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„Eine Ausnahmeerscheinung der deutschen Politik“

Wolfgang Schäuble (* 18. September 1942 in Freiburg im Breisgau † 26. Dezember 2023 in Offenburg)

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Wolfgang Schäuble hat deutsche Geschichte geschrieben. Über fünf Jahrzehnte prägte er im Deutschen Bundestag, als Bundesminister und als Bundestagspräsident die Entwicklung unseres Landes maßgeblich. Er hat sich durch sein jahrzehntelanges politisches und gesellschaftliches Engagement große Verdienste um Deutschland erworben. Bis zuletzt hat er sich für unser Land und unsere Demokratie eingesetzt. Mit seinem Tod am 26. Dezember 2023 haben wir einen großen Demokraten verloren.

Das politische Engagement für die Union war Wolfgang Schäuble in die Wiege gelegt; bereits sein Vater war Abgeordneter im Badischen Landtag für die CDU. In jungen Jahren trat Wolfgang Schäuble in die Junge Union ein und errang 1972 sein erstes Direktmandat für den Deutschen Bundestag im Wahlkreis Offenburg. Das sollte er in den nächsten fünf Jahrzehnten insgesamt vierzehn Mal ununterbrochen wiederholen.
Foto: © picture alliance / Sven Simon / Frank Hoermann / SVEN SIMON

Es war der Beginn einer politischen Biographie, in der Schäuble eine beispiellose Anzahl politischer Spitzenämter in der Partei, dem Parlament und der Regierung ausübte – von Ministerämtern über den Fraktions- und Parteivorsitz bis hin zum Amt des Bundestagspräsidenten. Diese außergewöhnliche politische Karriere brachte die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit einem treffenden Vergleich auf den Punkt: „Er gehört zum politischen Inventar der Bundesrepublik wie der Kaffee zum Frühstück.“

Schäuble war mehr als ein tatkräftiger Unterstützer Helmut Kohls, der ihn Mitte der 1980er-Jahre ins Kanzleramt holte und zum Chef der Regierungszentrale machte. Im Rahmen von Kohls umfassender Kabinettsumbildung im Frühjahr 1989 übernahm Schäuble das Innenministerium. Im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit verhandelte Schäuble die rechtliche Integration der DDR in die Bundesrepublik – ein überaus anspruchsvolles Vorhaben, bei dem es komplexe Grundsatz- und viele Detailfragen zu klären gab, für die es keine historischen Präzedenzfälle gab. Schäuble löste diese Herausforderung innerhalb weniger Wochen; die Unterzeichnung des Einigungsvertrags am 31. August 1990 war einer der glücklichsten Momente nicht nur in seiner politischen Biographie. Schäubles Beitrag für die Umsetzung der einmaligen Chance der Deutschen Einheit ist kaum zu überschätzen. Was damals innerhalb weniger Monate politisch zu leisten war und tatsächlich geleistet wurde, bleibt historisch einzigartig und ist ohne Wolfgang Schäuble schwer vorstellbar.

Umso tragischer war das Attentat, bei dem er nur neun Tage nach der Wiedervereinigung, am 12. Oktober 1990, lebensgefährlich verletzt wurde. Nach diesem Schicksalsschlag war zunächst unklar, ob er seine politische Laufbahn würde fortsetzen können und wollen. Doch mit dem ihm eigenen Pflichtbewusstsein kehrte er nur wenige Wochen nach dem Attentat in sein Ministerbüro zurück. Mir ist lebhaft in Erinnerung, wie unmissverständlich er damals schon im Krankenhaus seine Absicht bekundete, selbstverständlich aktiv in der Politik zu bleiben. Als er dann im Trainingsanzug zum ersten Mal wieder in der Fraktion erschien, das gehört zu den nachhaltigen Eindrücken, die alle, die dabei waren, sicher nicht vergessen werden. Ein Leben jenseits der Politik hat er sich vermutlich nicht vorstellen können. Deshalb war er fest entschlossen, sich auch durch ein Attentat nicht daran hindern zu lassen.

