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Der frühere Bundestagspräsident über die Ungeduld der Bürger in unsicheren Zeiten

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Herr Thierse, Sie gehörten der Bürgerrechtsbewegung in der DDR an, wurden vor einem Vierteljahrhundert in die erste und frei gewählte Volkskammer gewählt und waren danach 23 Jahre Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Einem Menschen mit diesem Erfahrungshintergrund darf man die Frage zumuten, was uns der Parlamentarismus heute wert sein muss?

Wolfgang Thierse: Positiv beschrieben, ist es die Chance für jeden Bürger, sich an der Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten zu beteiligen. Dabei passiert Parlamentarismus längst nicht allein im Bundestag, sondern er findet in jedem Dorf, in jeder Stadt, in jedem Kreis statt. Sich einzubringen – als Wähler oder als einer, der sich wählen lässt und damit Politik mitgestaltet, das ist die große Chance.

In meiner kleinen Abschiedsrede vor dem Bundestag habe ich an meinen Vater erinnert, der sich in seinem ganzen Leben nicht an einer freien Wahl beteiligen konnte. Er wurde am 31. Januar 1933 – einen Tag, nachdem Hitler Reichskanzler geworden war – volljährig und ist Anfang März 1990 – also vor der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR – gestorben. Wenn ich an ihn denke, könnte ich auf wütende Weise traurig werden, wenn ich sehe, wie viele Menschen dieses wichtige Recht missachten, geradezu verachten.

 

Die Vorzüge des Parlamentarismus scheinen zunehmend aus dem Bewusstsein zu geraten, das Geschehen im Bundestag wird immer weniger beachtet. Sehen Sie eine wachsende Kluft zwischen Bürgern und ihren demokratischen Institutionen – insbesondere zu den Parteien?

Wolfgang Thierse: Das ist ja unübersehbar. Alle Meinungsumfragen der letzten Jahrzehnte weisen aus, dass es eine zunehmende Anzahl von Bürgern gibt, die einen gewissen Verdruss gegenüber den Parteien und der Demokratie haben. Leider gibt es dafür nicht nur eine Ursache, wobei es schön wäre, wenn die Antwort heißen könnte: Es sind die Fehler und Missgriffe der Politiker, ihre kleineren oder größeren Skandale. Darauf könnte man reagieren und sagen: „Guckt hin! Dadurch, dass einer gewählt wird, wird er nicht zum Heiligen, sondern bleibt ein fehlbarer Mensch mit Irrtümern und Gefährdungen, die in der Politik öffentlicher, deswegen aber auch schmerzlicher und erregender sind.“ Doch das ist es bei Weitem nicht allein.

Weil Sie in Ihrer Frage auf eine aktuelle Untersuchung anspielen, erlaube ich mir zunächst anzumerken: Die nachlassende öffentliche Beachtung des Parlamentsgeschehens ist auch darauf zurückzuführen, dass das weiterhin noch wichtigste Medium Fernsehen – außerhalb des Spartenkanals Phoenix – immer weniger über das Parlament berichtet. Vor allem erwecken die abendlichen Fernsehnachrichten keineswegs den Eindruck, dass das Parlament der wichtigste politische Ort unserer Demokratie ist. Im Vordergrund steht das Regierungshandeln. Und im Vergleich mit den Katastrophen und Konflikten in der Welt sind hiesige Parlamentsdebatten tatsächlich wenig spektakulär. Wir prügeln uns nicht, es fließt kein Blut und es gibt auch keine Toten. Selbst Beleidigungen sind im Bundestag selten. Wenn das Fernsehen mehr und mehr zum Unterhaltungsmedium wird, kann der Bundestag aber deshalb nicht zu einer anderen, unterhaltenderen Institution werden. Auf gelegentlich langwierige Debatten zum Zweck der Entscheidungsfindung und Begründung wird er nicht verzichten können.

Die zweite Antwort ist eine etwas tiefergehende. Sie liegt in der Wahrnehmung vieler Menschen, dass das Parlament und überhaupt demokratische Politik nicht wirklich etwas zu entscheiden hätten. Sie glauben beispielsweise nicht mehr an den Primat demokratischer Politik gegenüber den ökonomischen, zumal finanzökonomischen Prozessen und Entscheidungen. Dieser Eindruck ist ja nicht gänzlich falsch und wird beispielsweise durch die Finanzkrisen bestätigt. Es ist die große Herausforderung der Gegenwart, den Primat demokratischer Politik wieder zurückzugewinnen.

 

Manchen scheinen Empörung und Protest der beste Weg der Einmischung. Warum wird die Chance zum Mitmachen in der Demokratie, von der Sie eingangs sprachen, so gering geschätzt? Haben Sie dafür eine Erklärung?

