema überragt an Bedeutung viele andere: die Last, die die geburtenstarken Jahrgänge zu ihrem eigenen Vorteil den geburtenschwachen Jahrgängen in den letzten Jahren aufgebürdet haben und die sie ihnen im Laufe der kommenden fünfzehn Jahre in Gänze hinterlassen werden. Es geht um die Gerechtigkeit zwischen den Generationen und die Verantwortung für ihre Verwirklichung.

Zu dieser Verantwortung der heutigen politischen Entscheidungsträger gehört auch die Gewährleistung, dass die Generation ihrer Kinder nicht nur das notwendige Wissen und Können mitbringt, sondern auch eine gesundheitliche Verfassung, die sie befähigt, die künftigen Lasten zu tragen. Zunehmend wird erkannt, dass dies bei einer signifikanten Minderheit nicht länger der Fall ist. Es reicht deshalb nicht, nur Institutionen zu verändern, mit neuen Zahlen zu spielen und künftige Rentenhöhen zu berechnen. Zur sozialen Gerechtigkeit der Zukunft gehört auch die Frage, was die nächste Generation tatsächlich leisten kann und was sie überfordern würde. NRW sollte auf die Fragen eine eigene, aus dem sozialen Gewissen des Landes abgeleitete Antwort geben. Sie wird Schule, Gesundheit, Chancen und Motivation der Jungen umfassen und die Bereitschaft der Älteren, dafür Verantwortung zu tragen. Wenn NRW dazu keinen wesentlichen Beitrag leistet, wird es keine gemeinsame Antwort geben können.

 

Agricolas „Glückauf“

Vieles ließe sich zum wohl wichtigsten Bundesland noch sagen. Ich verdanke ihm viel an Erfolgen, aber auch an Niederlagen. Beides hat mir nicht geschadet. Aus beiden habe ich gelernt. Was ich in NRW lernen konnte, habe ich in ein Land mitgenommen, dass fälschlich ein „neues“ Bundesland genannt wird. Dort gab es schon Bergbau, als die Ruhrlandschaft noch eine bäuerliche Landschaft war. Dort schrieb Agricola im 16. Jahrhundert das erste Lehrbuch des Bergbaus, und dort grüßen sich seit Jahrhunderten die Bergleute mit „Glückauf“. Als ich vor Jahren Bergleute auf einer Versammlung im Revier mit „Glückauf“ grüßte, wurde ich dafür gelobt. Als ich anschließend von der Herkunft des Grußes erzählte, war die Gesellschaft am Ehrentisch verblüfft. Es ist ein schöner Gruß. Ihn rufe ich auch Nordrhein-Westfalen zu!

Kurt Biedenkopf, geboren 1930 in Ludwigshafen am Rhein, 1977 bis 1986 Vorsitzender des CDU-Landesverbandes Westfalen-Lippe, bis 1987 Vorsitzender des CDU-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen, 1990 bis 2002 Ministerpräsident des Freistaates Sachsen.

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