Schäubles Autorität als ein Architekt der Deutschen Einheit wurde in der historischen Debatte des Bundestages über den künftigen Sitz von Parlament und Regierung am 20. Juni 1991 erlebbar. Die fast zwölfstündige Debatte war eine Sternstunde der deutschen Parlamentsgeschichte. In der Aussprache waren alle Zutaten einer lebendigen Debattenkultur enthalten: Pathos und Beschwörungen, Appelle und Emotionen wechselten sich ab mit nüchternen Argumenten und praktischen Erwägungen. Schäuble gab mit seinem kurzen, eindringlichen Plädoyer für Berlin als Hauptstadt den wohl entscheidenden Ausschlag dafür, dass der Umzug nach Berlin eine knappe, unerwartete Mehrheit erhielt.

Später im Jahr 1991 wechselte Schäuble in das Amt des CDU/ CSU-Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag. Nach der Wahlniederlage der Union 1998 übernahm er in einer schwierigen Zeit den CDU-Parteivorsitz, den er aufgrund der eigenen unglücklichen Rolle in der Parteispendenaffäre schon nach weniger als zwei Jahren aufgeben musste. In den Regierungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel ab 2005 diente Schäuble erneut als Innenminister und später als Finanzminister. In Erinnerung bleiben wird insbesondere sein Beitrag bei der Stabilisierung des Euro in der Staatsschuldenkrise und bei der Stabilisierung des Bundeshaushalts.

Nach der Bundestagswahl 2017 wurde er mit breiter Mehrheit in das Amt des Bundestagspräsidenten gewählt. Mit seiner Autorität und Erfahrung fand er sich schnell in die neue Rolle hinein als selbstbewusster Repräsentant des Bundestages, als öffentliche Instanz zu Fragen der Verfassungspolitik und der Demokratie und als Hüter der parlamentarischen Debattenkultur.

Persönlich war Wolfgang Schäuble immer eine wichtige Orientierung in der eigenen und für die eigene politische Laufbahn. Als ich 1980 in den Deutschen Bundestag kam, war er als damaliger Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion eine meiner wichtigsten Adressen, um mich im parlamentarischen Alltag zurechtzufinden; und er ist eine wichtige Orientierungshilfe in manchen politischen Turbulenzen geblieben. Auch in anderen jeweiligen Rollen und Funktionen sind wir uns über fast vier Jahrzehnte in der Politik verbunden geblieben. Wolfgang Schäuble war dabei immer ein Vorbild, vor allem mit Blick auf seine außergewöhnliche Disziplin und Willensstärke.

Beeindruckt hat mich immer, wie er es vermochte, sein souverän getroffenes Urteil zu einem politischen Sachverhalt in den größeren Zusammenhang der Union, der Regierung und der jeweiligen Koalition zu stellen und dabei auch notfalls die eigene Position zurückzustellen. So wie er es in der Krise um die Staatsfinanzen Griechenlands und den Euro gehandhabt hat, als er eine dezidiert andere Meinung vertrat als die Bundeskanzlerin und sich letztlich diszipliniert eingefügt hat. Das ist eine leider zu seltene, aber für eine funktionierende parlamentarische Demokratie und schon gar für eine Volkspartei wie die Union absolut notwendige Eigenschaft. „Ich bin nicht pflegeleicht. Nicht bequem. Ich bin aber loyal“, so hat er das selbst auf den Punkt gebracht.

Vierzehn Mal hintereinander, ohne Unterbrechung über ein halbes Jahrhundert hinweg das Direktmandat in einem Wahlkreis zu erringen, das wird Wolfgang Schäuble in einem frei gewählten Parlament wohl so schnell niemand nachmachen. Es verdeutlicht den großen Respekt und die Anerkennung, die Wolfgang Schäuble bei den Bürgern in seinem Wahlkreis, aber auch weit darüber hinaus im In- und Ausland sowie über die politischen Lager hinweg erworben hat. Er war eine Ausnahmeerscheinung der deutschen Politik. Seine Vielseitigkeit, sein Durchhaltewillen und seine Durchsetzungskraft waren ebenso außergewöhnlich wie die beispiellose Dauer seiner Parlamentsmitgliedschaft. Die Konrad-Adenauer-Stiftung wird das Andenken an Wolfgang Schäuble bewahren.

 

Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum, Sozialwissenschaftler, 1998 bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages, seit 2018 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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