Wolfgang Thierse: Ja, eine sehr einfache. Demokratie verlangt Geduld, und zwar sehr viel Geduld, denn sie ist ihrem inneren Wesen nach langsam. Ich lobe die Langsamkeit der Demokratie, weil sie die Voraussetzung dafür ist, dass sich an den Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen möglichst viele Bürger beteiligen können, wenn sie es denn wollen. Aber genau diese Langsamkeit verlangt Geduld. Menschen, die unsicher sind, die Ängste haben, denen der Problemberg überwältigend erscheint, werden erst recht ungeduldig und richten ihre Ungeduld gegen „die“ Politik, gegen „die“ Demokratie, auch gegen „die“ Medien. Sie sind dann voller Misstrauen und übersehen vollkommen, dass sie durch Einmischung in den Alltag der Demokratie etwas bewegen könnten. Dabei sollten sie wissen, dass es eher die Ausnahme ist, mit Protesten substanzielle gesellschaftliche Änderungen herbeizuführen. Das geschieht eigentlich nur in revolutionären Umbruchsituationen.

 

Aktuell rätselt die gesamte Republik darüber, was es mit dem Protest von Pegida hauptsächlich in Dresden auf sich hat. Da geht es um diffuse Ängste – Asyl, Flüchtlinge, Islamismus –, doch verbirgt sich dahinter nicht auch das von Ihnen beschriebene allgemeine Unwohlsein mit Parteien und Staat, mit „denen da oben“, von denen man sich nicht mehr angesprochen fühlt?

Wolfgang Thierse: Es ist es richtig, dass wir als Politiker Ängste ernst nehmen müssen. Man überwindet sie nicht dadurch, dass man sie verschweigt oder beschimpft. Aber wir müssen genau hingucken. Da ist der Teil der Protestierenden, bei denen wir Politiker und Demokraten immer wieder Gesprächsangebote machen müssen. Doch habe ich im Moment nicht den Eindruck, dass viele Pegida-Demonstranten ihrerseits gesprächsbereit sind. Denn diese Ängste – und das ist das Beunruhigende – sind umgeschlagen in teilweise aggressive Ressentiments. Da wird man sagen müssen: „Liebe Bürger, ihr seid verantwortlich dafür, wer eure Ängste instrumentalisiert und missbraucht. Schaut hin, in welche Gesellschaft ihr euch begebt!“

Zum einen muss man also allem Extremismus und aller Ausländerfeindlichkeit widersprechen und zum anderen die wahrscheinlich sagenhaft schwierige Einladung zum Gespräch über die Ängste aufrechterhalten. Das ist aber nicht nur Sache des Staates. Da sind auch die Parteien, die Gewerkschaften, die politischen Stiftungen, die Medien gefragt. Was wir brauchen, ist ein sehr ernsthaftes und breites Gespräch darüber, was es bedeutet, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist und bleiben wird, welche Regeln wir für die Zuwanderung brauchen, die natürlich nicht nur deutsche, sondern europäische sein müssen. Wir müssen darüber reden, wie sich dieses Land durch Einwanderung verändert, welche Gemeinsamkeiten wir brauchen, damit Verschiedenheit ohne Angst gelebt werden kann.

Diese Debatte hat in den letzten Jahren begonnen, aber sie hat noch nicht genügend stattgefunden. Mein Eindruck ist, wir erleben auch die Nachwirkungen einer jahrzehntelangen Lebenslüge der alten Bundesrepublik, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist.

 

Könnte es nicht sein, dass die Unterstützung, die Pegida erfährt, auch ein Reflex auf eine andere Lebenslüge ist – nämlich die von der „multikulturellen Gesellschaft“? Hat Pegida nicht deshalb in Ostdeutschland mehr Widerhall, weil man keine Parallelgesellschaften will, wie man sie im Westen hat entstehen lassen?

Wolfgang Thierse: Wir müssen über die Vorzüge und über die Probleme einer Einwanderungsgesellschaft reden. Mein Losungswort lautet: Pluralismus ist keine Idylle, sondern ist eine überaus anstrengende Sache. Und sie ist erst recht anstrengend für Menschen im Osten Deutschlands, die – eingesperrt, wie wir DDR-Bürger waren – den Umgang mit Fremden und Fremdem weniger lernen konnten. Trotzdem füge ich sofort hinzu: Pegida ist nicht allein ein ostdeutsches Phänomen, selbst wenn es dort sichtbarer zutage tritt. Mich als ostdeutschen Politiker ärgert und schmerzt besonders, wenn Pegida-Leute rufen: „Wir sind das Volk.“ Denn der Ruf von 1989 richtete sich gegen ein diktatorisches Herrschaftssystem, also gegen eine demokratisch unkontrollierte, nicht abwählbare Macht. Und jetzt instrumentalisiert man ihn gegen eine Demokratie, deren Regierung kontrollierbar und abwählbar ist und die auch in erheblichem Ausmaß transparent funktioniert.

 

Wie tief reichen im heute nicht mehr so sehr deutsch-deutschen Deutschland die Risse im demokratischen Fundament?

Wolfgang Thierse: Richtig ist, dass die ostdeutschen Deutschen durch die Dramatik der Veränderungen und die teils zu großen Erwartungen „enttäuschbarer“ sind, was sich beispielsweise am Wahlverhalten zeigt, das weit weniger festgelegt ist. Aber für alle Deutschen trifft nach soziologischen Studien zu, dass zehn bis zwanzig Prozent der Bürger in der einen oder anderen Weise minderheitenfeindliche Einstellungen haben. Sie sind durch eine Art von autoritärem Politikverständnis geprägt und erwarten von der Politik die schnelle und entschiedene Lösung der Probleme. Je größer die Probleme sind, desto heftiger bringen sie eine fast religiöse Erwartungshaltung hervor, die ein demokratisches System nicht befriedigen kann. Die Enttäuschung führt zu Ressentiments gegen „die“ Politik – und das ist das gefährliche Moment.

Wir wissen vom Ende der Weimarer Republik, dass es bedrohlich wird, wenn der Miss- und Unmut von vielen „da unten“ mit einer gewissen Demokratieverachtung der Eliten, insbesondere der wirtschaftlichen Eliten, zusammenkommt. Dieses Menetekel sollte man ernst nehmen, denn es gibt nicht nur „unten“ eine Unzufriedenheit mit der Demokratie und ihrer Langsamkeit. Machen wir uns nichts vor, die gibt es auch in den wirtschaftlichen Eliten.

 

Sie haben von „Entheimatungsängsten“ als Gründe für den Protest gesprochen. Das klingt fast konservativ. Können Sie uns erklären, was Sie damit meinten?

Wolfgang Thierse: Als „Entheimatungsängste“ habe ich die Sorge bezeichnet, angesichts von Globalisierung, also von Entgrenzung, Internationalisierung und Zuwanderung, vertraute Geborgenheiten und traditionsbestimmte Sicherheiten infrage gestellt zu erleben. Wenn sich alles radikal wandelt, reagieren Menschen mit Angst vor Fremdem und vor Veränderungen. Auf diese Sorge kann Politik zwar nur zum Teil antworten, aber sie kann zu erklären versuchen: „Was wir jetzt unternehmen, geschieht auch, damit ihr eure Identität nicht verliert.“ Das ist mir schon wichtig, dass das gemacht wird. Das ist kein konservativer Gedanke. Man muss den Menschen die Chance geben, auch in den Anfechtungen von Veränderungsprozessen zu ihrer Identität stehen zu können. Aber wir wissen auch, dass, je schwächer eine Identität ausgebildet ist, sie umso aggressiver verteidigt wird. Identität durch pure Abgrenzung ist immer eine schwache Identität. Identität durch starke Überzeugungen, durch Vertrautheit in sozialen Beziehungen, das ist eine starke und offene Identität, die auch die Infragestellung des Eigenen erträgt und gesellschaftliche Anpassungsprozesse an veränderte Gegebenheiten ermöglicht.

 

Können die Volksparteien in Zeiten wachsender Heimatlosigkeit zumindest eine politische Heimat bieten?

Wolfgang Thierse: Volksparteien sind dann Volksparteien, wenn sie ihre fundamentale demokratische Aufgabe erfüllen, nämlich in ihren eigenen Reihen unterschiedliche soziale und kulturelle Milieus, unterschiedliche Interessen und Meinungen bündeln – also gewissermaßen Kompromisse und Konsense vorbilden, von denen die demokratische Gesellschaft insgesamt lebt. Deswegen gehört eine prinzipielle Offenheit für Neues, ein einladender Charakter zu ihrem Wesen. Sie müssen auch denjenigen Menschen Raum bieten, ihre Interessen zu artikulieren, für die die Politik bisher kein Ort war. Daran müssen die Volksparteien hart arbeiten, denn von ihnen geht natürlich zuweilen ein Geruch des Veralteten aus – zumal wenn man an eine ganz normale Parteiversammlung am Abend eines Wochentages denkt. Ich mache mir nichts vor, die Erneuerung hat Grenzen. Jüngere Leute sind weniger bereit, sich dauerhaft und verbindlich zu engagieren. Sie gewähren ihr Engagement temporär, projektbezogen. Wenn die Bereitschaft zu einem dauerhafteren Engagement offensichtlich abgenommen hat, liegt das einerseits an der wachsenden Individualisierung, andererseits aber an den Veränderungen im Wirtschaftsleben, die immer mehr Disponibilität und Flexibilität von den Menschen verlangen.

 

Wolfgang Thierse, geboren 1943 in Breslau, Anfang Oktober 1989 Unterschrift beim Neuen Forum, Anfang Januar 1990 Eintritt in die in der DDR neu gegründete SPD, deren Vorsitzender von Juni bis September 1990. Mitglied der Volkskammer von März bis Oktober 1990, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, zuletzt Fraktionsvorsitzender der SPD in der DDR, von 1990 bis 2005 stellvertretender Vorsitzender der SPD, Mitglied im Bundesvorstand der SPD bis 2009, Mitglied des Bundestages von Oktober 1990 bis Oktober 2013, von 1990 bis 1998 stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestages, von Oktober 2005 bis Oktober 2013 Vizepräsident des Deutschen Bundestages.

Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 18. Dezember 2014.